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II. Erfolg ist planbar – aber aller Anfang ist schwer Hochhaus-Träume: Kirmes in den Siebzigern oder Wie alles anfing

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Es begann auf einer Fensterbank in Essen. Norbertstraße 1, Hochhaus, zehnter Stock. Bei Tante Michael. Meine Mutter arbeitete zu jener Zeit besonders viel. Sie verbrachte unzählige Stunden in der Universität, um für ihren Psychologie-Abschluss zu lernen. Und so gab es immer wieder Zeiten, in denen keiner zu Hause war und ich nach der Schule zu unserer Nachbarin, einer älteren Dame, ging. Tante Michael kümmerte sich rührend um mich. Sie kochte für mich und spielte mit mir stundenlang Matchbox-Autos. Am liebsten saß ich auf ihrer hellen Marmorfensterbank in der Stube. Von dort oben hatte man einen tollen Ausblick. Ich fühlte mich wie im Riesenrad. Vor unserem Haus passierte über das Jahr hinweg so allerhand, das Allergrößte war die Kirmes auf dem großen Parkplatz, die zweimal jährlich bei uns Station machte. Das Gewirr von Menschen, die bunten Lichter, das Gefühl von großer Welt: Ich liebte es. Manchmal gingen wir nach unten, um eine Runde über den Platz zu drehen. Ich bekam Zuckerwatte und Popcorn und durfte Karussell fahren. Je höher und schneller, desto besser. Der Rummel war aber längst nicht alles, was mir der Ausblick aus Tante Michaels Stubenfenster bot. Jenseits des Parkplatzes lag linker Hand die Grugahalle. Die Gedanken des kleinen Bob begannen zu fliegen, wenn ich an die sportlichen Schlachten dachte, die dort Woche für Woche geschlagen wurden. Erst waren es die Handballer von SC Phönix Essen, die in der Grugahalle regelmäßig um Bundesliga-Punkte kämpften, später dann der legendäre TuSEM, der dort seine Meisterschaften errang.

Wenn du im Ruhrpott mit Blick auf die Grugahalle aufgewachsen bist, dann war der TuSEM schnell das Größte. Natürlich wollte ich Handballprofi werden! Irgendwann suchte ich die Telefonnummer des Jugendabteilungsleiters raus und rief bei ihm an. „Ich will Torwart werden“, sagte ich und verwies auf meine astzarten Reflexe. Zwei Tage später stand ich zum ersten Mal in der Halle.

Meine Mutter Layla war darüber nicht sonderlich begeistert. Nicht, dass sie ein Problem damit gehabt hätte, dass ich die Sache selbst in die Hand genommen hatte, sie hat meine Begeisterung für den Handball schlicht nicht verstanden. Sport spielte bei uns überhaupt keine Rolle, er war nicht existent. Selbst Fußballübertragungen im Fernsehen wurden im Hause Hanning ignoriert. Meine Mutter und auch ihr neuer Mann, mein Stiefvater Wolfgang, haben unheimlich viel gelesen und gearbeitet. Sie legten großen Wert auf Erziehung, achteten auf Tischmanieren und vermittelten mir Werte im Umgang mit Menschen. Aber Sport? Nie! Gerne hätten sie es gesehen, dass ich die Zeltfabrik meiner Großeltern mütterlicherseits übernehme. Das Unternehmen in Kassel-Wilhelmshöhe mit fast tausend Mitarbeitern genoss Weltruf. Und ich war nach dem Tod meines Bruders Tobias, der wenige Wochen nach seiner Geburt an einer Hirnhautentzündung starb, das einzige Enkelkind. Doch ich hatte andere Dinge als die Unternehmensnachfolge im Kopf. Meine Gedanken drehten sich von Anfang an um Handball.

Ich war, das musste ich allerdings schnell einsehen, eher minderbegabt fürs Handballspielen. Und auch minderbemittelt – allein aufgrund meiner Körpergröße, die selbst zu besten Zeiten 1,68 Meter nicht überstieg. Die goldene Regel im Zusammenspiel von Abwehr und Torhüter, die typische Aufteilung in eine Torwart- und eine Blockecke, war bei uns außer Kraft gesetzt. Bei uns gab es nur oben und unten. Für oben fehlten bei mir leider die entscheidenden Zentimeter, deswegen musste ich zumindest unten meinen Kasten sauber halten. Meine unbändige Lust schmälerten die schwierigen Voraussetzungen nicht im Geringsten. Nichts tat ich lieber, als durch mein Tor zu segeln, auch wenn die Bälle häufig links und rechts oben einschlugen, ohne dass ich auch nur ansatzweise eine Chance gehabt hätte, eine Hand an den Ball zu bekommen. Wenn ich dann doch mal einen Wurf pariert hatte, drehte ich mich dreimal um die eigene Achse und feierte mich wie einen Weltmeister, bevor ich den Ball zum Gegenstoß rausspielte. Mein Potenzial reichte noch für die Essener Stadtauswahl und für ein Training in der Niederrheinauswahl. Das lag aber auch nur daran, dass die Mannschaft bei uns im Leistungszentrum trainierte und sie einen Torwart brauchte. Irgendwann musste ich dann jedoch einsehen, dass meine Bemühungen nicht zielführend waren und es für mich bis ganz nach oben als Handballer nicht reichen würde. So begann ich schon im Alter von 14 Jahren, Jugendmannschaften zu coachen, meine Prioritäten verschoben sich: Ich wollte es nun als Trainer an die Spitze schaffen. Dafür studierte ich Taktiken und Trainingsformen, Wurfbilder und Abwehrsysteme. Mir hat es schon als Kind viel Freude bereitet, gemeinsame Ziele zu verfolgen und Strategien zu entwickeln. Während die anderen auf Partys gingen und Mädels abschleppten, tüftelte ich an Trainingsplänen und träumte von Titeln und Triumphen.

So gut ich beim Sport in der Halle funktionierte, so schleppend lief es in der Schule. Das begann schon in der Waldorfschule, als ich ein Instrument lernen sollte. Ich bekam die Leier in die Hand gedrückt, wusste aber nichts damit anzufangen. Ich hatte keinerlei Begabung, keinen blassen Schimmer von Noten, und auch keine Lust. Meine Mutter brachte dafür kein Verständnis auf. Jeden Nachmittag schickte sie mich aufs Zimmer, wo ich eine Viertelstunde üben musste. Weil mir das mit den Noten partout nicht gelingen wollte, bekam ich an die einzelnen Saiten der Leier Farbfäden und spielte nicht G, H, C, sondern Rot, Gelb, Schwarz. Ich hatte überhaupt kein Gefühl für Töne und Rhythmus und auch null Ehrgeiz, daran etwas zu ändern. Musik war beileibe nicht das einzige Fach, das auf der Strecke blieb. Egal, ob Mathe, Deutsch, Englisch oder Russisch – Schule war nicht meins. Mir fehlte die Motivation, denn ich habe immer nur das gerne gemacht, worin ich einen Sinn sah. Mich interessierte das Ergebnis schon in frühen Jahren mehr als das Erlebnis. Sehr zum Leidwesen aller Beteiligten um mich herum. Die Pädagogen sind an mir verzweifelt. Meine Eltern auch.

Und doch blicke ich mit Freude zurück auf diese Zeit. Ich bin ausgesprochen gern in die Waldorfschule gegangen. Ich genoss die persönliche Zuwendung der Lehrer und die Nestwärme, die mir das stets wertschätzende System entgegenbrachte. Ich durfte sein, wie ich sein wollte, und konnte mich als Person völlig frei entwickeln. Der Bob, wie man mich heute kennt, ist auch und zu großen Teilen in der Freien Waldorfschule Essen gemacht worden. Dafür bin ich sehr dankbar.

Auszug aus Hannings Zeugnis der Freien Waldorfschule in Essen zum Abschluss des achten Schuljahres am 14. Juli 1982:

„Seine schriftlichen Leistungen in den Mathematikepochen befriedigten ihn selbst nicht, da er gleich im Nachhinein erkannte, dass er die Aufgaben zu oberflächlich und flüchtig angepackt hatte und mit mehr Ruhe und Konzentration zu besseren Ergebnissen gekommen wäre. Wirkliche Verständnisschwierigkeiten tauchten nur dann auf, wenn Robert durch die Besprechungen und Verhandlungen außerschulischer Aktivitäten – hier zeigte er sich als außerordentlich talentierter Organisator – stark abgelenkt wurde.“

Langeweile kannte ich nicht. In der Schule und auch zu Hause gab es immer etwas zu tun. Wir waren inzwischen umgezogen, und meine Mutter hatte ihre eigene Praxis als Psychologin bei uns im Haus. Hin und wieder nahm ich die Anrufe der Patienten entgegen, die abends schon mal auf unserem Privattelefon durchklingelten, und versuchte mich als Therapeut. Ich hörte mir die Ängste und Sorgen der Menschen an und fand es ungemein spannend, wie die Leute sich mir anvertrauten. Berührungsängste oder gar Furcht hatte ich keine. Im Gegenteil, es bereitete mir Freude, Menschen zuzuhören und gemeinsam an Lösungsstrategien zu arbeiten. Sogar bei Tablettendosierungen legte ich mich fest. Wenn du eine Psychologin und einen Neurologen jeden Tag um dich herum hast und bei den Mahlzeiten ständig den Gesprächen über medizinische Themen lauschst, bekommst du eine Menge mit. In einer Lehrerfamilie aufzuwachsen, ist sicherlich eine Herausforderung. In einer Familie mit einer Psychologin und einem Neurologen groß zu werden, ist, wie ich mit Fug und Recht behaupten kann, eine noch größere Herausforderung. Natürlich war ich zu einem Teil immer auch Patient.

Viele Stunden und Tage meiner Kindheit verbrachte ich übrigens mit meiner Liebe zu den Fußballern von Hertha BSC. Berlin ist im Pott natürlich ein absolutes No-Go, keine Sau interessiert sich für Hertha BSC. Aber ich hatte eine Schwäche für Erich Beer, der Anfang der siebziger Jahre für Rot-Weiss Essen an der legendären Hafenstraße gespielt hatte und im Ruhrgebiet ein Held unserer Generation wie Ente Lippens war. Vor allem mochte ich den Namen, er klang so schön nach Teddybär. Und da dieser Teddybär in meiner Jugend für die Hertha auflief, verschlang ich alles, was mit der Hertha zu tun hatte. Wenn im Radio Übertragungen liefen, zeichnete ich sie mit dem Kassettenrecorder auf, und jeden Montag, direkt nach dem Wochenende, flitzte ich zum Büdchen um die Ecke und kaufte mir von meinem Taschengeld die Berliner Morgenpost, um alles über das zurückliegende Spiel der Hertha zu erfahren. Ich schnitt sämtliche Artikel aus und heftete sie fein säuberlich in einer Mappe ab.

Weil mir das Fan-Dasein aus der Entfernung nicht reichte, rief ich bald auch regelmäßig in der Berliner Geschäftsstelle an, um die Ereignisse vom Wochenende zu besprechen und zu erfahren, wie es um den Kader stand, wer verletzt war und um mir die neueste Ausgabe des Stadionheftes schicken zu lassen. Die Hertha-Mitarbeiter waren immer sehr nett zu mir, ich hatte den Eindruck, sie freuten sich sogar über meinen Anruf. Leider wurde mir nach ein paar Wochen die Telefonrechnung zum Verhängnis. Meine Mutter fiel vom Stuhl, als sie 700 Mark auswies. Natürlich stellte sie mich zur Rede. Ich verteidigte mich mit dem Argument, dass andere Jungs bei irgendwelchen Schmuddel-Hotlines anriefen, ich lediglich bei Hertha BSC.

Meine Penetranz sollte sich auszahlen. Denn eines Tages erhielt ich den Brief aller Briefe, eine Freikarte für das Fußballspiel Fortuna Köln gegen Hertha BSC. Eine Einladung von Hertha-Präsident Wolfgang Holst höchstpersönlich! Wahrscheinlich hatten die Mitarbeiter auf der Geschäftsstelle Mitleid mit diesem Irren aus dem Ruhrgebiet. Die Einladung steckte an einem Montagmorgen völlig unvermittelt im Postkasten. Das Problem: Der Brief hatte Verspätung, das Spiel hatte bereits am Samstag stattgefunden. Da hatte selbst meine für den Fußball verlorene Mutter ein Einsehen und kümmerte sich um einen neuen Termin für mich. Das Hertha-Spiel bei der SG Wattenscheid 09 am 1. Mai 1981 wurde zu einem echten Highlight. Meine Eltern fuhren mich ins altehrwürdige Lohrheidestadion, wo mich Präsident Holst in Empfang nahm und sich in den folgenden Stunden rührend um mich kümmerte. Gemeinsam schauten wir das Spiel von der Sitzplatztribüne aus an, und ich war so aufgeregt, dass ich nicht mal die Bratwurst runterbekam, die Holst mir spendierte. Und als wäre das alles nicht schon aufwühlend genug gewesen, durfte ich nach dem Spiel sogar mit in die Kabine. Kabine von Hertha BSC – mehr ging nicht! Mit Trainer Uwe Klimaschefski und Torhüter Gregor Quasten sprechen! Wieder zu Hause beim Abendessen war ich so durch den Wind, dass ich nicht mal mehr wusste, wie das Spiel ausgegangen war. Es war für mich das bis dato größte Erlebnis meines Lebens. Meine Liebe zur Hertha war von dem Tag an auf immer und ewig besiegelt.

Es sind gute und unbeschwerte Erinnerungen an meine Essener Kindheit in den siebziger und achtziger Jahren. Ich bin zwar ein Scheidungskind, aber es hat mir an nichts gefehlt. Meine Eltern brauchten nie einen Richter oder Anwalt, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Ich habe nie einen Streit zwischen den Beteiligten mitgekriegt, das rechne ich ihnen hoch an. So konnte ich sowohl zu meinem leiblichen Vater Manfred als auch zu meinem Stiefvater Wolfgang eine gute Beziehung aufbauen. An Wolfgang bewundere ich, dass er in dem natürlichen Spannungsfeld unserer Familienkonstellation stets für die richtige Balance sorgte. Für meine Mutter war er der beste Ehemann, den ich mir vorstellen konnte. Für mich war er schon damals ein Ruhepol und ist mir bis heute ein liebevoller Begleiter und echter Freund geblieben. Alle meine psychologischen Themen und auch die meiner Freunde besprechen wir regelmäßig.

Mein großes Problem damals blieben die schulischen Leistungen. Es war der Wunsch meiner Eltern, dass ich nach der neunten Klasse aufs Essener Helmholtz-Gymnasium wechselte raus aus der Komfortzone Waldorfschule, rein in das staatliche Bildungssystem. Meine Eltern waren der Meinung, dieser Wechsel täte mir gut. Und auch ich sehnte mich nach einer neuen Herausforderung. Doch es war ein echter Kulturschock. Mein Vorwissen reichte hinten und vorne nicht aus, mein wenig ausgeprägter schulischer Fleiß und die fehlende Leistungsbereitschaft taten ihr Übriges. Das erste Jahr nach dem Wechsel musste ich wiederholen, später blieb ich ein weiteres Mal sitzen. Und doch hielt ich durch. Ich hatte das Glück, dass ich schnell zum Schulsprecher gewählt wurde und viele tolle Freunde hatte, die mir halfen und mich irgendwie durchzogen. Manfred Kluge war so einer. Ich schaffte die Schokokussbrötchen für uns ran und literweise Cola, er erledigte die Schulaufgaben. Manfred malte Bilder für mich, machte meine Mathehausaufgaben und schrieb wunderbare Aufsätze. Wann immer ich Hilfe brauchte, er war da.

Zu meinen Komplizen gehörten zudem die Kollegen der Schülervertretung. Für die Mathearbeiten bei Herrn Schröder entwickelten wir das Bob-System, und das ging so: Immer, wenn eine Klausur anstand, bekam ich urplötzlich starken Schnupfen, und da wir den Papierkorb vor Beginn der Stunde aus dem Klassenraum in den Flur verfrachtet hatten, musste ich notgedrungen vor die Tür gehen, um dorthinein statt einer Rotzfahne eine Abschrift der Klausuraufgaben zu deponieren. Meine Helfer fischten sie heraus, rechneten die Aufgaben in Windeseile durch und hinterlegten ein paar Minuten später die Seiten mit den Lösungen. Auf diese Weise hielt ich ein paar Jahre durch. Jede bestandene Prüfung bedeutete für mich, eine Woche in Ruhe Training machen zu können. Ich lebte in meiner Parallelwelt Sport, da hatte die Schule nicht viel entgegenzusetzen.

Kanalisiert wurde meine Begeisterung für den Sport in jener Zeit von Petre Ivanescu. Noch heute bewirkt allein der Name bei mir eine Gänsehaut. Ivanescu gehört zu den ganz Großen in der Geschichte des Handballs, er sammelte Titel wie andere Leute Briefmarken. Als Spieler gewann Ivanescu zweimal die Weltmeisterschaft, als Trainer prägte er über zwei Jahrzehnte hinweg die Bundesliga. Ivanescu wurde mit dem VfL Gummersbach und TuSEM Essen mehrfach deutscher Meister, feierte DHB-Pokalsiege und Europacup-Triumphe. Vor allem aber war er mein Sportlehrer auf dem Gymnasium und damit so etwas wie mein sportlicher Ziehvater. „Beweg dich, Kartoffelsack“, rief er mir gern zu, wenn ich mal wieder zu steif in meinem Tor stand. Kartoffelsack – ein Begriff, den ich heute noch häufig benutze und dabei an meinen alten Lehrmeister denke. Ivanescu hat mich manchmal auch an den Ohren gezogen, freundschaftlich natürlich. Oder mir mit einem Lachen im Gesicht einen väterlichen Klaps gegeben. Ivanescus Engagement ging weit über den Unterricht hinaus. In den Ferien nahm er mich häufig mit zum Training nach Dormagen. Auf den Fahrten dozierte er über den Handball in der Theorie, in der Halle durfte ich dann bei ihm hospitieren. Ivanescu war ein großes Vorbild für mich. Später schaute ich mir auch viel von anderen Trainern ab. Ich lernte von Arno Ehret, dem früheren Sportdirektor beim Deutschen Handballbund, und von Rolf Brack, mit dem ich auf dem Boden im Sacher-Café in Wien mit Kaffeesahne Spielzüge nachspielte. Den Drang, jeden Tag etwas Neues zu lernen, verspüre ich noch heute.

Ob beim Schummeln in der Schule oder als Parkplatzeinweiser im Parkhaus bei uns gegenüber, wo ich gelegentlich mein Taschengeld aufbesserte: Pfiffig war ich immer. Nur bei den Mädchen wollte mein Charme nicht recht zünden, was vielleicht auch daran lag, dass ich lange Zeit überhaupt kein Interesse an ihnen hatte. Noch mit dreizehn vertrieb ich mir die Nachmittage, an denen kein Training war und die Kumpels keine Zeit hatten, mit meinen heißgeliebten Matchbox-Autos. Stundenlang saß ich in meinem Zimmer und spielte und spielte und spielte. Umso genauer erinnere ich mich an einen Abend, an dem mir die Autos total egal waren, denn ich war tierisch verschossen. Gudrun hieß meine Angebetete. Wir waren beide vierzehn. Ich hatte mir für die Fete extra die Long Version von The Power of Love von Frankie Goes to Hollywood besorgt, acht Minuten und neun Sekunden pure Romantik. Damit wollte ich die hübsche Gudrun im Sturm erobern, doch die Sache ging nach hinten los. Kaum hatte ich die Platte aufgelegt, schnappte mein größter Konkurrent zu und tanzte mit Gudrun durch die Nacht. Das war zu viel für mich, aus Frust betrank ich mich hemmungslos. Es blieb bis heute einer meiner wenigen Alkohol-Abstürze, was auch an der Erziehung meiner Eltern lag. Sie ließen mich meine Erfahrungen machen, bestanden nur darauf, dass wir keine Geheimnisse voreinander hatten.

Ein paar Heimlichkeiten mussten aber sein. Und sie betrafen – natürlich – die Schule. Ein vernünftiges Abitur war meinen Eltern sehr wichtig, deswegen gaben sie viel Geld für Nachhilfe aus. Nachhilfe, die ich in vielen Fächern nötig hatte – in einigen aber nie bekam. So wählte ich in der Oberstufe Latein ab, ohne dass meine Eltern Wind davon bekamen. Ein Student, der von meinen Eltern engagiert und bezahlt wurde, sollte mir bei dem ungeliebten Fach unter die Arme greifen. Ich bot dem jungen Mann daraufhin einen Deal an: „Entweder“, sagte ich, „lassen wir das Thema auffliegen. Das ist schlecht für dich, denn du bekommst keine Kohle mehr. Und schlecht für mich, denn dann bekomme ich unnötigen Stress. Oder wir spielen in den Nachhilfestunden Bauernskat, teilen uns das Geld, und alles ist gut.“ Und so spielten wir über drei Monate dienstags Bauernskat, mit Latein hatte ich nichts mehr am Hut.

Meine Eltern hatten es gut gemeint, aber mein Leben bestand zu diesem Zeitpunkt praktisch nur noch aus Handball. Ich schrieb mich für frei erfundene Theater-AGs in der Schule ein, nur um die Nachmittage in der Halle stehen und heimlich Training geben zu können. Mit achtzehn zog ich aus. Als ich beim ersten Versuch durchs Abitur rasselte, gab ich auf. Ich hatte keine Lust mehr. Mein Vater fragte mich, was ich denn machen wolle. „Ein Sportgeschäft eröffnen und Bundesligatrainer werden“, sagte ich. Er überlegte eine Weile und sagte mit ernster Miene: „Ich glaube daran und unterstütze dich. Aber wenn du es machst, mach es richtig. Mach eine Ausbildung zum Kaufmann und deine Trainerlizenzen.“ Und das tat ich. Ich zog los, die Handballwelt zu erobern.

Auszüge aus Bob Hannings Schulzeugnissen der Freien Waldorfschule in Essen, jahrzehntelang verwahrt im Safe seiner verstorbenen Mutter Layla.

„Roberts quirlige Verspieltheit, seine Schalkhaftigkeit, Anhänglichkeit […] und sein niedliches Aussehen brachten es mit sich, dass er am Anfang seiner Schulzeit etwas in die Rolle des possierlichen Klassenkaspers gedrängt wurde, in der er sich auch gefiel und in die er leicht zurückfiel, wenn die Erwachsenen ihn nicht liebevoll energisch in seine Grenzen wiesen.“ (Bericht des Klassenlehrers, 1. Schuljahr)

„Robert kann tatsächlich mehr, als er immer wieder von sich annimmt. Neue Gedichte hat er sich fast fehlerlos eingeprägt.“ (Russisch, 3. Schuljahr)

„Robert sollte sich jetzt doch der Flöte intensiver widmen, damit die Finger endlich die richtigen Löcher und Töne finden. Er möchte doch sicher auch die Noten entzaubern lernen?“ (Musik, 3. Schuljahr)

„Robert hat ein gesundes Selbstvertrauen und eine nicht zu überhörende Stimme, wenn er sich zum Anwalt irgendwelcher Unternehmungen oder Klassenkameraden macht.“ (Bericht des Klassenlehrers, 4. Schuljahr)

„Robert war jede Stunde aufs Neue bemüht, das Stricken zu erlernen. Schnell war es wieder vergessen, und so konnte der ersehnte Tennissocken nur zu einer Knöchelbedeckung heranwachsen.“ (Handarbeit, 5. Schuljahr)

„Auch seine beflissentliche Freundlichkeit täuscht nicht darüber hinweg, dass er sich kaum musiktheoretische Kenntnisse aneignete und im Flöten noch unsicher ist.“ (Musik, 5. Schuljahr)

„Robert konnte schon recht fleißig mitarbeiten. Seine außerordentliche Gabe bestand aber darin, andere zu finden, die für ihn arbeiteten.“ (Handwerk, 5. Schuljahr)

„Robert verpulverte seine Kräfte mit Vorliebe in Staffel- und Ballspielen. Bei Letzteren ‚glänzte‘ er durch – für ihn erfreuliche – Fang- und Wurfkünste. Zur Arbeit an den Geräten wären ihm oftmals noch eine Portion Ruhe und Besonnenheit zu wünschen gewesen.“ (Sport, 5. Schuljahr)

„Roberts liebenswertes Wesen, dessentwegen er bei allen beliebt und gern gesehen ist, musste einen sehr oft über vieles andere hinwegtrösten. Sehr erfreulich war es, dass er immer von Neuem bemüht war, seine Aufmerksamkeit nicht nur seinen wichtigen Privatangelegenheiten und Verabredungen, sondern auch dem Unterrichtsgeschehen zuzuwenden.“ (Bericht des Klassenlehrers, 5. Schuljahr)

„Für Robert wünschte man sich manchmal eine eiserne Ritterrüstung und dazu einen eisernen magnetischen Stuhl, der ihn an seinem Platz festhielte. Beides gab es leider nicht, und so ließ er sich, um Vorwände nie verlegen, nur allzu gerne von anderen Magneten in die verschiedensten Richtungen ziehen – möglichst weit von dem zu malenden Bild, der zu zeichnenden Karte oder dem zu schreibenden Aufsatz entfernt!“ (Bericht des Klassenlehrers, 6. Schuljahr)

„Robert hat in diesem Jahr gelernt, wenn er sich beobachtet fühlte, schnell so zu tun, als ob er arbeiten würde. In der übrigen Zeit hielt er manches Schwätzchen und trieb allerlei Unsinn. Ob der Löffel, an dem er schon zwei Jahre arbeitet, wohl im nächsten Jahr endlich fertig wird?“ (Handwerk, 6. Schuljahr)

„Mit kindhaft-schelmischer Diplomatentaktik versucht Robert seine Spielpläne gegen die Arbeitspläne im Garten oder in der Werkstatt durchzusetzen.“ (Gartenbau, 7. Schuljahr)

„Robert konnte sich nur zögernd mit harter Gartenarbeit anfreunden. Viel lieber verbreitet er durch allerlei Erzählungen und Witze gute Stimmung.“ (Gartenbau, 8. Schuljahr)

Hanning. Macht. Handball.

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