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Handeln, nicht warten! Vom Jugendcoach zum Weltmeister-Macher

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In meinem Handballleben gab es nach dem Wechsel nach Essen zwei Stränge: den des Co-Trainers der Bundesligamannschaft und den des Jugendtrainers. Der TuSEM-Nachwuchs sträubte sich zunächst gegen mich. Die Jungs hatten Vorbehalte, hatte ich doch zuvor jahrelang ihren ärgsten Rivalen gecoacht. Und so bot ich ihnen einen Deal an: „Gebt mir sechs Wochen“, sagte ich: „Wenn euch das Training gefällt, bleibt ihr da. Gefällt es euch nicht, höre ich sofort auf.“ Es wurde nie wieder zu einem Thema.

Die Bundesliga war die ganz große Bühne. Sie versprach Glamour, Stars und Sternchen. Sie bedeutete viele Fans und noch mehr Geld. Doch von Anfang an war mir die A-Jugend wichtiger. Co-Trainer unter Jürgen Hahn – das war für mich zuschauen, lernen, helfen und Fuß fassen im Profi-Business. In der A-Jugend konnte ich mich hingegen frei entfalten und einen Verein, der bis dato nicht wirklich auf die Jugend gesetzt hatte, in die Spur bringen. Ich war mir sicher, dass leidenschaftliche Nachwuchsarbeit, wenn man sie ernsthaft betreibt, auch bei TuSEM Essen funktioniert. Ich wollte deutscher Meister werden!

Für dieses Projekt guckte ich mir zwei Spieler aus, die ich schon länger auf dem Radar hatte. Zum einen war da dieser kraftvolle junge Bursche aus Wermelskirchen namens Torsten Jansen. Zum anderen gab es den hochtalentierten Linkshänder Florian Kehrmann aus Neuss, dessen Eltern ich aber erst noch überzeugen musste, ihren wohlbehüteten Sohn nach Essen ziehen zu lassen. Florian selbst wollte unbedingt, doch das Problem waren seine schulischen Leistungen. Es gab damals noch keine Sportinternate wie heute, also traf ich mit den Eltern Kehrmann eine Vereinbarung: Würden die schulischen Leistungen abfallen, würde er umgehend zu seinem Heimatklub HG Büttgen zurückkehren. Florians Leistungen stabilisierten sich glücklicherweise, sodass er fortan für Essen auflief.

Bezahlt machte sich in dieser Situation das gute Verhältnis, das ich seit jeher zu den Eltern der mir anvertrauten Spieler pflegte und noch heute pflege. Der Kontakt zu den Jansens und Kehrmanns überdauerte die Jahre. Die Jansens, das werde ich nie vergessen, luden mich häufig zu belgischen Waffeln mit heißen Kirschen und Sahne ein, von Florians Mutter bekomme ich in der Adventszeit bis heute selbstgebackene Weihnachtsplätzchen, versehen mit den Worten „Für meinen Lieblingstrainer“, nach Berlin geschickt, und wenn es mich an den Niederrhein verschlägt, darf ich immer auf einen Teller Hühnerfrikassee, mein Leibgericht, bei den Kehrmanns, vorbeikommen.

Dass Florian Kehrmann und Torsten Jansen die deutsche Handball-Nationalmannschaft vierzehn Jahre später zum Weltmeistertitel werfen würden, konnte ich damals nicht ahnen. Aber ihr überragendes Talent war unverkennbar. Beide wurden schnell zu Leistungsträgern, mit denen wir Individualtrainingslager abhielten, um sie fit für den Kampf um die Deutsche Meisterschaft zu machen. Toto, daran erinnere ich mich noch gut, hasste das Lauftraining wie die Pest. So flink und explosiv er im Tempogegenstoß war, so sehr verfluchte er die Aschenbahn. Er ging lieber in die Muckibude, Krafteinheiten waren für ihn das Größte. Also begann ich, seine Vorliebe für Hanteln und Gewichte nutzend, ihn in der Abwehr auf der Halbposition einzusetzen, wo eine geschickte Zweikampfführung in Verbindung mit einer gewissen körperlichen Präsenz unabdingbar ist. Dieser Schachzug hatte den Vorteil, dass unser Halb-Angreifer in der Defensive auf außen geparkt wurde und damit wichtige Kräfte für die Offensive sparen konnte. Zudem startete Toto von der Halbposition in der Deckung aus schneller in den Gegenangriff als alle anderen. Dieses Rezept sicherte uns schon damals Tore am Fließband – und sollte auch später beim WM-Triumph der deutschen Nationalmannschaft 2007 bekanntlich noch wunderbar funktionieren.

1994 spielten wir mit Essen eine überragende Saison mit der A-Jugend und erreichten am Ende tatsächlich das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Gegner im Finale war der SC Magdeburg, das Hinspiel in Magdeburg konnten wir hauchdünn mit 17:16 für uns entscheiden. Und nun hing alles am Rückspiel in eigener Halle. Essen war nie vorher und bislang auch nicht hinterher Deutscher A-Jugend-Meister geworden. Doch ausgerechnet an jenem Nachmittag brachten wir unser Leistungsvermögen zunächst nicht auf die Platte. Der große Traum schien beim Halbzeitstand von 5:8 weit weg. Unser Spiel war miserabel. Ein Katergefühl begann sich breitzumachen. Mit hängenden Köpfen schlich die Mannschaft zur Halbzeitpause in die Kabine. Ich war sauer, auf mich, auf die Mannschaft und darüber, dass ein ganzes Jahr harter Arbeit umsonst gewesen sein sollte. In mir brodelte es, so sehr, dass ich vor versammelter Mannschaft mit voller Wucht eine Wasserflasche aus Glas gegen die Kabinenwand schleuderte. „Seid ihr noch ganz dicht“, schrie ich die Jungs an, die wie paralysiert auf den Scherbenhaufen am Boden blickten, „was spielt ihr für eine Scheiße!“ Noch heute erzählen Torsten Jansen und Florian Kehrmann von meinem Tobsuchtsanfall. Es war ein völlig irrer Auftritt von mir, der jedoch auf wundersame Weise Wirkung zeigte. In der zweiten Hälfte startete die Mannschaft eine furiose Aufholjagd. Die 1200 Fans auf den Rängen tobten und kreischten und verwandelten die Halle am Lührmann-Wald in ein Tollhaus, als wir 100 Sekunden vor dem Ende den umjubelten Ausgleichstreffer erzielten: 15:15 – wir waren Deutscher Meister! Der Gewinn des Euro-City-Cups als Co-Trainer mit der Männermannschaft rundete eine wunderbare erste Saison für mich bei TuSEM Essen ab.

Diese Erfolge sollten für mich leider die letzten schönen Erinnerungen an meine Zeit in Essen werden. In der ersten Mannschaft rumorte es, die Spieler wollten nicht mehr mit ihrem Trainer Jürgen Hahn arbeiten, und auch ich fand mit ihm keine gemeinsame Basis mehr. Hahn war der Auffassung, dass ich als sein Co-Trainer in erster Linie die Aufgabe hätte, den Hof des Cheftrainers, also seinen, auszufegen. Darauf hatte ich aber keine Lust mehr. Loyalität steht für mich bis heute über allem, die zurückliegenden Monate der Zusammenarbeit hatten mich aber mürbe gemacht. Ich konnte mich einfach nicht mehr mit dieser Rolle identifizieren. Ich brauchte einen neuen Impuls. Klaus Schorn versuchte, mich zu halten, doch mein Entschluss stand fest: Im Sommer 1995 verließ ich nach zwei erfolgreichen Jahren den TuSEM in Richtung Solingen – und nahm „meine“ jungen Wilden, darunter auch Toto Jansen und Flo Kehrmann, die in Essens Bundesligamannschaft keine Perspektive aufgezeigt bekamen, mit.

Solingen. Ausgerechnet Solingen! Jener Klub also, dem ich zwei Jahre vorher den Aufstieg verbaut hatte, sollte mich in den folgenden fünf Jahren prägen wie kein Verein zuvor. Solingen war meine erste Trainerstation als Alleinverantwortlicher einer Männermannschaft im Leistungssport, in Solingen wurde ich als Coach erwachsen, und Solingen wurde zum Ausgangspunkt meiner Karriere beim DHB. In der Solinger Zeit, eine in der Rückschau wunderbare Zeit, erhielt ich 1997 das Angebot von Heiner Brand, als sein Co-Trainer bei der Nationalmannschaft einzusteigen. Die Aufgabe in Solingen war kniffelig: Aus einem Verein, der gerade seine erste Saison in der dritten Liga hinter sich gebracht hatte, sollte ein Bundesligist werden. Dass es am Ende trotz Bundesligaaufstiegs auf so bittere Weise und abrupt enden würde, war nicht absehbar. Aber der Reihe nach.

Ich startete sogleich durch, von 0 auf 100, eine Anlaufphase brauchte ich nicht. Nicht zuletzt Kehrmann und Jansen hatten ihren Anteil daran, dass wir uns gleich im ersten Jahr die Staffelmeisterschaft sicherten. In der folgenden K.-o.-Runde ließen wir nichts anbrennen und schafften den Aufstieg in die 2. Bundesliga. Flo und Toto waren ungemein fleißig, enorm erfolgshungrig und marschierten auf dem Feld stets voran. Allmählich war klar, dass die beiden bald zu den ganz großen Nummern im deutschen Handball zählen würden.

Ich fühlte mich im Bergischen Land von Anfang an pudelwohl und genoss die tägliche Arbeit mit meinem lernwilligen Team. Viel Zeit, um uns in der 2. Liga zu akklimatisieren, brauchten wir nicht. Nach zwei zehnten Plätzen schafften wir in der Saison 1998/99 den Sprung auf Rang fünf – ehe wir zur Jahrtausendwende den ganz großen Wurf landeten. Ohne Florian Kehrmann, der im Sommer 1999 zum TBV Lemgo in die Bundesliga gewechselt war, führte ich den Klub ins Oberhaus des deutschen Handballs. Dort allerdings absolvierte ich mit ihm kein einziges Spiel mehr.

Die Situation war grotesk: Die Saison 1999/2000 war noch in vollem Gange, und Solingen war im Begriff, erstmals in der Vereinsgeschichte in die Bundesliga aufzusteigen. Doch im Verein bildete sich eine Front gegen mich. Es gab Meinungsverschiedenheiten mit einigen Entscheidern über die künftige Ausrichtung der SG. Zeitgleich zettelten ein paar ältere Spieler einen Kleinkrieg mit mir an, da sie sich von mir nicht genügend wertgeschätzt fühlten – mein Fokus lag halt auf den jungen Spielern! Die Attacken kamen nicht von ungefähr mitten im Aufstiegskampf und sorgten auch deshalb für Wirbel, weil der Verein den Vertrag mit mir gerade um zwei Jahre verlängert und ich ein Angebot vom VfL Gummersbach aus der Bundesliga ausgeschlagen hatte. Die Fronten verhärteten sich aber schon bald derart, dass eine gewinnbringende Zusammenarbeit nicht mehr sinnvoll schien. Wir einigten uns auf eine Trennung nach Saisonende. Die jungen Spieler waren fassungslos. Als ich mich in der Kabine zu Michael Hegemann, der später wie Kehrmann und Jansen zu den 2007-Weltmeistern gehörte, setzte, hätte ich selbst Tränen vergießen können. Wir waren total niedergeschlagen, auch die Fans: Beim nächsten Heimspiel hielten sie als Ausdruck ihres Protests Schilder mit aufgemalten Fragezeichen in die Höhe. Noch heute klatschen die Solinger Zuschauer Beifall, wenn ich mit den Füchsen Berlin in der Klingenhalle aufkreuze.

Die Spieler, die sich beim Vorstand gegen mich ausgesprochen hatten, bekamen natürlich ein schlechtes Gewissen. Wie sie mir auf der Zielgeraden des Aufstiegsrennens in die Augen schauen und weiter Gas geben sollten, um den Traum von der Bundesliga nicht zu gefährden, war aber nicht mein Problem. Ich ging keinem Konflikt aus dem Weg und setzte weiter konsequent auf die Jungen. Mit Erfolg. Dank eines Zählers Vorsprung sicherten wir uns den Aufstieg vor Frisch Auf Göppingen. Wir feierten eine zünftige Meistersause, bei der die ganze Stadt auf den Beinen war – und damit war das Kapitel Solingen für mich beendet.

Hanning. Macht. Handball.

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