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VON JOCHEN RIEKER

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»ES GIBT ZWEI SCHRECKLICHE ERFAHRUNGEN FÜR EINEN MENSCHEN: SEINEN TRAUM NICHT ZU ERFÜLLEN, UND IHN ERFÜLLT ZU HABEN«

BERNARD MOITESSIER,

LA LONGUE ROUTE

Es ist noch ganz still an diesem Samstagmorgen in dem charmanten Landsitz in Longeville-sur-Mer, eine halbe Autostunde südöstlich von Les Sables d’Olonne. In der weltentrückten, leicht angestaubten AirBnB-Bleibe mit den Ikea-Gästebetten hat das Team Malizia für eine Woche sein Hauptquartier bezogen – weit weg vom Trubel des Race Village.

Der frische Nordwestwind, der gegen Nachmittag in der Biskaya Sturmstärke erreichen wird, drückt durch die alten Türen und Fenster und heult leise im Kaminzug. In der Nacht hat die Heizung den Dienst quittiert; jetzt in der Früh ist das Haus, in dem bis vor ein paar Stunden noch Korken, Stimmen und Gelächter ausgelassen durch die Räume flogen, merklich ausgekühlt.

Es fühlt sich ein bisschen an wie Katerstimmung, als Boris Herrmann um halb Acht in Jogginghose und Fleecejacke die knarzende Treppe ins Erdgeschoss herunterkommt: seine Gesichtszüge noch leicht verknittert vom Schlaf und gezeichnet von drei Monaten allein auf See. Doch für Katzenjammer besteht kein Anlass, wahrlich nicht!

Vor nicht einmal zwei Tagen, am 28. Januar, hat er um 11:19 Uhr die Vendée Globe beendet, die härteste Regatta der Welt: einhand, nonstop um die Erde. Es war das Ziel, auf das er viele Jahre hingearbeitet, für das er alles gegeben hat, auch seine letzten Ersparnisse. Ein Jugendtraum, nach 80 Tagen, 14 Stunden, 59 Minuten und 45 Sekunden endlich in Erfüllung gegangen.

Und viel mehr noch: Hermann hat Segelgeschichte geschrieben.

Er ist der erste deutsche Teilnehmer des Hochsee-Klassikers, bei dem in der Regel kaum mehr als die Hälfte des Feldes ins Ziel kommt. Gleich bei der Premiere packt er das Finish, kann im Kanal von Les Sables die schwarz-rot-goldene Fahne in den diesigen Januar-Himmel recken.

Mit Platz 5 im bisher engsten Zielsprint der Vendée Globe zählt der Hamburger jetzt endgültig zu den besten Soloskippern überhaupt. Eine Platzierung, auf die er vor dem Start gehofft, die er aber bis kurz vor Kap Hoorn nie öffentlich kundgetan hatte. Ankommen wolle er, hatte er der Yacht in einem Interview gesagt, das stehe über allem, und dass das Ergebnis »sehr von der Fortüne abhängen wird«.

NUN IST ES GESCHAFFT

Boris Herrmann, schon lange zuvor der mit Abstand erfolgreichste deutsche Hochseesegler, hat alle Erwartungen erfüllt und übertroffen. Selbst die Bundeskanzlerin gratuliert ihm zur »fantastischen Leistung«. In Deutschland, lässt Angela Merkel ausrichten, »haben wir mitgefiebert«. Und das ist noch eine Untertreibung; die halbe Nation war wie elektrisiert.

Noch am selben Tag wird Herrmann von Niels Annen, dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. In Analogie zum »Sommermärchen« während der Fußball-WM 2006 sprechen manche Beobachter vom Wintermärchen, das die Republik in Atem gehalten hat. Tageszeitungen, Wochenmagazine, TV-Nachrichten, Sportsendungen und Talk-Shows werden die Ankunft noch Wochen später wie einen Sieg feiern. Fast 20 Jahre nach dem Triumph von Team Illbruck im Volvo Ocean Race erlebt der Segelsport endlich wieder einen großen, einen Boris-Moment, größer als fast alle bisherigen Erfolge – vielleicht auch deshalb, weil es lange nicht danach aussah, weil diese neunte Vendée Globe den Teilnehmern so viel abverlangte, weil Herrmann lange brauchte, um im Rennen anzukommen und weil die glimpflich verlaufene Kollision mit einem Fischtrawler in der Nacht vor der Zielankunft alles hätte zunichte machen können.

Die Ambivalenz ist ihm anzumerken an diesem Morgen, als der orangerote Dunst der Rauchtöpfe und der Phosphordampf der Handfackeln von seiner Einfahrt in den Kanal von Les Sables nur noch Erinnerung sind. Zwei Nächte lang hat sein Team ihn gefeiert, auch als er schon im Sitzen eingenickt war und sich wenig später ins Bett verzogen hatte. Die jähe Landung im neuen, alten Leben muss ihm wie ein Film vorkommen, der im schnellen Vorlauf schemenhaft an seinen Augen vorbeizieht. Oder wie eine Vollbremsung.

BLICK ZURÜCK NACH VORN

Das Rennen, sein Rennen, ist vorbei. Der Kampf um die bestmögliche Platzierung, die Sorge ums Schiff, das Alleinsein, die Erschöpfung nach dem wochenlangen Schlaf in Halb-Stunden-Einheiten, die Interpretation der meist schwierigen Wetterlagen, die schiere Summe aller Entbehrungen, die kaum jemand ermessen kann – all das liegt jetzt achteraus. Aber natürlich wirkt es nach. Noch ist es nicht sortiert, bewertet, verarbeitet, egalisiert. Es wird dauern, bis Kopf, Körper und Seele die ganzen Strapazen hinter sich lassen.

»Ein paar Wochen«, glaubt Herrmann. Es gibt ehemalige Teilnehmer, die von Monaten sprechen. Conrad Coleman brauchte vor vier Jahren »mehr als ein halbes Jahr«. Vor Boris Herrmann liegt jetzt ein Neuanfang, ein Zwischendrin. Weniger Adrenalin, kaum Endorphine, keine existenziellen Grenzerfahrungen mehr. Aber auch kein Urlaub, keine Auszeit. Das Ende der Vendée Globe bedeutet für ihn, den Berufsseemann, auch das Ende seiner Heuer, das Auslaufen seiner Sponsorenverträge, die Notwendigkeit, wieder eine Perspektive für sich und seine Mitarbeiter zu entwickeln.

Die Welt hat ihm zugejubelt, bis vorgestern. Seine Popularität, schon durch den Transatlantiktörn mit Greta Thunberg enorm gestiegen, hat einen neuen Gipfel erreicht; sie wird ihm vieles erleichtern. Er gilt als Vorzeigeathlet in einer medial noch unverbrauchten Sportart: smart, sympathisch, ehrlich, telegen.

Das sind in diesem Moment jedoch nur Potenziale, Möglichkeiten, Chancen – nicht Gehaltsschecks, mit denen er Rechnungen bezahlen und seine Familie über die Runden bringen kann. Auch das eine Realität, in die Boris Herrmann zurückgekehrt ist.

Nonstop

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