Читать книгу Nonstop - Boris Herrmann - Страница 21
ОглавлениеDIE HÄRTE DES RENNENS
Der Vorfall hängt ihm noch tagelang in den Klamotten. Er braucht mehrere Stunden, bevor er wieder richtig ins Rennen zurückfindet. Zum einen, weil er für die Suche seine letzten Reserven mobilisieren musste, zum anderen, weil da etwas geschehen ist, das er bis dahin stets für unmöglich gehalten hatte: dass ein Imoca60 mit einem Schlag auf Tiefe geht. Herrmann, ein entschlossener Segler, aber kein Hasardeur, trägt nicht mehr nur Verantwortung für sich allein. Vor einem Jahr hat er geheiratet, jetzt ist da auch noch Malou. Vielleicht schlaucht ihn der Horror dieser Nacht beim Gedanken an seine Liebsten umso mehr.
Während Escoffier und le Cam per Video-Schalte mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron scherzen, als wären sie gerade auf einem Vater-Sohn-Törn an der bretonischen Küste, sagt der Hamburger in einem Interview: »Das war knapp! Kevin hat meines Erachtens noch gar nicht realisiert, wie viel Glück er hatte. Er war praktisch schon so gut wie tot, als er in seine Rettungsinsel kletterte.«
Mehr und mehr beginnt Herrmann unter dem groben Seegang, dem stark böigen Wind und den Grenzen seines Bootes im Südmeer zu leiden. »Das Zähnezusammenbeißen, wenn das Boot in die Kreuzseen schlägt. Die Sturzflüge nach Surfs mit 27 Knoten Fahrt.« Es fühle sich an »wie freier Fall«.
Er wird schier zerrissen zwischen sportlichem Anspruch und der Maxime, nur heil im Ziel anzukommen. »Einen Moment gewinnt Vorsicht die Oberhand, fünf Minuten später der Wunsch, keine Meilen zu verlieren.«
Ein unvorstellbarer innerer Kampf, der sich fernab jeder Zivilisation abspielt. Und da ist gerade mal ein Drittel des Rennens gesegelt.
Von Beginn an sei er nie richtig in einen Flow gekommen, sagt Boris Herrmann, als er im Salon des alten Ferienhauses in Longeville-sur-Mer seine Erlebnisse zurückspult. Erst die Stürme im Nordatlantik, dann ein technisches Problem im Sankt-Helena-Hoch, das ihn in den Mast zwingt, danach die Havarie von Kevin Escoffier – »ständig war was«.
Hinter Kap Hoorn und nach einer Serie kleinerer Schäden, von denen jeder sein Rennen hätte beenden können, zieht er geknickt Bilanz. Er sei in eine Negativ-Spirale geraten, befindet er. Zurückgefallen auf Platz elf, wirkt er abgekämpft, seine Stimme belegt. Wieder so ein emotionaler Tiefpunkt, den er mit der Welt teilt.
Manche Beobachter mutmaßen schon, dass ihm die Härte, der unbedingte Wille fehle. So beschreibt er sich nach dem Finish auch selbst: »Ich bin nicht so ein Stahlbetontyp wie Thomas Ruyant, der einfach nie Zweifel hat«, sagt Boris Herrmann.
Aber das ist allzu selbstkritisch. Denn der gebürtige Oldenburger kann sich voll reinhängen in eine Aufgabe. Er hat enorm viel Erfahrung, mehr als das Gros seiner Wettbewerber. Er gibt nie auf. Und was ihm allein an Bord, in der einer Raumkapsel nicht unähnlichen, rohen, kargen Kanzel seines Bootes entgeht: Andere Skipper, die ihre Zweifel und Schwächephasen vor der Welt verbergen, sind nicht weniger angeschlagen vor dem Rückweg im Atlantik. Viele verheimlichen Schäden an ihren Booten hartnäckig bis ins Ziel, schicken nur Videos, die keine Rückschlüsse auf technische Mängel zulassen, und in denen sie Stärke demonstrieren.
Tatsächlich aber setzt das Südpolarmeer allen schwer zu. Der spätere Sieger, Yannick Bestaven, segelt sich in einem Husarenritt vor Kap Hoorn den Bugkorb ab und beschädigt seine Vorsegel-Rollanlagen fast irreparabel. Jean le Cam, mit fünf Teilnahmen der Routinier im Feld, kämpft mit schweren strukturellen Schäden im Bugbereich seines Bootes. Er muss Teile seiner Ballasttanks zersägen, um überhaupt genug Material für die Reparatur zu haben. Als er im Ziel ist, bekennt er: »Ich habe schon viele Schwierigkeiten erlebt, aber diesmal war es unerträglich. Es grenzt an ein Wunder, dass ich heute hier bin. Es ist unfassbar. Diese Vendée Globe war eine kranke Angelegenheit.«
Was anfangs nur wenige als Stärke des deutschen Vendée-Novizen erkennen – seine Vorsicht und Voraussicht –, wird spätestens auf dem Rückweg im Südatlantik zu Boris Herrmanns Trumpf.
Er hat seine Seaexplorer – Yacht Club de Monaco bis hierher geschont, bewahrt, auf 100 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit gehalten. Vom hinteren Teil der Führungsgruppe muss er nun attackieren, aber: Er kann es auch.
Sein verhaltenes Agieren im Südmeer erscheint plötzlich nicht mehr ängstlich, sondern weitsichtig, schlau, konsequent. Er mag auch Glück gehabt haben, dass er im Pazifik und vor der brasilianischen Küste zwei Mal dank günstiger Wetterlagen wieder zur Spitze aufschließen kann. Aber Glück gehört bei diesem Rennen dazu.
Und so segelt er ab der Breite von Récife tatsächlich um den Sieg mit, loggt im Südost-Passat mehrfach die höchsten Etmale, geht am 15. Januar nach Abzug seiner Zeitgutschrift für die Rettungsaktion von Kevin Escoffier rechnerisch erstmals in Führung. Eine Sensation wie in Zeitlupe, denn noch liegen gut 3.500 Seemeilen vor seinem Bug – ein ganzes Transat-Jacques-Vabre-Rennen, nur in Gegenrichtung.
EINE ART HOME RUN
»Ich bin abergläubisch, wie die meisten Segler. Ich spreche nicht übers Gewinnen«, wiegelt er ab. Aber das tun längst andere: Jérémie Beyou, der gestrauchelte Favorit, der sich durchs Mittelfeld quält, sieht ihn als aussichtsreichen Siegkandidaten, auch Yannick Bestaven, der lange geführt hatte.
Und die Welt schaut zu. Boris Herrmann gewinnt in den Medien jetzt täglich mehr Prominenz. Frankfurter Allgemeine, Tagesspiegel, Süddeutsche, Bild – allenthalben tauchen Berichte über diese kuriose, zehrende Regatta auf. Selbst Le Figaro nimmt ihn, den Nicht-Franzosen, auf die Titelseite. Und in den täglichen Vendéelive-Schalten der Veranstalter auf YouTube wird der Deutsche, der fließend Französisch und Englisch parliert, zum gern gesehenen Dauergast. Neben den Lokalmatadoren verzeichnet der Hamburger die höchsten Einschaltquoten. Nun kommt ihm zugute, dass er von Beginn an täglich lange, authentische Videos von Bord geschickt hat, dass er sich keinem Interview-Wunsch verweigert. Seine Teammanagerin Holly Cova, eine unermüdliche Gute-Laune-Anwältin, die ihr iPhone wegen des enormen Nachfragedrucks nur noch mit einer Powerbank betreibt, mit der sie auch einen Kleinwagen starten könnte, orchestriert den beständig wachsenden Medienrummel von Hamburg aus. Virtuos staffelt sie für ihren Skipper, den jetzt alle sehen wollen, Videokonferenzen mit Sponsoren, Journalisten und Klimaforschern hintereinander weg. Während sich andere in der Endphase der Vendée Globe mehr und mehr abschotten, spricht Boris Herrmann vier Tage vor dem Ziel noch über Zoom mit 7.200 Fans.