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2 Das Theoriemodell der Komplementären Führung

Führen als Dienstleistung mit zwei Funktionen

Personalführung ist eine Dienstleistung – diese These scheint mittlerweile fast konsensfähig zu sein. Dahinter steckt eine eigentlich selbstverständliche, im Ergebnis aber spektakuläre Grunderkenntnis, die Robert Greenleaf mit seinem Ansatz des „Servant Leadership“20 herausgearbeitet hat: Die Mitarbeiter sind nicht für die Führenden da, sondern umgekehrt. So weit wie Greenleaf mit seinem stark christlich orientierten Dienst am Mitmenschen muss man dabei gar nicht gehen, und man kann es im Arbeitskontext auch gar nicht verlangen. Die säkularisierte Variante des Führens als Dienstleistung reicht völlig aus21. Die meisten Autoren, die vom Führen als Dienen sprechen, meinen damit wohl ohnehin eher konkrete Arbeitsverpflichtungen22. In diesem Sinne lässt sich auch eine berühmte Aussage des alten Fritz interpretieren: „Der Herrscher ist der erste Diener des Staates. Er wird gut besoldet, damit er die Würde seines Standes aufrechterhalte. Man fordert aber von ihm, dass er werktätig für das Wohl des Staates arbeite und […] die Hauptgeschäfte mit Sorgfalt leite“23. Diese Vorstellung vom Staatsdiener entspricht dem Bild eines professionellen Dienstleisters, nicht dem eines Hausdieners.

Wer die Idee des Führens als Dienstleistung ablehnt, missversteht es i. d. R. als grenzenloses Bedienen. Darauf kann man aber natürlich kein Führungssystem aufbauen und es widerspricht auch dem üblichen Verständnis beruflicher Dienstleistung. Der typische Job eines Kellners, Lehrers, Bankkassierers oder Polizisten hat zum einen immer eine Struktur in Gestalt definierter Aufgaben oder jedenfalls Verantwortungsbereiche. Keiner von ihnen tanzt auf Verlangen Samba oder putzt jemandem die Schuhe. Darüber hinaus hat jede dieser Tätigkeiten zwei Seiten: Der Kellner bringt Kaffee, aber er kassiert auch und sorgt für Ruhe, ganz ähnlich der Banker und der Lehrer. Der Polizist kontrolliert vielleicht den Verkehr, wird einer alten Dame aber auch über die Straße helfen. Alle diese Dienstleistungsberufe sind geprägt von einem Spannungsverhältnis zwischen professioneller Hilfeleistung und professioneller Disziplinierung. Genau das macht sie interessant und herausfordernd.

Sie sind kein Diener, aber Dienstleister.

In eben dieser Weise hat auch die Dienstleistung Führung eine Ordnungs- und eine Unterstützungsfunktion – das erste Element des Komplementären Führungsmodells. Führungstheoretisch spiegeln sich hierin die klassischen Dualismen Mitarbeiterorientierung vs. Produktionsorientierung24, Fördern vs. Fordern sowie Einzelbedürfnis vs. Kollektivinteresse. Führen als doppelte Dienstleistung – das mag sich banal anhören, ist aber als Leitidee von durchschlagender Kraft. Wer sich als Dienstleister versteht, braucht keinesfalls jedermanns Liebling zu sein, sondern hat mitunter durchaus harte Entscheidungen zu treffen und disziplinarisch durchzugreifen. Er muss sich dabei allerdings den Aufgabenstellungen seiner Führungstätigkeit unterordnen. Mitarbeiter anzubrüllen oder bei Fehlern niederzumachen verträgt sich ebenso offensichtlich nicht mit der Idee der Dienstleistung wie die vorrangige Maximierung der eigenen Karriere-, Gehalts- oder Freizeitinteressen. Und wo alle springen müssen, nicht weil ein Problem oder Kunde drängt, sondern weil die Anliegen des Chefs prinzipiell Vorrang vor der eigentlichen Arbeit haben, stimmt ebenfalls etwas nicht. Darum empfehle ich Unternehmen, die sich an ein richtiges Führungsmodell nicht recht herantrauen, zumindest dieses eine Kernelement der Komplementären Führung – die Führungsfunktionen – in einen Führungsgrundsatz umzusetzen. Führungskräften empfehle ich, sich aus eigenem Antrieb selbst an der Idee des Führens als Dienstleistung zu orientieren und zu messen. Sie werden merken, wie dieses Leitmotiv Ihnen hilft, sich selbst zu disziplinieren und in eine konstruktive Führungsrolle zu finden.

Führung unterstützt und ordnet.

Komplementäre Führungsaufgaben: Was braucht der produktive Mensch?

Führen ist ein komplexes Geschehen mit vielen Facetten. Entsprechend kann man sehr unterschiedliche Ansatzpunkte wählen, um es zu gestalten (Abbildung 4).

Und tatsächlich steht jeder einzelne davon im Mittelpunkt irgendeines Führungskonzeptes, das findige Autoren dann in unterschiedlichen Spielarten und Varianten alle paar Jahrzehnte neu herausbringen. Einige davon wurden oben bereits verworfen. Kritische Betrachtungen der anderen erspare ich Ihnen hier und komme gleich zur Empfehlung: Führungskonzepte sollten grundsätzlich an den Führungsaufgaben ansetzen. Wer weiß, welche Aufgaben es zu erfüllen gilt, wird dies in aller Regel auch in Verhalten umsetzen, das dann – sofern die Aufgaben richtig gewählt sind – den Geführten beeinflusst, der seinerseits die für den Geschäftsbetrieb erforderliche Arbeitsleistung erbringt. Vertreter anderer Führungsansätze sind schnell dabei, solches Denken als mechanistisch zu geißeln. Jeder echte Praktiker hingegen weiß, dass Berufe sich am ehesten über Aufgaben definieren lassen und dass ein Profi sich in seinem Tun an seinem Tätigkeitsverständnis orientiert. Dieses Tätigkeitsverständnis beinhaltet Erfahrungswerte und erfüllt daher im Großen und Ganzen meist auch seinen Zweck. Nicht anders steht es mit den Führungsaufgaben, unabhängig davon, ob Führungskräfte sich eigeninitiativ an ihnen orientieren oder ob betriebliche Führungsgrundsätze es ihnen vorschreiben.

Berufe werden über Aufgaben definiert.

Aufgabenmodelle der Führung gibt es in der Literatur viele. Schon Fayol (1916), Barnard (1938), Drucker (1973), Mintzberg (1975), Kouzes/Posner (1987) und Malik (2000) haben diesen Weg beschritten25. Entscheidend ist dabei, das Führungsgeschehen über normative Aufgabenpakete prägen zu wollen. Die genaue Ausgestaltung des Katalogs ist hingegen teilweise Geschmackssache, denn natürlich lassen sich die einzelnen Führungsaufgaben nach Belieben differenzieren und kategorisieren. Auch liegt nicht alles jedem Autor gleichermaßen am Herzen. Jede Führungsaufgabe besteht zudem aus diversen Elementaraufgaben, die nicht führungsspezifisch sind. Handlungsziele zu definieren, Lob auszusprechen oder eine Ressource zuzuweisen sind solche Elementaraufgaben, die man in vielen Berufen zu erfüllen hat. Erst ihre führungsspezifische Zielstellung und Bündelung ergibt Führungsaufgaben.

Wenn ich größere Zuhörergruppen aber bitte, mit mir ein kleines Brainstorming zu Führungsaufgaben durchzuführen, kommen meist etwa zwei Drittel des in Tabelle 2 dargestellten Katalogs dabei heraus. Dies ist wenig verwunderlich, denn der ganze Aufgabenansatz folgt implizit einer bestimmten Prämisse. Diese ist ganz entscheidend für ein richtiges Verständnis von Führung, erschließt sich aber erst bei näherer Betrachtung. Unsere Personalführungsdefinition war ja verkürzt „Steuerungseinfluss auf Menschen in einer Organisationseinheit zum Zweck der Erzeugung von Arbeitsleistungen“. Entsprechend steht hinter dem Katalog der Führungsaufgaben die Frage, was ein Mensch benötigt, um nachhaltig produktive Arbeit zu leisten. Personalführung dient also der Herstellung dieser Leistungsbedingungen, und die Führungsaufgaben konkretisieren sie. Dies erklärt, warum die Brainstorming-Vorschläge berufserfahrener Menschen hier nicht sonderlich weit streuen. Ohne Auftragsverständnis, Qualifikation, Motivation etc. keine Arbeitsleistung – das weiß jeder, der schon einmal gearbeitet hat. Der hier propagierte Katalog soll ganzheitlicher und vollständiger sein als die herkömmlichen Entwürfe und wirklich alle Leistungsbedingungen abbilden. Unternehmen und Führungskräfte, die ihn in betriebliche Konzepte übersetzen, kategorisieren und benennen die Aufgaben für sich aber meist etwas anders, ihrem eigenen Sprachgebrauch entsprechend.

Führungsaufgaben sind Leistungsbedingungen.

In der Systematik der Komplementären Führung sind die Führungsaufgaben das vielleicht wichtigste Element, denn sie bilden den Bezugspunkt aller anderen Modellelemente. So konkretisieren sich in den Aufgaben u. a. die oben diskutierten Dienstleistungsfunktionen, also die Ordnungs- und die Unterstützungsfunktion der Führung. Dabei verwirklicht jede einzelne Aufgabe beide Funktionen gleichermaßen. Wenn Führende z. B. Leistungsfeedback geben oder einen Konflikt schlichten, so hat dies sowohl einen helfenden als auch einen disziplinierenden Aspekt. Diese stehen in einem je nach Anwendungssituation völlig unterschiedlichen Mischungsverhältnis. Immer aber trägt die Aufgabe Züge beider Aspekte.

Jede Führungsaufgabe verwirklicht beide Funktionen.

Die Leitidee des eigenverantwortlich handelnden Mitarbeiters

Wer mit dem Werk von Managementautor Reinhard Sprenger vertraut ist, wird eben beim Wort „Motivation“ kurz gezuckt haben. Man soll Mitarbeiter nicht motivieren, haben viele von ihm gelernt26. Und das stimmt natürlich, jedenfalls zumindest dem Grundsatz nach: Mitarbeiter sollen sich bitteschön selbst motivieren. Führungskräfte sollen diese Eigenmotivation in den Vordergrund stellen und nicht zerstören. Dies gilt aber nicht nur für Motivation, sondern für alle Führungsaufgaben. Wirklich professionelle Mitarbeiter suchen sich ihre eigenen Aufgaben, beurteilen und kontrollieren sich selbst, lösen ihre Konflikte eigenständig, schließen proaktiv ihre Qualifikationslücken etc. Genau diese Prämisse, Selbststeuerung vor Fremdsteuerung, ist der Dreh- und Angelpunkt guter Führungskonzepte. „Wer führt darf denen, die er führt, nicht im Wege stehen“ (Laotse27). Sie ist der Dreh- und Angelpunkt des Komplementären Führungsmodells und sollte auch der rote Faden Ihres Handelns als Führungskraft sein.

Dieses Prinzip der Selbstführung ist gerade wieder aktuell, man liest viel davon. Das ist durchaus zu begrüßen. Eigentlich handelt es sich aber um ein zeitloses Thema und eines der Grundmotive wirksamer Führung überhaupt. So merkte Mary Parker Follett schon 1930 an: „Aufgabe der Höher gestellten ist nicht, Entscheidungen für ihre Untergebenen zu treffen, sondern ihnen beizubringen, wie sie ihre Probleme selbst bewältigen und ihre eigenen Entscheidungen treffen“28. 1954 stellte Peter F. Drucker seine Technik „Management by Objectives and Self-control“ vor und bezeichnete sie als Managementphilosophie der Freiheit29. In den 1960/70er Jahren löste das sog. „Harzburger Modell“30 in der deutschen Wirtschaft eine Revolution von oben aus. Das damals verbreitete autoritär-patriarchalische Führungsverhalten sollte durch ein betrieblich verankertes System der Delegation von Entscheidungsfreiheiten abgelöst werden. Dies war großflächig erfolgreich und in hohem Maße prägend für die hiesige Führungskultur (auch wenn es mancherorts noch immer autoritärpatriarchalisch zugeht)XII. Der in praktisch allen deutschen Unternehmen genutzte Begriff „Mitarbeiter“ stammt von dort und zeigt, wie weit dieser Führungsansatz, der im Übrigen besser ist als sein Ruf, noch immer verbreitet ist. Selbstführung ist also kein neues, sondern ein hoch etabliertes Konzept.

Wenn Mitarbeiter (da ist das Wort wieder) sich weitgehend selbst führen, hat dies viele Vorteile. Die meisten Menschen besitzen eine ausgeprägte Aversion gegen Fremdsteuerung und erleben Handlungsspielräume als anregend, selbstwertsteigernd und motivierend. Überlegen Sie doch einfach einmal, was Sie selbst leistungsfähiger macht: Möchten Sie gern eigenverantwortlich handeln oder auf Schritt und Tritt Anweisungen bekommen? Eben, und Ihren Mitarbeitern geht es sicher nicht anders. Unter dem Gesichtspunkt der Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit – dass Modewort „Agilität“ vermeide ich hier bewusst – ist Eigenverantwortung ebenfalls unabdingbar. Diejenigen, die den Sachverhalt, den Kunden, die Maschine etc. aus eigener Anschauung kennen, können in der Regel auch schnellere und angemessenere Entscheidungen treffen. Bei Zusammenbrechen der Kommunikationswege oder Ausfall des Chefs ist Selbstführung sogar die Voraussetzung dafür, überhaupt noch handlungsfähig zu sein. Darüber hinaus wird die Ressource Führungskraft geschont: Wer Mitarbeiter nicht rundum bemuttert, kann mehr von ihnen führen oder sich um Sachaufgaben kümmern. Jede Menge Vorteile also. Aus einer rein theoretischen Perspektive ist ein gewisses Maß an Selbstführung ohnehin unvermeidlich, weil totale Fremdsteuerung in der Realität gar nicht vorkommt. Daraus folgt: Führung ist nie alleinige Aufgabe der Führungskraft, sondern de facto immer zum Teil Selbstführung. Diesen Teil gilt es auszubauen.

Selbststeuerung ist ein superiores Führungsprinzip.

So populär die Idee der Selbstführung auch ist, so wenig hilfreich sind die Ausführungen, die man allenthalben darüber findet. Dies liegt zum einen daran, dass fast immer unklar bleibt, was überhaupt konkret darunter zu verstehen ist. Unsere obige Definition – Steuerungseinfluss zum Zwecke der Erzeugung von Arbeitsleistungen – lässt sich auch auf die Selbstführung anwenden und geht damit weiter als die meisten Quellen, ist aber natürlich auch noch nicht konkret genug. Zum anderen wird Selbstführung oft mit bedingungsloser Selbstbestimmung gleichgesetzt. Diese aber gibt es ebenso wenig wie totale Fremdsteuerung. Organisationen funktionieren arbeitsteilig, und damit geht immer auch eine gewisse Einflussnahme von außen einher. Komischerweise sagt Ihnen keiner der Texte, die Sie bei einer Literaturrecherche zum Thema finden, welche Grenzen dem Ganzen zu setzen sind und was bei versagender Selbstführung zu tun ist. Das ist aber ja genau der Knackpunkt, denn niemand von uns ist in der Lage, sich immer, in jeder Hinsicht und vollumfänglich selbst zu führen. Auch kennen wir alle Mitarbeitende mit massiven Selbstführungsdefiziten. Der Ansatz der Komplementären Führung löst diese Frage, indem Führung auf die Führungsaufgaben heruntergebrochen wird – wir kommen gleich noch darauf zurück. Selbstführung bedeutet also, möglichst viele Führungsaufgaben möglichst vollständig und möglichst oft selbst zu erfüllen. Sie hat als Führungsprinzip absolute Priorität, d. h. Mitarbeiter sind nachdrücklich angehalten, sich selbst zu führen und Führungskräfte sind nachdrücklich angehalten, Selbstführung zu ermöglichen.

Bedingungslose Selbstführung funktioniert leider nicht.

Komplementäre Akteure: Die kompensierende Funktion anderer Führungsbeteiligter

Wie aber ist mit Selbstführungsdefiziten umzugehen? Neben dem Primat der Selbstführung sieht das Modell der Komplementären Führung ergänzende komplementäre Akteure vor – u. a. daher der Name. Dies geht auf den Theorieansatz der Geteilten Führung (engl. „shared leadership“) zurück, der die eigentlich selbstverständliche Tatsache ins Bewusstsein ruft, dass Führung nicht nur Führungskräften obliegt, sondern mehrere Führende zusammenwirken31. Führung ist de facto immer ein kollektives Geschehen. Entsprechend sind auch die 24 Führungsaufgaben nicht etwa nur durch die Führungskraft oder nur durch den Mitarbeiter zu erfüllen. Vielmehr wirken an jeder Aufgabe i. d. R. mehrere Akteure mit. Abbildung 5 gibt einen Überblick über das Kernmodell der Komplementären Führung und verdeutlicht den Zusammenhang: Die beiden Führungsfunktionen der Ordnung und Unterstützung konkretisieren sich in acht Kategorien von Führungsaufgaben, an denen mehrere komplementäre Führungsakteure beteiligt sind.

Niemand führt allein.

Als Linienmanager sind Sie einer von diesen Akteuren, und wenn man die Grundidee der Geteilten Führung um den oben diskutierten Aufgabenbezug und ein kompensatorisches Mandat erweitert, konkretisiert sich die Rolle der wirksamen Führungskraft. Sie besteht darin, Defizite in der Selbstführung jedes einzelnen Mitarbeiters zu kompensieren. Dies ist sogar der wesentliche Grund dafür, dass es die Position der Führungskraft überhaupt gibt und geben muss. Nur sie kann situativ abschätzen, welche Führungsaufgaben nicht durch den Mitarbeiter erfüllt werden und geeignete Maßnahmen ergreifen. Dort, wo Selbstführung funktioniert, muss sie sich zurückhalten. Aber sie funktioniert nicht immer. Um mit Robert Greenleaf zu sprechen: „Perfekte Leute könnte jeder führen – wenn es sie gäbe“32. Es gibt sie nicht, und jemand muss das ausgleichen. Sie als Führungskraft sollen mitbekommen, welche der 24 Führungsaufgaben ein Mitarbeiter wann nicht selbst übernimmt und dann – aber nur dann – eingreifen. Manchen Führungskräften fällt die Zurückhaltung schwer, anderen die Intervention, aber der Führungsjob erfordert eben beides. Schließt ein Mitarbeiter z. B. seine Qualifikationslücken selbst und löst seine Konflikte allein, soll die Führungskraft nicht intervenieren, sondern bestenfalls bestärken. Tut er dies aber nicht, so muss sie intervenieren, und zwar mit der vollen Autorität ihrer Position. Gegen Positionsmacht wird gern polemisiert, aber aber es gibt sie und hier zeigt sich, wozu sie gut ist. Persönliche und moralische Autorität auszustrahlen ist eine schöne Sache, reicht aber leider nicht aus.

Führungskräfte kompensieren Selbstführungsdefizite.

Wie Tabelle 3 aufzeigt, hat die Führungskraft bei ihrer kompensierenden Intervention unterschiedliche Optionen. Eine davon besteht darin, die Einflussnahme zu delegieren, denn natürlich können auch Kollegen des Mitarbeiters Führungsaufgaben übernehmen. So finden z. B. sehr viel Qualifizierung und Konfliktlösung in kollegialer Runde am Arbeitsplatz statt. Dies kann, muss aber nicht zwingend auf die Führungskraft zurückgehen. Oft genug übernehmen auch Kollegen Führungsaufgaben, aus eigenem Antrieb oder weil sie vom Betreffenden selbst dazu aufgefordert werden.

Bliebe es dabei, so hätte das Theoriemodell eine fatale Schwachstelle: Auch Führungskräfte sind nicht perfekt. Den meisten rutscht immer wieder einmal ein Selbstführungsdefizit des Mitarbeiters durch. Unter dutzenden Führungskräften sind außerdem, wie jeder Personaler weiß, immer auch einige, die ganz grundsätzlich nicht willens oder in der Lage sind, ihrer kompensatorischen Rolle gerecht zu werden. Dies stellt zwar eine Missachtung ihrer eigenen Dienstpflichten dar (sofern sie entsprechend konkretisiert sind).

Es kommt aber oft genug vor, und ein sinnvolles Führungsmodell braucht also auch hier ein Korrektiv. Dieses Korrektiv bilden der Personalbetreuer und die obere Führungskraft als weitere kompensatorische Instanzen (Abbildung 6). Auch sie müssen nach denselben Prinzipien agieren, also die Selbststeuerung der Führungskraft achten, wo sie funktioniert und eingreifen, wo die Führungskraft Selbstführungsdefizite des Mitarbeiters de facto nicht schließt. Beide haben dabei ähnliche Interventionsmöglichkeiten wie die in Tabelle 3 aufgezeigten. Für Sie als Führungskraft bedeutet dies: Sie können, wenn Ihre Organisation hier ordentlich aufgestellt ist, bei Interventionen auf die Hilfe Ihres Personalbetreuers und Ihrer eigenen Führungskraft zurückgreifen. Bei Bewerberinterviews und Kündigungsgesprächen ist dies in den meisten Unternehmen sogar das normale Prozedere; es funktioniert aber bei allen anderen Führungsaufgaben ganz genauso. Auf der anderen Seite sollten Sie sich nicht wundern, wenn Ihr Personalbetreuer Sie auf Missstände aufmerksam macht. Ohne dieses balancierte System von Kontrolle und Verantwortung (engl. „checks and balances“) kann Personalführung gar nicht flächendeckend funktionieren.

Personaler und obere Führungskräfte sind ein zusätzliches Korrektiv.

Umsetzungselemente: Routinen, Instrumente, Aufbau, Ressourcen

Bislang haben wir uns auf das Kernmodell der Komplementären Führung mit seinen drei Elementen konzentriert: Die komplementären Führungsakteure erfüllen gemeinsam die komplementären Führungsaufgaben, in denen sich die beiden komplementären Führungsfunktionen der Ordnung und Unterstützung konkretisieren. Das alles dürfte plausibel sein. Sie hätten aber Schwierigkeiten, es in der Praxis mit Leben zu füllen, denn das Ganze ist doch reichlich abstrakt. Es bedarf weiterer Modellelemente, um einen Beruf zu konstituieren, der sich tatsächlich praktizieren lässt: Die Umsetzungselemente. Erst durch sie wird Führung so konkret, dass Sie als Führungskraft darin Ihren Beruf wiedererkennen.XIII.

Das erste dieser in Abbildung 7 dargestellten Umsetzungselemente bilden die Führungsroutinen, die nichts anderes sind als Aktivitäten. Man kommt sicher nicht ohne weiteres darauf, aber wenn ich Ihnen verrate, dass unsere 24 Führungsaufgaben eigentlich Aufgabenstellungen sind, werden Sie das leicht nachvollziehen können. Motivieren, qualifizieren, gesund erhalten etc. sind keine Aktivitäten, sie hören sich nur so an. In Wirklichkeit handelt es sich um angestrebte Ergebnisse, und wir brauchen zusätzlich einen Katalog von Führungsaktivitäten – z. B. regelmäßige Gespräche und Sitzungen – mittels derer wir sie verwirklichen. Außerdem brauchen wir einen Katalog von Führungsinstrumenten, unter denen ich formalisierte Hilfsmittel wie Formulare, Programme oder Systeme verstehe. Ferner müssen wir uns noch Gedanken über die erforderlichen Führungsressourcen Zeit, Information, Kompetenz und Feedback machen und schließlich den Führungsaufbau im Sinne der Gestaltung der beteiligten Organisationseinheiten berücksichtigen. Systematisch lässt sich der Zusammenhang der sieben Elemente dann folgendermaßen beschreiben: Führende verwirklichen die Dienstleistungsfunktionen (Ordnung und Unterstützung), indem sie Aufgaben (z. B. Leistungsfeedback) mittels Routinen (z. B. Gesprächen) erfüllen, wenden dabei Instrumente an (z. B. Arbeitszeitregelungen), benötigen dafür Ressourcen (z. B. Geschäftsinformationen) und tun dies alles auf Basis des Aufbaus (z. B. des Zuschnitts ihrer Stelle). All dies sei hier nur zur Vollständigkeit in Überblicksform skizziert. Wir gehen im Verlauf des Buches noch genauer auf die einzelnen Umsetzungselemente ein. Sie werden vielleicht eine Weile brauchen, bis Sie den Überblick haben. Diese reale Komplexität kann ich Ihnen aber nicht ersparen. Jeder andere Beruf – denken Sie z.B. einmal an Maurer, Richter oder Polizisten - ist de facto ähnlich vielschichtig.

Vier Umsetzungselemente machen das Modell praktikabel.

Was ist Führungsleistung und wie wird sie sinnvollerweise gemessen?

Führungsleistung ist das, was ein implizites oder explizites Führungsmodell als Führungsleistung definiert. Wenn Ihre Organisation es als Leistung ansieht, lange im Büro zu sitzen, dann ist dies eben der Maßstab. Wenn Bernd Stromberg aus der gleichnamigen Fernsehserie den Chef als „eine Art Büroanimateur“ definiert, so ist auch dies ein Maßstab. Hat eine Organisation oder eine Führungskraft gar keine konkrete Vorstellung vom Führen, so lässt sich natürlich auch die Führungsleistung nicht exakt bestimmen. Der Leistungsbegriff der Komplementären Führung ist hingegen glasklar. Allerdings werden Sie sich ein wenig eindenken müssen, denn er zieht ja sozusagen die Klammer um den Beruf des Führens und es wäre sehr unplausibel, wenn etwas Eindimensionales dabei herauskäme. Auch muss auf das Thema Leistungsbeurteilung vorgegriffen werden, denn Führen ist ja schließlich eine ganz normale berufliche Arbeit, für die die normalen Grundsätze gelten müssen. Zu beachten ist, dass Arbeitnehmer arbeitsrechtlich nicht das Arbeitsergebnis (das Werk), sondern nur den Arbeitseinsatz (das Wirken) schuldenXIV. Die meisten Führungskräfte sind ja Arbeitnehmer, und dieser Grundsatz ist außerdem so sinnvoll, dass man ihn auch auf Nicht-Arbeitnehmer übertragen kann. Der Arbeitnehmer ist zwar dafür verantwortlich, Arbeitsergebnisse anzustreben, der Arbeitgeber hat die Arbeit aber so zu organisieren und zu lenken, dass die Ergebnisse auch tatsächlich erzielt werden. Wenn die Führungskraft also keinen Führungserfolg erzielt, ist dies ein mögliches Anzeichen für mangelnden Einsatz und dysfunktionales Verhalten. Ebenso gut kann es aber auch ein Indiz für mangelhafte Führungsstrukturen sein, und tatsächlich ist dies vielerorts der Fall. Leistung mit Resultaten gleichzusetzen ist ohnehin eine große Dummheit, denn der Arbeitseinsatz und das Arbeitsverhalten sind die Bedingungen dafür und nicht weniger wichtig. Die Resultate sind am Ende das Entscheidende, aber ohne Berücksichtigung von Einsatz und Verhalten blendet man den Weg dorthin aus und kann letztlich überhaupt nicht beurteilen, ob die Resultate dem unter den jeweiligen Umständen Möglichen entsprechen. Als Arbeitgeber schleicht man sich so aus der Verantwortung für den Leistungsprozess – das ist unanständig und das Gegenteil managerialer Steuerung.

Schlechte Führungsleistung ist nicht immer Schuld der Führungskraft.

Woran wollen und müssen Sie sich nun also als Führungskraft – nach den Standards der Komplementären Führung – messen lassen? Ganz grundsätzlich sollte erst einmal zwischen den Personalführungsleistungen und den sachbezogenen Führungsleistungen unterschieden werden. Letztere stellen wir hier einmal zurück, in Kapitel 13 („Personalführung und Sachgeschäftsführung“) kommen wir darauf zurück. Hier soll es also erst einmal nur um die Personalführungsleistung gehen. Der erste Leistungsaspekt, der Führungseinsatz, lässt sich als Wahrnehmung der Führungsroutinen (Kapitel 5) und Bewerkstelligung der Führungsaufgaben (Kapitel 2) verstehen. Die Frage ist hier einerseits, ob die Führungskraft die festgelegten Routinen wirklich in den vorgesehenen Abständen durchführt (z. B. wöchentliche Aufgabengespräche). Andererseits geht es darum, ob sie im Rahmen dieser Aktivitäten tatsächlich für klare Arbeitsaufträge, wirksame Anreize, notwendige Qualifizierung etc. sorgt, also dafür, dass alle Führungsaufgaben in Bezug auf jeden Mitarbeiter tatsächlich umgesetzt werden. Dies entspricht – um ein Vergleichsbeispiel zu bringen – dem Verkäufer, der Kundentermine vereinbart und ihnen Produkte vorstellt. Wenn Sie sich einen Eindruck davon verschaffen, ob Ihre Mitarbeitenden umfassendes Selbstmanagement betreiben (d. h. ob sie alle definierten Führungsaufgaben selbst übernehmen, sich z. B. die richtige Arbeit suchen und ihren Leistungsstand kennen) und bei Bedarf kompensatorisch eingreifen, ist das voller Einsatz. Wissen Ihre Mitarbeiter hingegen nicht, was sie zu tun oder wie sie ihre bisherigen Leistungen einzuschätzen haben, haben Sie diese Personalführungsaufgaben – und mit ihnen einen wichtigen Teil Ihrer Führungstätigkeit – vernachlässigt. Der zweite Leistungsaspekt, das Führungsverhalten, betrifft das Arbeits- und Sozialverhalten der Führungskraft. Dies beinhaltet vor allem ihren Umgang mit den übrigen Führungsakteuren sowie den Umgang mit den formalisierten Personalinstrumenten (Kapitel 4) im Sinne der Einhaltung der instrumentenbezogenen Vorgaben. Es geht hier also um die Erfüllung der organisationsspezifischen Verhaltensstandards. Wer sein Team zerstört, indem er die besten Mitarbeiter in die Eigenkündigung treibt, sollte nicht für sonstige Leistungen gefeiert werden. Der dritte Aspekt betrifft dann in der Tat die Führungsresultate. Hier geht es darum, ob die erzeugten Arbeitsleistungen und Personalkosten quantitativ und qualitativ die angestrebten Vorgaben erfüllen und die sonstigen Ziele erreicht werden (Kapitel 14). Ist dies der Fall, so bedeutet dies Führungserfolg. Sinnvoll ist es, bei diesen sonstigen Zielen gleich auch die prognostizierten Auswirkungen auf die dauerhaftstrukturelle Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen und die rein periodenbezogenen Ergebnisse damit zu relativieren. Wer ein bestimmtes Ergebnisziel erreicht, indem er übermäßigen Druck auf die Belegschaft ausübt, das Arbeitszeitgesetz bricht und wahllos irgendwelche Leute einstellt, dessen Personalführung mag kurzfristig erfolgreich sein. Sie schwächt aber dauerhaft die Personalstruktur und vernachlässigt Stakeholder sowie Rechtsnormen. Nach diesem Maßstab wäre dann die Personalführung insgesamt eben nicht erfolgreich. Auch dies entspricht genau dem Vertriebsbeispiel, wo es nicht nur ums Verkaufen geht, sondern auch darum, die Kundenbasis, Kaufbereitschaft und Weiterempfehlungsbereitschaft dauerhaft zu erhalten. Die ersten beiden Aspekte – Einsatz und Verhalten – lassen sich recht gut bei den beteiligten Führungsakteuren abfragen und damit messbar machen. Für den dritten Aspekt, die Ergebnisse, liegen in den meisten Unternehmen geeignete Kennzahlen vor oder lassen sich sonst recht problemlos generieren.

Führungsleistung umfasst Einsatz, Verhalten und Resultate.

XII In seinen Hochzeiten sollen die Harzer Akademie pro Jahr um die 30.000 Teilnehmer einschließlich vieler Vorstandsmitglieder durchlaufen haben. Das Modell wurde teilweise als starr und bürokratisch kritisiert, geriet aber vermutlich vor allem durch die NS-Vergangenheit seines Begründers in Verruf (o. V. 1989; Die Akademie für Führungskräfte 2018).

XIII Modelltheoretisch handelt es sich bei den vier Umsetzungselementen des Komplementären Führungsmodells eigentlich nur um inhaltliche Spezifikationen ausgewählter Führungsaufgaben in Bezug auf die Personalführungsarbeit als berufliche Tätigkeit. Da sie besonders erfolgsrelevant sind, werden sie im Modell aus rein pragmatischen Gründen gesondert herausgestellt (Kaehler 2020).

XIV Bundesarbeitsgericht 11.12.2003; 2 AZR 667/02

Führen als Beruf

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