Читать книгу Führen als Beruf - Boris Kaehler - Страница 9

Оглавление

1 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung

Das Konstrukt Management: Geführt wird nicht allein

Wer den Beruf der Führungskraft verstehen will, muss zunächst das Konstrukt Führung verstehen. Bücher über Führung füllen halbe Bibliotheken, und eine Internetrecherche mit diesem Suchbegriff ergibt unzählige Quellen. Bei der Lektüre wird freilich deutlich, wie unterschiedlich und unpräzise Führung allgemein beschrieben wird. Auch überrascht, wie viele Autoren und Experten es gar nicht erst für nötig erachten, den Gegenstand ihrer Ausführungen konkret zu definieren. Entsprechend viel Unsinn wird über Führung geschrieben – ohne klares Verständnis eines Konstrukts lassen sich eben auch keine überzeugenden Entwürfe dazu liefern.

Um die Sache aufzuklären, sollten wir uns zunächst mit dem Begriff „Management“ i. S. v. Unternehmensführung auseinandersetzen. Die etablierte Literatur erweist sich dabei leider als wenig hilfreich. In Lehrbüchern hat die Definition von Management nämlich fast immer zwei Komponenten: Die Erreichung von Organisationszielen mit Hilfe von Ressourcen und den darauf bezogenen Steuerungszyklus aus Planen, Organisieren, Beauftragen und Kontrollieren. Beides hilft nicht weiter. Die fünf Aufgabenkategorien, die übrigens 100 Jahre alt sind und auf Fayol (1916) zurückgehen, sind viel zu breit und generisch, um das Konzept Unternehmensführung zu beschreiben. Sie treffen auf das Kochen eines Eintopfes ebenso zu wie auf das Lernen von Schulstoff. Die Nutzung von Ressourcen wiederum ist nur ein Teil des tatsächlichen Geschäftsbetriebs. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Management eine steuernde Querschnittsfunktion darstellt (Abbildung 2). Zwei Punkte müssen unbedingt ergänzt werden, kommen aber in der Mainstream-Literatur nicht vor. Der erste Punkt ist, dass der Bezugspunkt dieses Management-Einflusses die Organisationseinheit sein muss (und nicht etwa die Führenden oder Geführten sind). Der zweite Punkt ist, dass Management von multiplen organisationalen Akteuren ausgeübt wird. Beides ist für die Führungspraxis sehr bedeutsam und wird in den folgenden Abschnitten noch genauer ausgeführt. Zusammenfassend ergibt sich die folgende, hinten in Teil IV noch einmal um ein wichtiges Element zu ergänzende Definition9: Führung i. S. v. Management (als Kurzform von engl. „corporate management“ = Unternehmensführung) ist ein von multiplen organisationalen Akteuren ausgeübter, an Personal- oder Sachaspekten ansetzender Steuerungseinfluss auf den markt-, produktions- und ressourcenbezogenen Geschäftsbetrieb in einer Organisation und ihren Einheiten zum Zweck der Erreichung der Ziele der Einheit. Führung und Leitung sind Synonyme.

Managen bedeutet, eine Organisationseinheit zu steuern.

Führung ist also niemals das Werk eines einzelnen Managers, sondern immer ein kollektiver Einfluss multipler Akteure10. Dies ergibt sich schon aus Tatsache, dass das Führen einer Einheit auch das Führen ihrer Untereinheiten beinhaltet und dass diese Untereinheiten i. d. R. weiteren Führungskräften unterstellt sind. Außerdem wird Management eben oft auch partizipativ praktiziert, was nichts anderes bedeutet, als dass neben der Führungskraft auch die Mitarbeiter mitentscheiden und in einem gewissen Maße Einfluss nehmen. Totale Fremdsteuerung ist schlechterdings unrealistisch, sodass Management als Konstrukt überhaupt nur Sinn ergibt, wenn dieser Steuerungseinfluss jedenfalls prinzipiell auch als Selbststeuerung ausgeübt werden kann. Führungseinfluss auf Organisationseinheiten üben zudem in fast allen größeren Organisationen auch Vertreter von Zentralabteilungen aus, z. B. Produkt- oder Personalspezialisten. Weitere Akteure kommen durch die sog. laterale Führung ins Spiel, also den Managementeinfluss Gleichgestellter. Die Führungskraft ist also Kapitän eines Bootes, bestimmt dessen Kurs und Betrieb aber nie ganz allein – das wäre weder möglich noch überhaupt praktikabel.

Führung ist immer ein kollektives Geschehen.

Führung einer Organisationseinheit

In aller Regel wird einer Führungskraft nicht ausschließlich Personal anvertraut, sondern die Verantwortung für eine ganze Einheit einschließlich ihrer Belegschaft. Dies kann eine Gesamtorganisation sein, eine Abteilung, ein Team oder (als kleinste Einheit) eine Stelle. In klassisch organisierten Unternehmen und Behörden werden diese Organisationseinheiten über Berichtslinien verbunden und einander auf diese Weise über- bzw. untergeordnet. Entscheidend dabei ist, dass die Einheiten ineinander verschachtelt werden, wie die berühmten Matrjoschka-Puppen, nur dass jede Figur mehrere kleinere Figuren statt einer einzigen enthält (Abbildung 1). Das mag sich selbstverständlich anhören, ist aber kein Standardwissen und wird in Lehrbüchern ebenso ignoriert wie in der Praxis. Zwar wird in Literatur und Praxis gern nach „Unternehmen führen“, „Teams führen“, „Mitarbeiter führen“ und „sich selbst führen“ unterschieden. Hierbei werden mit den vier Ebenen aber regelmäßig unterschiedliche Managementinhalte verbunden, was konzeptionell und praktisch in die Irre führt.

Richtig verstanden bedeutet das Konzept, dass das Führen einer Organisationseinheit immer auch das Führen aller Untereinheiten beinhaltet. Alles, was nur auf der übergeordneten Ebene geschieht, muss scheitern, wenn es nicht auch in alle untergeordneten Einheiten heruntergebrochen bzw. aus diesen heraus hochaggregiert wird. Themen wie Governance oder Kultur lassen sich nicht sinnvoll auf die Gesamtentität beschränken, wie es allzu häufig geschieht11. Der Vierklang „Unternehmen führen – Teams führen – Mitarbeiterstellen führen – die eigene Stelle führen“ ergibt also zumindest insofern Sinn, als er aufzeigt, welche Ebenen gleichzeitig zu managen sind.

Dieses System der verschachtelten Organisationseinheiten nennt man übrigens Hierarchie, und sie ist in größeren Organisationen unverzichtbar. Zwar predigen vermeintliche Experten seit Jahrzehnten ihre Abschaffung, meinen damit aber fast immer etwas völlig anderes, nämlich Statusgehabe und fehlende Mitsprache. Diejenigen, die wirklich die Hierarchie als solches abschaffen wollen, sagen selten klar, dass dieses die Gleichordnung aller Stellen bedeutet und andere, viel aufwendigere Koordinationsformen erfordert. Auch geht ihr Hauptvorwurf, die Hierarchie sei starr, innovationsfeindlich und vernetzungshinderlich, völlig fehl. Sie ist schließlich nichts weiter als ein Merkmal der sog. Aufbauorganisation und als solches nur eine sehr begrenzte Perspektive auf die Organisation insgesamt. Deren Flexibilisierung und Relativierung erfolgt ganz zwangsläufig durch ergänzende Organisationsmerkmale wie die Prozess- und Projektorganisation, persönliche und institutionelle Netzwerke, Festlegungen zur Entscheidungsverteilung, informelle Organisationsroutinen und organisationskulturelle Muster. Und diese sind nicht zu verwechseln mit den operativen Interaktionen der Organisationsmitglieder, die den eigentlichen Zweck und die Daseinsberechtigung des Unternehmens oder der Behörde bilden. Die Hierarchie steht als Konstrukt überhaupt nicht in Konkurrenz zu diesen Aspekten, sondern bietet ihnen den Rahmen. Die Suppe schmeckt aber nicht besser, wenn man sie ohne Teller serviert.

Die klassische Hierarchie bleibt ein sinnvolles Organisationsprinzip.

Was ist Personalführung?

Führung i.S.v. Unternehmensführung (Management) hatten wir eingangs als zielgerichtete Einflussnahme auf den Geschäftsbetrieb einer Organisationseinheit charakterisiert. Personalführung wird in Lehrbüchern und wissenschaftlichen Artikeln ganz ähnlich definiert: Mitarbeiterführung (engl. „leadership“ oder „people management“) ist zielbezogene Einflussnahme auf Menschen. So jedenfalls lautet der Kern fast aller Definitionen. Um diesen Kern werden dann je nach Quelle höchst unterschiedliche Aspekte herumgebaut, sodass vielfältige Varianten im Umlauf sind. Das wissenschaftliche Standardwerk „Führen und führen lassen“ listet 43 verschiedene Begriffsfassungen auf12. Unsere folgende Definition13 liegt ziemlich im Mainstream, kaum ein Experte dürfte widersprechen: Führung i. S. v. Personalführung ist ein von multiplen organisationalen Akteuren ausgeübter Steuerungseinfluss auf Menschen in einer Organisation und ihren Einheiten zum Zweck der Erreichung der Ziele der Einheit durch Erzeugung von Arbeitsleistungen und Erfüllung sonstiger Anforderungen. Diese nüchterne Zielorientierung mag manchen befremden, immerhin haben wir es hier mit unseren Mitmenschen zu tun. In der Tat ist die menschliche Perspektive eine berechtigte und wichtige, wir kommen in Kapitel 3 im Zusammenhang mit den ethischen Aspekten der Führung noch darauf zurück. Personalführung ist aber nun einmal von Nutzenerwägungen geprägh

Personalführung ist eine zielgerichtete Einflussnahme auf Mitarbeitende.

Seit etwa hundert Jahren macht man sich Gedanken über spezifische Konzepte organisationaler Führung. Schon Taylors „Scientific Management“ (1911) sowie Webers Ausführungen über Bürokratie und Charisma (1922) lassen sich so verstehen. Spätestens seit Roetlisberger (1939) und Lewin (1939) werden solche Ansätze auch empirisch untersucht14. Die Beschäftigung mit Führung als Einflussphänomen ist aber natürlich viel älter und war sicher schon Thema im alten Ägypten und antiken Griechenland, wenn nicht gar in den Höhlen der ersten Menschen. In den letzten Jahrzehnten ist eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte und Modelle entstanden, die alle zum Ziel haben, das Führen von Mitarbeitern in Organisationen zu beschreiben und zu optimieren. Ein detaillierter Überblick würde hier den Rahmen sprengen, Sie finden ihn anderswo15. Meine Erkenntnis bei der Sichtung aller verfügbaren Ansätze lässt sich so zusammenfassen, dass etliche Modelle interessante Ansatzpunkte bieten. Kein einziges aber beschreibt Führung auch nur ansatzweise so, dass Organisationen oder Führungskräfte daraus ein umfassendes und wirklich alltagstaugliches Führungsverständnis ableiten könnten. Aus diesem Grunde habe ich das Theoriemodell der Komplementären Führung entwickelt, das brauchbare Aspekte diverser anderer Ansätze aufgreift und mit weiteren Elementen zu einem integrativen Gesamtmodell neuer Art verknüpft.

Personal management als Medium der Unternehmensführung

Führungskräfte betreiben also sowohl Unternehmens- als auch Personalführung. Wie aber hängt das eine mit dem anderen zusammen? Einer erstaunlich populären und wohl zu Unrecht Mary Parker Follett zugeschriebenen Definition zufolge ist Management „the art of getting things done through people“ – also die Kunst, Dinge durch Menschen zu erledigen. Dies aber wäre nun höchst erstaunlich, denn es würde Management gleich Personalmanagement setzen. Das überzeugt nun wirklich nicht. Wenn aber Personalführung doch nur eine Teilmenge von Management ist, was bitte ist die Restmenge? Diese Frage wird in der Literatur nirgends sinnvoll beantwortet, und sie ist auch viel vertrackter, als sie auf den ersten Blick aussieht. Personaler sprechen traditionell von „Human Resources“VII. Personal ist aber keine gewöhnliche Ressource, sondern – wie Abbildung 2 verdeutlicht – ein Medium, das alle anderen betrieblichen Ressourcen und Funktionen steuert. Wenn ich es vortrage, erschließt sich dieses Argument manchen sofort, anderen hingegen gar nicht. „Finanzmittel werden ja auch überall gebraucht“, heißt es dann. Geld schießt aber, wie wir wissen, keine Tore16, und es erbringt auch keine Arbeitsleistungen in allen Bereichen des Geschäftsbetriebs. Das tun nur Menschen, und diesen Aspekt bringt „the art of getting things done through people“ immerhin gut zum Ausdruck. Aus diesem Grunde wird Personalmanagement in den meisten BWL-Lehrbüchern – anders als Produktion, Marketing, Finanzierung etc. – als Teil der Unternehmensführung auf geführt. Personalführung ist eben kein Teil des Geschäftsbetriebs, sondern Teil der Steuerungsfunktion (Abbildung 2).

Personal ist das Medium der operativen Betriebssteuerung.

Unter theoretischen Gesichtspunkten ergibt all dies freilich nur Sinn, wenn man das Prinzip der Selbstführung und der verschachtelten Organisationseinheiten verstanden hat. Ein Bauarbeiter, der die von ihm selbst ausgehobene Grube kontrolliert, betreibt damit Management seiner eigenen Stelle und damit seiner eigenen Ausführungsarbeit. Sein Vorarbeiter managt den Bautrupp, indem er diese Selbstführung seiner Mitarbeiter komplementär absichert. Nur so wird ein Schuh daraus, anders ist der Grundgedanke einer steuernden Querschnittsfunktion nicht aufrechtzuerhalten.

Allerdings ist damit die Frage nach der rein sachbezogenen Restmenge noch nicht beantwortet. Wir benötigen dafür weitere Managementprämissen, die in Abbildung 2 mit dem Dreiklang „konstitutiv – strategisch – operativ“ bereits angedeutet sind. Wir kommen aber erst in Teil IV darauf zurück. Dort wird auch auf die verbreitete Fehleinschätzung eingegangen, Personalführung sei eine Art neutraler Hygienefaktor, der zwar in allen Betrieben notwendig, aber auch ähnlich sei. Das Gegenteil ist der Fall: Personalführung ist einer der wesentlichen Wettbewerbs- und Qualitätshebel, denn sie beeinflusst nicht nur die Kostenstruktur, sondern auch die Ergebnisse einer Organisation massiv. An dieser Stelle soll zunächst die Feststellung ausreichen, dass es sich bei der Personalführung um eine Teilmenge der Gesamtaufgabe der Unternehmensführung handelt. Diese Teilaufgabe könnte freilich bedeutsamer nicht sein, denn die zu führenden Mitarbeiter betreiben schließlich das eigentliche Geschäft der geführten Organisationseinheit.

Zeitlos und kulturunabhängig – auch in der digitalen Transformation

Führung ist im Kern – aber auch nur im Kern – ein zeitloses und universelles Phänomen17. Die grundlegenden Vorteile der Selbststeuerung gegenüber direktiver Fremdbestimmung wurden z. B. schon vor mehr als 100 Jahren diskutiert. Wer behauptet, im Kontext moderner Arbeitswelten sei völlig anders zu führen als in traditionell organisierten Betrieben, liegt damit – wissentlich oder aus Unkenntnis – völlig daneben. Natürlich sieht Führung ganz anders aus, wenn unterschiedliche Menschen sie in unterschiedlichen Kontexten ausüben. Die sieben Elemente der Komplementären Führung lassen sich aber in allen Branchen, in Organisationen unterschiedlichster Größe und in fremden Kulturen umsetzen.

Komplementäre Führung ist zeitlos und kulturunabhängig.

Das ist erstens deswegen möglich, weil es Spielraum bei ihrer Ausgestaltung gibt. Sie lassen sich in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen, Erfordernissen und Gepflogenheiten anders gruppieren und benennen. So sollten Führungskräfte z. B. regelmäßige Arbeitsbesprechungen abhalten. In welchen Abständen diese stattfinden, ob andere Führungsaktivitäten daran gekoppelt sind und wie genau sie genannt werden, ist hingegen eine andere Sache. Solche Ausgestaltungsvarianten muss man im jeweiligen Unternehmen festlegen, es braucht dafür keine allgemeinen Empfehlungen. Zum zweiten, in der Einleitung war schon die Rede davon, darf man nicht anfangen, die situative und persönliche Umsetzung von Führungselementen zu standardisieren. Diese ist kultur-, personen- und kontextabhängig, und als Führungskraft müssen Sie mit schüchternen Intellektuellen im Video-Chat Berlin-Dubai anders umgehen als mit aufsässigen Vorarbeitern bei Betriebsversammlungen in Wuppertal. Ohnehin führt jeder und jede unterschiedlich, was an unseren verschiedenen Persönlichkeiten, Erfahrungen und Rahmenbedingungen liegt. Auch ist der Umgangston auf dem Bau rauer als in einer Privatbank und dort anders als in einem Start-up. Solche Variabilität betrifft aber nicht den Kern von Führung, sondern nur, wie diese praktiziert und gelebt wird. Dass vieles allgemeingültig ist, sich eine situative und persönliche Standardisierung aber verbietet, wurde ja in der Einleitung deutlich.

Viele Führungsprinzipien sind universell, ihre Anwendung ist es nicht.

Natürlich hat aber auch über den Kern von Führung nicht jeder die gleichen Vorstellungen, und es gibt Unternehmens- und Landeskulturen, die mit den Prinzipien der Komplementären Führung nichts anfangen können. Diese sind zwar überall anwendbar, aber nicht mit allem und allen kompatibel. Ein Team oder eine Organisation mit einer differierenden Kultur kann man sanft auf andere Bahnen lenken. Ist hingegen die gesamte Landeskultur so geprägt, wird man es schwer haben und bestenfalls eine Insel andersartiger Organisationsprinzipien schaffen. So wird Führung z. B. in vielen osteuropäischen und asiatischen Regionen als direktive Fremdbestimmung und Entscheidungszentralisation verstanden. Ein weiteres Beispiel ist die US-amerikanische Führungsphilosophie, die traditionell auch die hiesige Führungsliteratur dominiert. Sie ist durch starkes Pathos, christlich-fundamentale Werte, Glauben an Vision und Inspiration, harte Resultatorientierung und eher rudimentäre arbeitsrechtliche Vorgaben geprägt. Anhänger dieser kulturellen Denkrichtungen werden mein Buch mit Skepsis lesen. Das Komplementäre Führungsmodell kommt ja eher nüchternsäkularisiert daher, betont den Wert der Selbststeuerung, aber auch der klassische Positionsmacht, und bildet die Wertentscheidungen des deutschen und europäischen Arbeitsrechts sowie der sozialen Marktwirtschaft ab. Es handelt sich also gewissermaßen um eine europäische Führungsphilosophie. Man muss auch immer schauen, welche Ziele mit Führung verbunden werden. Das betriebswirtschaftliche Ideal einer nachhaltigen Maximierung der Arbeitsleistungen und Stakeholder-Bedürfnisse wird sicher nicht von allen Organisationen und Führenden geteilt, und muss es ja auch nicht. Wenn aber gar nicht die Resultate, sondern z. B. die Versorgung von Positionsinhabern das Führungssystem legitimieren und prägen, bevorzugt man auch andere Konzepte. Grundsätzlich aber gilt: Komplementäre Führung ist in allen Branchen, zu allen Zeiten und in allen Ländern anwendbar, und zwar so, wie die Branche, die Zeit und das Land es erfordern.

Komplementäre Führung lässt sich als europäischer Gegenentwurf verstehen.

Apropos Zeit: Leben wir neuerdings wirklich, wie uns vermeintliche Expertinnen und Experten ständig versichern, in einer VUCA-Welt? Sind Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität tatsächlich so viel größer als früher? Natürlich bringt die digitale Transformation große Veränderungen der Wirtschaft und des Arbeitslebens mit sich. Ob diese Änderungen freilich so viel dramatischer sind als z. B. jene, die in vergangenen Epochen mit Kriegswirtschaft, Weltwirtschaftskrisen und Globalisierung einhergingen, lässt sich bezweifeln. Mehr als seine Kunden, sein Unternehmen und seinen Job kann man im Wirtschaftsleben nicht verlieren, und die jeweiligen historischen Gründe dafür dürften den Betroffenen herzlich egal sein. Natürlich geht die digitale Transformation – wie alle gesellschaftlichen Umwälzungen zuvor – mit besonderen Anforderungen einher. Neue Führungssysteme braucht man dafür allerdings nicht. Um sich für die neue Wirtschaftswelt zu rüsten, müssen Organisationen sich wettbewerbsfähig aufstellen, effizient und effektiv arbeiten, Absatz-, Produktions- und Ressourcenprozesse im Griff haben und Innovation, Kundennähe und Selbststeuerung zum Prinzip erheben. Nichts davon ist neu, alle wesentlichen Aspekte wurden in 100 Jahren Managementgeschichte eingehend thematisiert. Die Tatsache, dass viele Unternehmen, Behörden und Vereine sich mit den erforderlichen Umstellungen schwertun, hat wenig mit Technologie- und Wertewandel zu tun und viel mit Ignoranz gegenüber evidenten Grundsätzen der wirtschaftlichen Betriebsführung. Feedbackschleifen und Kreativität sind keine Erfindung des neuen Millenniums. Die Digitalisierung bewältigen auch nicht die am besten, die die meisten „Design Thinking“-Workshops veranstalten, Agile Coaches beschäftigen oder Hängeschaukeln aufhängen. Digitale Transformation erfordert kein wildes Herumexperimentieren, sondern durchdachte Managementstrukturen.

Die Digitalisierung erfordert gute Führung, keine neue.

Von Irrlichtern, Moden und Worthülsen – Konzepte, die Sie nicht weiterbringen

Leider gibt es auf dem Marktplatz der Ideen auch sonst sehr viel ausgemachten Unsinn. Auf wenigen Gebieten wird so viel Pseudowissen verbreitet wie auf dem der Führung. Eine Generalabrechnung will ich Ihnen ersparen, aber einige Irrlehren müssen Sie kennen, um nicht vom nächsten Bestseller oder Managementtraining gleich wieder aus der Verständnisbahn geworfen zu werden. Diese haben nämlich die unerfreuliche Tendenz, die ewig gleichen Säue durchs Dorf zu treiben, sie aber immer hübsch neu zu verkleiden. Wer dies nicht durchschaut, fühlt sich schnell wie ein Ignorant, ganz wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Eine bewusst pointierte Verkürzung aus meiner Sicht wenig brauchbarer Führungslehren bietet Tabelle 1. Nicht überall ist der Kaiser splitternackt, aber so prächtig, wie man uns einreden will, kleiden ihn seine Unterhosen auch nicht.

Besonders glattes Terrain betritt der Laie dort, wo von „Leadership“ die Rede ist. Zwar handelt es sich zunächst einmal nur um die wörtliche Übersetzung von Führung, mithin im Deutschen einen synonymen Anglizismus. Das Problem besteht indes darin, dass in beiden Sprachen auch das Wort „Management“ existiert, was dazu einlädt, sie mit unterschiedlichen Bedeutungen zu benutzen. Dabei wird dann Management gern als ein verwalterisches Führen verstanden, im Gegensatz zu Leadership als visionärem/begeisternden Führen18. Meist sollen Führungskräfte beides könnenVIII. Das überzeugt nicht, da es dem allgemeinen Sprachgebrauch der Führungswissenschaft und - praxis widerspricht, wo beide Termini ständig synonym oder jedenfalls mit großen Schnittmengen benutzt werden. Das Ganze entspricht dem Versuch eines Marmeladenfreundes, Orangen als unansehnliche Saftgeber und Apfelsinen als knackige Fruchtstückchen darzustellen. Mein Rat: Vergessen Sie es und betrachten Sie Führung, Management und Leadership als Synonyme.

Leadership vs. Management ist eine unsinnige Differenzierung.

Apropos Begriffshuberei: Der prototypische Führungsautor und - trainer scheint nicht ohne Akronyme, Wortspiele und Metaphern auszukommen. Auch pseudo-wissenschaftliche Vierfelder-Schemata dürfen nicht fehlen, wobei diese bei näherem Hinsehen fast immer reinen Unsinn enthalten (die meisten Sachverhalte haben sehr viele Dimensionen und lassen sich im Zweiachsendiagramm schlicht nicht darstellen). Abbildung 3 zeugt davon, wie plausibel reiner Stuss klingen kann, wenn er uns in ansprechender Form dargeboten wird. Ignorieren Sie solchen Budenzauber einfach und konzentrieren Sie sich darauf, ob irgendwelche umsetzungsrelevanten Erkenntnisse mitgeliefert werden. Und wo man Sie davon überzeugen will, auf evidenzbasierte Konzepte zu setzen, werden Sie erst recht misstrauisch. Trotz vieler Jahrzehnte weltweiter universitärer Forschung liegen leider sehr, sehr wenige praktisch brauchbare Resultate vorIX.

Schauen sie sich einfach kritisch an, welche Evidenz genau herangezogen wird, und Sie werden fast immer enttäuscht sein. Vorsicht auch mit Studien von Beratungshäusern, die zu Marketingzwecken in Presse und sozialen Medien lanciert werden. Sie täuschen oft wissenschaftliche Erkenntnisse vor, sind methodisch aber i. d. R. ungenügend und bestehen meist zur Hälfte aus Worthülsen. Überhaupt wird viel geschwurbelt in der Führungsszene. Visionen und Inspiration verbreiten, Wandel anstoßen, Vertrauen aufbauen, Resultate erzielen, Loben, mitreden lassen, Vorbild sein – so wird uns Führung allenthalben vermittelt. Ein echtes Berufsverständnis entsteht aus solchen Versatzstücken aber nicht. Jede dieser Phrasen ist gleichzeitig richtig und falsch, wir knöpfen sie uns in diesem Buch noch einzeln vor. Auch käme niemand auf die Idee, den Beruf des Bäckers auf ein paar Schlagworte, pathetische Apelle und Binsenweisheiten zu reduzieren. Das Gute ist: All dies erschließt sich kritischem Denken; man muss die vermeintlichen Einsichten nur hinterfragen und mit eigenen beruflichen Erfahrungen abgleichen.

Wortspiele und simple Schemata erklären keinen Beruf.

Bevor es konstruktiver wird, muss an dieser Stelle noch kurz auf einen Parade-Irrweg eingegangen werden, und zwar die Verwechslung von organisationaler Personalführung und politischer Führung i. S. v. Anführertum. Insbesondere die US-amerikanische Leadership-LiteraturX hängt einem Führungsverständnis an, das der politischen Sphäre und anderen unstrukturierten Kontexten entlehnt ist. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Richtungsentscheidungen, der Erringung eines Führungsmandats und dem Erreichen von Zustimmung. Visionen und Ziele dienen hier als Mittel zum Aufbau personeller Gefolgschaft, und personelle Gefolgschaft dient als Mittel zur Bindung an die Ziele. Mit organisationaler Führung hat das alles nur am Rande zu tun. Dort liegt der Schwerpunkt auf Erzeugung von Arbeitsleistungen mit begrenzten Ressourcen im Kontext spezieller Aufbau- und Prozessstrukturen und rechtlicher Vorgaben. Die Geführten sind vertraglich gebunden und eine maximale Bindung an Führungspersonen ist aus Organisationssicht überhaupt nicht wünschenswert (z. B. wg. möglicher Abwanderung und kollektiver Verfehlungen). Aus ebendiesem Grunde sollten Sie sich als Führungskraft nicht übermäßig an Abraham Lincoln, Nelson Mandela oder Ernest Shackleton orientieren, deren historisches Wirken mit Ihrem eigenen Führungsjob herzlich wenig zu tun hat.

Personalführung ist kein Anführertum.

„One HR“: Die Einheit von Mitarbeiterführung und Personalmanagement

Zwischen Mitarbeiterführung und Personalmanagement wird traditionellerweise strikt unterschieden. Erstere, so wird angenommen, sei Aufgabe der Führungskraft, letztere hingegen Aufgabe der Personalabteilungen. Dieses Verständnis ist fatal. Zum einen ist es schlicht unmöglich, Personalmanagement in Gänze oder auch nur überwiegend zentral zu betreiben. Personalspezialisten wirken zumeist mittelbar, nämlich über die Führungskräfte als dezentrale Verteiler. Es gibt zwar auch direkte Interventionen und Selbstbedienungssysteme (engl. „employee self-services“). Im Regelfall aber sind Maßnahmen und Instrumente der Personalabteilungen an Führungskräfte adressiert, die diese dann in Richtung der Mitarbeiter umschlagen. „Jede Führungskraft ist ein Personalmanager.“19. Umgekehrt verhält es sich genauso: Führungskräfte betreiben Mitarbeiterführung in der Regel nicht allein, sondern werden durch Personalspezialisten orientiert, unterstützt und kontrolliert. Natürlich gibt es Organisationen, die gar keine Personalabteilung unterhalten; in Kleinstunternehmen ist dies sogar die Regel. Fast immer aber wird hier auf externe Hilfe zurückgegriffen, um z. B. Gehaltsabrechnungen oder Arbeitszeugnisse zu bewerkstelligen.

All dies verdeutlicht: Mitarbeiterführung und Personalmanagement bilden keine getrennten Sphären, sondern sind ein und dasselbe. Führungskräfte und HR-Abteilungen arbeiten nicht unabhängig voneinander, sondern erfüllen ein gemeinsames Mandat, das in der zielgerichteten Beeinflussung der Mitarbeiter besteht. Natürlich gehen sie dabei arbeitsteilig vor und spezialisieren sich auf bestimmte Aspekte. Diese Aufteilung ist aber umfeldabhängig. So sind in manchen Unternehmen Führungskräfte für Bewerbungs- und Kündigungsgespräche zuständig, in anderen die Personalspezialisten, in wieder anderen beide gemeinsam. In jedem Falle ist es ein und dasselbe Geschehen, an dem sie als Akteure mitwirken – sei es koordiniert oder planlos, harmonisch oder konfliktär. Das Schlagwort „One HR“ wird oft genutzt, um die Einheit zergliederter Personalabteilungen zu beschwören. Eigentlich aber müsste es für die Einheit von Führung und Personalmanagement stehen. Der ebenso schöne wie gebräuchliche Begriff der Personalführung beinhaltet beides und bringt den wichtigen Grundsatz damit gut zum AusdruckXI.

Als Führungskraft betreiben Sie Personalmanagement.

VII Zur Gleichsetzung von Menschen und Ressourcen siehe Kapitel 3 („Ethische und rechtliche Aspekte des Führens“).

VIII Eine besonders schräge Variante halten Bennis/Nanus bereit (1985, S. 28 f.): Leadership sei gleich Effektivität, Management gleich Effizienz. Da jedwede Tätigkeit natürlich beide Aspekte aufweist, sagt die anhaltende Popularität dieser These viel über das Reflexionsniveau unserer Führungsdebatten aus.

IX Meiner Meinung nach liegt dies an der unzureichenden theoretischen Fundierung, extremen Mikrofokussierung und ausgeprägten Praxisferne der empirischen Führungsforschung und ist natürlich ein Armutszeugnis für uns Wissenschaftler.

X Zur US-amerikanischen Führungsliteratur ist anzumerken, dass sie weltweit stilprägend wirkt. Europäische Personalmanagement- und Führungskonzepte gibt es praktisch nicht, Trends aus den USA werden in der Regel 1: 1 übernommen.

XI Der Begriff findet sich z. B. auch im Namen der Deutsche Gesellschaft für Personalführung (DGFP), einer der Fachorganisationen für Personalmanagement im deutschsprachige Raum.

Führen als Beruf

Подняться наверх