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Zweites Kapitel Jonathan Harkers Tagebuch
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5. Mai. – Ich muss zwischendurch doch eingeschlafen sein, denn wäre ich hellwach gewesen, hätte ich ja wohl wahrgenommen, dass wir uns einem so markanten Gebäude näherten. Im Finstern schien der Schlosshof beträchtliche Ausmaße zu besitzen; vielleicht ließ ihn aber auch die Tatsache, dass mehrere Durchfahrten unter mächtigen Torbögen von ihm abzweigten, größer wirken, als er tatsächlich ist. Ich habe ihn bisher noch nicht bei Tageslicht gesehen.
Kaum hatte die Kalesche gehalten, sprang der Kutscher ab und streckte mir seine Hand entgegen, um mir beim Aussteigen zu helfen. Wieder gewahrte ich, über welch ungeheure Kraft er verfügte. Seine Hand fühlte sich buchstäblich an wie ein stählerner Schraubstock, in dem er meine, wäre ihm danach gewesen, ohne weiteres hätte zerdrücken können. Er lud meine Koffer aus und stellte sie neben mich auf den Boden. Dicht vor mir erhob sich eine schwere, alte Tür, beschlagen mit mächtigen Eisennägeln und eingelassen in einen überkragenden Bogen aus massivem Stein. Trotz des fahlen Lichts erkannte ich, dass die Mauern im Hof üppig behauen waren, ebenso aber, dass Zeit und Wetter den Figuren und Ornamenten schon arg zugesetzt hatten. Während ich dastand, schwang sich der Fahrer wieder auf seinen Bock und griff die Zügel. Die Pferde zogen an, und Mann, Ross und Wagen verschwanden in einem der dunklen Torwege.
Schweigend blieb ich stehen, wo ich war, denn ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Nirgends konnte ich eine Glocke oder einen Türklopfer entdecken; und meine Stimme würde kaum durch diese drohenden Mauern und dunklen Fenster dringen. Die Zeit des Wartens schien mir endlos, und ich fühlte, wie Zweifel und Ängste mich beschlichen. Wohin war ich geraten, und unter was für Leute? Auf was für ein grausiges Abenteuer hatte ich mich da eingelassen? Man hatte mich losgeschickt, einem Fremden, der ein Londoner Grundstück erwerben wollte, ein geeignetes Objekt zu erläutern – nicht unüblich in meinem Metier. Aber lag das hier noch im Rahmen der normalen Tätigkeiten eines Anwaltsgehilfen? Oha, eben hätte mir Mina wohl einen Verweis erteilt, weil ich mich selber kleinmache. Nicht ›Anwaltsgehilfe‹ – ›Anwalt‹! Kurz bevor ich London verließ, erhielt ich nämlich die Nachricht, dass ich mein Examen bestanden habe; ich bin also jetzt ein richtiger Anwalt. Ich rieb mir die Augen und zwickte mich, um festzustellen, ob ich wach war. Mir kam dies alles vor wie ein grässlicher Albtraum; so etwas befällt mich gelegentlich, wenn ich tagsüber zu viel arbeite. Gleich würde ich, so meine Vermutung, daheim aufwachen und das Morgendämmerlicht durch die Fenster hereinsickern sehen. Aber meine Haut spürte das Zwicken. Ich war also wach und befand mich tatsächlich in den Karpaten. Jetzt konnte ich mich nur noch in Geduld fassen und den Morgen abwarten.
Kaum war ich zu diesem Schluss gelangt, hörte ich von jenseits des gewaltigen Tores einen schweren Schritt. Er kam näher, desgleichen ein Licht, dessen Schein ich durch die Ritzen sah. Dann klirrten Ketten, und massive Riegel wurden zurückgeschoben, dass es nur so schnarrte und klackte. Ein Schlüssel drehte sich laut quietschend im offenbar selten benutzten Schloss, und das mächtige Tor schwang auf.
Im Eingang stand ein hochgewachsener alter Mann, schwarz gekleidet von Kopf bis Fuß, nicht den kleinsten Tupfer einer anderen Farbe an seinem Gewand. Er trug einen langen weißen Schnurrbart, sonst war er glatt rasiert. In der Hand hielt er eine altertümliche silberne Lampe. Die Flamme, die auf ihr brannte – ohne Zylinder oder Kugel, also ohne jeden Glasschutz –, warf in der Zugluft des offenen Tores gedehnte, zitternde Schatten. Mit einer höflichen Geste seiner rechten Hand bat mich der alte Mann hinein und sagte dabei in vortrefflichem Englisch, bei dem nur der starke Akzent den Fremdling verriet: »Willkommen in meinem Hause! Treten Sie aus freien Stücken und aus eigenem Antrieb ein!«
Er kam mir nicht einen Schritt entgegen, sondern verharrte starr wie eine Statue, als hätte seine Willkommensgeste ihn versteinert. Kaum aber war ich über der Schwelle, trat er schwungvoll auf mich zu, streckte seine Hand aus und packte meine mit einer Kraft, die mich zusammenzucken ließ in einem Erschrecken, das auch nicht durch die Tatsache gemildert wurde, dass sich seine Hand eiskalt anfühlte, mehr wie die Hand eines Toten als eines Lebendigen. Wieder sagte er: »Willkommen in meinem Hause! Treten Sie frei herein, kehren Sie sicher heim, und lassen Sie ein wenig von der Freude hier, welche Sie bringen!« Die Heftigkeit des Händedrucks erinnerte mich dermaßen an den eisernen Klammergriff des Kutschers – dessen Gesicht ich ja nicht gesehen hatte –, dass ich einen Moment glaubte, der Fahrer und der Herr, zu dem ich jetzt sprach, sei ein und dieselbe Person. Um sicherzugehen, fragte ich also: »Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und erwiderte: »Ich bin Dracula und heiße Sie willkommen in meinem Hause, Mr. Harker. Treten Sie näher; die Nachtluft ist kühl, und Sie sind gewiss hungrig und müde.«
Während er dies sprach, setzte er die Lampe auf eine Konsole an der Wand, ging nach draußen und holte mein Gepäck. Ehe ich ihn zu hindern vermochte, hatte er es schon hereingetragen. Ich wand ein, das könne ich doch selber tun, doch er insistierte: »Nein, Sir, Sie sind mein Gast. Es ist spät, und meine Dienstboten sind nicht mehr verfügbar. Lassen Sie mich getrost selbst für Ihre Bequemlichkeit sorgen.« Kein Protest half; er schleppte tatsächlich meine Koffer durch den Gang, dann eine breite Wendeltreppe hoch, schließlich durch einen langen Korridor, dessen Steinfußboden unsere Schritte besonders laut widerhallen ließ. Am Ende des Ganges stieß er eine schwere Tür auf, und ein erfreulicher Anblick bot sich: ein hell erleuchteter Raum, darin ein gedeckter Esstisch und ein mächtiger Kamin, in dem ein Feuer über frisch aufgelegten Holzscheiten flammte und flackerte.
Der Graf blieb stehen, setzte mein Gepäck ab und schloss die Tür. Dann schritt er durch den Raum und öffnete eine zweite Tür. Dahinter lag ein kleiner achteckiger Raum, in dem nur eine Lampe brannte und der offenbar keinerlei Fenster besaß. Wir ließen auch diesen hinter uns, der Graf öffnete eine weitere Tür und hieß mich eintreten. Wieder ein willkommener Anblick: ein großes Schlafzimmer, ebenfalls hell erleuchtet und warm beheizt von einem Kaminfeuer. Auch hier hatte man das Holz erst vor kurzem gerichtet, denn die obersten Scheite brannten noch nicht. Dumpf dröhnte das Geprassel in dem weiten Rauchfang wider. Der Graf trug erneut persönlich mein Gepäck hinterher und zog sich dann zurück, sagte aber noch, eher er die Tür schloss: »Sie hatten eine anstrengende Reise; da werden Sie sich frischmachen und umziehen wollen. Ich bin sicher, Sie finden hier alles nach Wunsch. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie in das andere Zimmer; dort erwartet Sie Ihr Abendessen.«
Das Licht, die Wärme und der höfliche Willkommensgruß des Grafen zerstreuten fürs erste all meine Zweifel und Ängste. Nachdem ich meine normale Geistes- und Seelenverfassung wiedererlangt hatte, fühlte ich mich plötzlich halbtot vor Hunger. Ich beeilte mich also mit meiner Toilette und ging rasch hinüber ins andere Zimmer.
Das Souper war, wie ich bemerkte, schon aufgetragen. Mein Gastgeber stand neben der großen Feuerstelle, ans Gesims gelehnt, und wies verbindlich zum Tisch hin: »Ich bitte Sie, nehmen Sie doch Platz und essen Sie nach Herzenslust. Sie entschuldigen hoffentlich, dass ich nicht mithalte. Aber diniert habe ich bereits, und soupieren bin ich nicht gewohnt.«
Mir fiel der Brief ein, den Mr. Hawkins mir für Graf Dracula mitgegeben hatte. Ich überreichte ihm das versiegelte Schreiben. Er öffnete es und las die Zeilen ernst und aufmerksam. Dann lächelte er charmant und reichte mir das Blatt. Nun las auch ich, was mein Chef zu Papier gebracht hatte. Eine Stelle begeisterte mich besonders:
»Gern hätte ich mich selbst zu Ihnen verfügt, wäre da nicht meine Arthritis – ein Übel, das mir ja schon ewig zu schaffen macht. Eine neuerliche Gichtattacke verbietet mir leider für die nächste Zeit jeden Gedanken an eine Reise. Zum Glück aber kann ich Ihnen einen gleichwertigen Vertreter senden, der mein absolutes Vertrauen besitzt. Er ist ein junger Mann, energisch, einzigartig talentiert und von seinem ganzen Wesen her gewissenhaft und loyal. Auch Diskretion und Verschwiegenheit kennzeichnen ihn, wie ich aus jahrelanger Erfahrung weiß: er ist in meinen Diensten zur Mannesreife erwachsen. Er wird Sie während seines Aufenthaltes in jeder Hinsicht beraten und all Ihre Anweisungen entgegennehmen.«
Der Graf trat selbst zum Tisch und hob den Deckel einer Schüssel. Darunter lag ein prächtiges Brathuhn. Sofort machte ich mich darüber her, desgleichen über die anderen Sachen, die zusammen mit dem Geflügel mein Abendessen bildeten: etwas Käse, ein Salat und eine Flasche alten Tokaiers, von dem ich zwei Glas trank. Während ich speiste, stellte mir der Graf eine Menge Fragen zu meiner Reise, und ich erzählte ihm der Reihe nach all meine Erlebnisse.
Schließlich hatte ich fertiggegessen. Mein Gastgeber bat mich, mir einen Stuhl zu holen und mich vor das Feuer zu setzen. Er bot mir eine Zigarre an, und ich rauchte sie. Nein, er selbst rauche nicht, entschuldigte er sich. Nun hatte ich Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten, und fand, dass er ein mehr als markantes Äußeres besitzt.
Das Gesicht: adlerähnlich, sehr sogar, nicht zuletzt dank einer kräftigen Nase mit scharf gebogenem Rücken und seltsam geschwungenen Nüstern. Die Stirn hoch und gewölbt; das Haar an den Schläfen dünn, sonst aber voll. Die sehr dichten Augenbrauen wachsen über der Nasenwurzel fast zusammen und scheinen sich vor lauter Buschigkeit zu kräuseln. Der Mund – soweit unter dem mächtigen Schnurrbart sichtbar – starr und von beinahe grausamem Ausdruck; die weißen Zähne wirken scharf und ragen über die Lippen, deren bemerkenswerte Röte eine erstaunliche Lebenskraft für einen Mann seines Alters bekunden. Die Ohren dagegen farblos und oben extrem spitz; das Kinn breit und kräftig; die Wangen fest, aber mit wenig Fleisch bedeckt. Die Haut ganz allgemein außerordentlich blass.
Von seinen Händen, die auf seinen Knien lagen, hatte ich bisher nur die Rückseiten wahrgenommen. Im Widerschein des Feuers waren sie mir recht weiß und feingliedrig vorgekommen. Jetzt aber, da ich sie aus der Nähe beschaute, musste ich feststellen, dass sie eher grob waren, mit breiten, platten Fingern. Seltsamerweise wuchsen ihm auch auf den Handinnenflächen Haare. Die Nägel waren lang und schmal und spitz zugefeilt. Als sich der Graf einmal zu mir herbeugte und seine Hände mich berührten, schauderte es mich unwillkürlich. Vielleicht hatte er auch unreinen Atem; jedenfalls durchlief mich eine Welle von Übelkeit, die ich trotz aller Mühe nicht verbergen konnte. Der Graf merkte dies offenbar und fuhr zurück. Mit einem grimmigen Lächeln, das seine vorstehenden Zähne zeigte, setzte er sich wieder auf die andere Seite des Kamins. Dann blieben wir eine Weile stumm. Als ich zum Fenster sah, entdeckte ich den ersten schwachen Streifen des aufkommenden Tages. Eine sonderbare Stille lag über alldem. Plötzlich aber vernahm ich etwas: Tief im Talesgrund heulten Wölfe, eine ganze Horde. Mit funkelnden Augen sagte der Graf: »Hören Sie nur – die Kinder der Nacht! Was für eine Musik sie machen!«
Ich muss daraufhin ziemlich befremdet dreingeblickt haben, denn er fügte hinzu: »Tja, Sir, ihr Stadtfräcke begreift eben nicht, wie ein Jäger fühlt.« Dann stand er auf und meinte: »So. Sie werden müde sein. In Ihrem Gemach ist alles bereit. Morgen können Sie schlafen, solange es Ihnen beliebt. Ich habe bis zum Abend auswärts zu tun. Also, schlafen Sie gut, und träumen Sie wohl!« Mit einer höflichen Verbeugung öffnete er mir die Tür zu dem achteckigen Raum, und ich betrat mein Schlafzimmer.
Ich schwimme in einer Flut von Rätseln. Ich hege Zweifel. Ich habe Angst. Ich denke seltsame Dinge, die ich meiner eigenen Seele nicht einzugestehen wage. Gott schütze mich, und sei es nur um derer willen, die mir teuer sind!
7. Mai. – Es ist wieder früher Morgen. Aber zumindest habe ich die letzten vierundzwanzig Stunden geruhsam verbracht und es mir wohl sein lassen. Ich schlief spät in den Tag hinein und erwachte von selbst. Schließlich zog ich mich an, ging hinüber in den Raum, wo ich soupiert hatte, und fand dort ein kaltes Frühstück vor; der Kaffee war jedoch noch warm, da er auf einer heißen Herdplatte stand. Neben dem Geschirr lag eine Karte mit folgenden Worten: »Ich bin leider noch eine Weile verhindert. Warten Sie nicht auf mich. D.«
So setzte ich mich hin und ließ mir das herzhafte Frühstück munden. Als ich fertig war, wollte ich klingeln, um der Dienerschaft mitzuteilen, dass sie abräumen konnte; ich fand jedoch keine Glocke. Wieder eine jener merkwürdigen Unzulänglichkeiten in diesem Haus hier, das sonst so viele Anzeichen beträchtlichen Reichtums aufweist, schon bei den Dingen, die mich unmittelbar umgeben. Das Tafelgeschirr etwa ist aus Gold und so wunderbar geschmiedet, dass sein Wert unermesslich sein muss. Für die Vorhänge an den Fenstern und an meinem Bett, ebenso für die Bezüge der Stühle und der Sofas wurden nur die kostbarsten und schönsten Materialien verwendet; sie müssen schon damals, zur Zeit ihrer Herstellung, einen immensen Wert besessen haben. Damals – denn sie sind jahrhundertealt, jedoch exzellent erhalten. Zwar habe ich solche Stoffe auch in Hampton Court gesehen; die zeigten sich aber zerschlissen, ausgefranst und mottenzerfressen. In keinem der Zimmer befindet sich jedoch ein Spiegel. Sogar an meinem Waschtisch fehlt der übliche Toilettenspiegel. Ich musste erst meinen kleinen Rasierspiegel aus der Reisetasche holen, sonst hätte ich mir gar nicht den Bart scheren oder mich kämmen können. Des weiteren habe ich bisher nirgends einen Diener erblickt. Und zu hören ist auch fast nichts, außer dem Heulen der Wölfe. Nach Beendigung meiner Mahlzeit – ich weiß nicht, ob ich sie Frühstück oder eher Vesper nennen soll, denn als ich sie einnahm, war es so fünf, sechs Uhr – schaute ich, ob ich nicht irgendwo etwas zum Lesen fand. Eigentlich wollte ich ja nicht ohne die Erlaubnis des Grafen im Schloss herumspazieren. Aber in meinem Zimmer war nichts dergleichen vorhanden, kein Buch, keine Zeitung, nicht einmal Schreibzeug. Also öffnete ich eine Tür, die von meinem Gemach ausging, und stand in einer Art Bibliothek. Gegenüber dem Eingang zu meinem Zimmer gab es ebenfalls eine Tür; die jedoch war, wie sich herausstellte, verschlossen.
In der Bibliothek fand ich zu meiner großen Freude jede Menge englischer Bücher, ganze Regale voll, daneben gebundene Jahrgänge englischer Zeitungen und Zeitschriften; zusätzlich lagen lose Exemplare auf einem Tisch in der Mitte des Raumes – keines war freilich neueren Datums. Die Bücher behandelten vielerlei Gebiete – Geschichte, Geographie, Politik, Nationalökonomie, Botanik, Geologie, Rechtspflege; alle jedoch bezogen sich auf England, englisches Leben, englische Sitten und Gebräuche. Vertreten waren auch praktische Nachschlagewerke wie das Londoner Branchenverzeichnis, das Rote Buch – der Hof- und Adelskalender, das Blaue Buch – die jährliche Sammlung regierungsamtlicher Texte –, das beliebte universelle Jahrbuch Whitaker’s Almanac, die Armee- und Marinelisten sowie – hier lachte mir natürlich das Herz – das Rechtsanwaltsregister.
Während ich so in den Büchern herumstöberte, öffnete sich die Tür, und der Graf trat ein. Er begrüßte mich herzlich, erkundigte sich, wie ich geschlafen hätte – gut, hoffentlich – und fuhr dann fort: »Freut mich, dass Sie von allein in meine Bibliothek gefunden haben. Ich habe da nämlich einiges, das Sie bestimmt interessiert. Diese Gefährten hier« – er strich mit der Hand über ein paar Bücher – »sind mir gute Freunde geworden. Sie haben mir, seit ich vor Jahren den Entschluss fasste, nach London zu gehen, schon viele, viele angenehme Stunden geschenkt. Durch sie habe ich Ihr stolzes England kennengelernt, und es zu kennen heißt es zu lieben. Ich möchte so gern durch die belebten Straßen Ihres gewaltigen London gehen, mitten im Trubel und Treiben der Menschen dort sein, teilhaben an ihrem Leben, ihrem Wandel, ihrem Sterben, eben an allem, was London zu dem macht, was es ist. Bedauerlicherweise jedoch kenne ich Ihre Sprache bisher nur aus Büchern. Sie können mir vielleicht helfen, dass ich sie sprechen lerne.«
»Aber Graf«, hielt ich dagegen, »Sie verstehen und sprechen doch perfekt Englisch!« Er verbeugte sich würdig.
»Ich danke Ihnen, mein Freund, für Ihre lobende Einschätzung, aber Sie schmeicheln mir gar zu sehr. Ich fürchte nämlich, ich bin auf dem Weg, den ich zurücklegen möchte, noch nicht sehr weit vorangeschritten. Sicher, ich kenne die Grammatik und die Wörter, aber um eine Sprache wirklich zu sprechen, bedarf es mehr.«
»Glauben Sie mir«, beteuerte ich, »Sie sprechen ausgezeichnet.«
»Ach wo«, erwiderte er. »Ich weiß doch: wenn ich mich durch Ihr London bewegte und so spräche, würde mich jeder gleich als Fremden erkennen. Deshalb reicht mir nicht, was ich bisher schon vermag. Hier bin ich ein Edelmann, ein Bojar. Das einfache Volk kennt mich, und ich bin sein Herr. Aber als Fremder in einem fremden Land ist man ein Nichts. Keiner kennt einen, und jemanden nicht kennen heißt ihn nicht achten. Fürs erste würde mir genügen, nicht ausgegrenzt zu werden. Also: niemand soll stehenbleiben, wenn er mich sieht, oder sich unterbrechen, wenn er mich reden hört, und sagen: ›Haha – ein Fremder!‹ Ich bin so lange Herr gewesen, dass ich auch weiter Herr zu sein begehre; wenigstens aber will ich nicht, dass jemand Herr über mich sei. Sie kommen ja hauptsächlich als Geschäftsträger meines Freundes Peter Hawkins aus Exeter zu mir und sollen mich genauestens über meine neuen Besitztümer in London informieren. Sie könnten mir aber einen zusätzlichen Gefallen tun, indem Sie noch eine Weile mein Gast bleiben und Gespräche mit mir führen, bis ich gelernt habe, akzentfrei Englisch zu sprechen. Wenn ich im Reden einen Fehler mache, korrigieren Sie mich sofort, auch beim kleinsten Schnitzer. Übrigens tut mir leid, dass ich heute so lange weg war; aber Sie werden zweifelsohne einem Manne vergeben, der solch eine Unzahl wichtiger Angelegenheiten zu besorgen hat.«
Natürlich versicherte ich ihm gleich, ich täte alles, was in meinen Kräften stehe, und schob die Frage nach, ob ich die Bibliothek jederzeit betreten dürfe, wenn es mir beliebe. Er antwortete: »Aber sicher«, und setzte hinzu: »Sie dürfen sich im Schloss frei bewegen und alle Räume betreten, ausgenommen jene, deren Türen verschlossen sind. Glauben Sie mir, da würden Sie auch gar nicht hineinwollen. Dass die Dinge so geregelt sind, hat seine Gründe. Und sähen Sie mit meinen Augen und wüssten Sie, was ich weiß, verstünden Sie mich vermutlich noch besser.«
Ja, selbstverständlich, erwiderte ich, und er fuhr fort: »Wir sind in Transsilvanien, und Transsilvanien ist nicht England. Unsere Lebensart ist nicht die Ihre; deshalb wird Ihnen gewiss manches hier seltsam erscheinen. Oder vielmehr, nach dem, was Sie mir so erzählt haben, sind Sie ja bereits einigen Dingen begegnet, die Ihnen seltsam vorkamen.«
Und wir gerieten in eine ausgedehnte Konversation. Er wollte reden, eindeutig, wenn auch nur um des Redens willen, und so nutzte ich die Gelegenheit, ihn über verschiedenes zu befragen, das mir in jüngster Zeit selbst geschehen oder sonstwie zur Kenntnis gelangt war. Manchmal wich er vom Thema ab oder brachte den Dialog zum Erliegen, indem er vorgab, nicht zu verstehen, aber im allgemeinen antwortete er recht offen auf meine Fragen. Nach einer Weile traute ich mich sogar, die merkwürdigen Ereignisse der vergangenen Nacht anzusprechen. Was etwa mochte den Kutscher bewogen haben, den blauen Flämmchen hinterherzugehen? Hierzu erklärte mir der Graf, laut weitverbreitetem Glauben zeigten sich in einer bestimmten Nacht des Jahres, während der, wie es heißt, alle bösen Geister freie Bahn hätten, blaue Flämmchen über jedem Ort, an dem ein Schatz vergraben liege. Diese Nacht sei gestern gewesen. »Und dass die Gegend, durch die Sie gestern kamen, Schätze birgt«, fuhr er fort, »daran hege ich wenig Zweifel. Schließlich haben auf diesem Boden jahrhundertelang Walachen, Sachsen und Türken gekämpft. Es gibt dort kaum einen Fußbreit Erde, der nicht Menschenblut getrunken hätte, das Blut der Eindringlinge und der Verteidiger gleichermaßen. Das waren wilde Zeiten, als die Österreicher und die Ungarn scharenweise ins Land kamen und die Patrioten ihnen entgegenzogen – Männer und Frauen, Greise und Kinder. Sie lauerten in den Felsen über den Pässen und sandten mit künstlichen Lawinen und Steinschlägen Tod und Verderben auf die Feinde hinab. Blieben diese doch Sieger, machten sie zumindest wenig Beute; die Einheimischen hatten das meiste ihrer Habe der freundlichen Scholle anvertraut.«
»Aber«, wandte ich ein, »warum wurden diese ganzen Schätze dann bis heute nicht gehoben, wenn es doch einen so sicheren optischen Hinweis gibt und man sich nur die Mühe zu machen bräuchte, genau hinzuschauen?«
Der Graf lächelte; dabei hob sich seine Oberlippe übers Zahnfleisch, so dass die merkwürdig langen, scharfen Eckzähne deutlich sichtbar wurden. Er antwortete: »Weil die Bauern hier feige und dumm sind. Die Flämmchen erscheinen nur in einer bestimmten Nacht, und in dieser Nacht wird sich kein Bewohner dieses Landes, wenn er es irgend vermeiden kann, aus dem Haus wagen. Und, mein bester Herr, sogar wenn er sich überwände – er hätte ja keine Ahnung, wie er weiter vorgehen müsste. Selbst angenommen, er kennzeichnet die Stelle – der Mann, von dem Sie mir berichteten, hat dies ja offenbar getan –: er würde bei Tageslicht seine eigene Markierung verfehlen, weil er schlicht nicht wüsste, wo er sie suchen sollte. Auch Sie, das getraue ich mir zu schwören, wären nicht in der Lage, die Stelle wiederzufinden, oder?«
»Ganz recht«, bestätigte ich. »Ich wüsste genauso wenig wie all die verblichenen Generationen der Einheimischen, wo ich suchen sollte.« Dann glitt das Gespräch zu anderen Themen hin.
»Kommen Sie«, sagte er schließlich, »erzählen Sie mir von London und von dem Haus, das Sie für mich ausgesucht haben.« Ich entschuldigte mich wegen meiner Säumigkeit, ging in mein Zimmer und nahm die einschlägigen Unterlagen aus meiner Reisetasche. Während ich sie ordnete, hörte ich aus dem Zimmer nebenan das Klappern von Porzellan und Silber; als ich auf meinem Rückweg dort hindurchkam, bemerkte ich, dass jemand den Tisch abgeräumt und die Lampe angezündet hatte; inzwischen war es nämlich schon sehr dunkel geworden. Auch in der Bibliothek brannten bereits die Lampen; der Graf lag auf dem Sofa und blätterte in einem dicken Band – ausgerechnet im englischen Eisenbahnkursbuch. Als ich eintrat, erhob er sich und räumte Bücher und Zeitschriften vom Tisch. Gemeinsam vertieften wir uns in Pläne, Urkunden und Aufstellungen aller Art. Er interessierte sich für jedes Detail und stellte mir eine Unmenge Fragen zum Grundstück und zu seiner Umgebung. Über die Nachbarschaft hatte er sich offenbar selbst schon eingehend informiert, ja, letzten Endes wusste er, was diesen Punkt betraf, sehr viel mehr als ich. Das erstaunte mich, was ich ihm auch mitteilte; er erwiderte: »Wohl wahr, mein Bester, ich habe mich selber unterrichtet. Aber gebot dies nicht die bloße Notwendigkeit? Wenn ich dorthin komme, werde ich doch allein sein. Mein Freund Harker Jonathan – oje!, verzeihen Sie, jetzt habe ich nach den Gepflogenheiten meiner Sprache Ihren Familiennamen vorangestellt –, nun denn: mein Freund Jonathan Harker ist dann nicht an meiner Seite und kann mich nicht beraten und vor möglichen Fehlern bewahren. Er wird um diese Zeit in Exeter weilen und vermutlich mit meinem anderen Freund Peter Hawkins Gerichtsakten wälzen. Also!«
Wir regelten dann gewissenhaft die geschäftliche Seite. Es ging ja im Kern um den Erwerb einer Besitzung in Purfleet nahe London. Ich nannte ihm alle wesentlichen Einzelheiten; er leistete die erforderlichen Unterschriften, und ich verfasste noch einen Begleitbrief an Mr. Hawkins. Nun fragte mich der Graf, wie es mir denn nur gelungen sei, eine seinen Wünschen so gemäße Örtlichkeit aufzutun. Ich las ihm einfach die Notizen vor, die ich mir seinerzeit gemacht hatte und die ich im folgenden wörtlich wiedergebe.
»In Purfleet fand ich in einer Nebenstraße ein Grundstück, das meines Erachtens den Vorstellungen des Klienten genau entspricht. Eine verwitterte Tafel zeigte an, dass es zu verkaufen sei. Es ist umgeben von einer hohen Mauer aus klobigen Natursteinen, die offenbar seit Jahren keine Instandsetzungsarbeiten mehr erlebt hat. Das verschlossene Tor besteht aus schwerem Eichenholz und trägt eiserne, inzwischen freilich rostzerfressene Beschläge.
Das Anwesen heißt Carfax – zweifellos eine Verschleifung der alten anglonormannischen Worte quatre faces, denn die ›vier Seiten‹ des Hauses weisen kompassgenau in die vier Himmelsrichtungen –, misst insgesamt gut dreißig Morgen und wird von der erwähnten Steinmauer gänzlich eingefasst. Viele Bäume stehen dicht auf dem Gelände, wodurch es hier und da verschattet wird. Bemerkenswert ferner ein tiefer, dunkler Teich oder besser ein kleiner See; offenbar speisen ihn unterirdische Quellen, denn sein Wasser ist klar und fließt in einem stattlichen Bach ab. Alle Architekturperioden der letzten Jahrhunderte finden in dem mächtigen Haus ihren Niederschlag, wohl bis zurück zum Mittelalter – diesen Schluss legt wenigstens ein Teil des Gebäudes nahe, das durch sein immens dickes Mauerwerk, in dem die wenigen Fenster hoch über dem Boden angebracht und mit starken Gitterstäben versehen sind, geradezu an einen Bergfried erinnert. Gleich daneben liegt eine alte Kapelle oder Kirche. Dort konnte ich nicht hinein, da ich keinen Schlüssel zu der Verbindungstür zwischen dem Haus und diesem sakralen Raum besaß. Ich habe jedoch mit meiner Kodak Außenaufnahmen von allen Seiten gemacht. Das Haus wurde mehrfach erweitert, wobei man freilich die neuen Räumlichkeiten recht ungeordnet und planlos angestückelt hat, so dass sich schwer schätzen lässt, wie viel Prozent der Gesamtfläche es jetzt bedeckt. In unmittelbarer Nähe stehen nur wenige Häuser. Eines darunter verdankt seine beträchtliche Größe ebenfalls diversen Zusatzbauten, die der neue Verwendungszweck erzwang: Man hat dort jüngst eine private Irrenanstalt eingerichtet. Vom Grundstück aus ist dieses Nachbarhaus jedoch nicht sichtbar.«
Als ich fertig war mit Vorlesen, sagte der Graf: »Alt und groß. Das freut mich. Ich selbst stamme aus alter Familie, und in einem neuen Haus zu leben brächte mich um. Ein Haus kann nicht binnen eines Tages wohnlich gemacht werden, und da gehen schon einige Tage ins Land, bis so ein Jahrhundert sich rundet! Auch die alte Kapelle kommt mir sehr gelegen. Uns transsilvanischen Edelleuten missfällt die Vorstellung, dass unsere Gebeine dereinst zwischen denen Gewöhnlicher ruhen müssen. Ich suche nicht Lust und Heiterkeit; mich gelüstet es nicht nach üppigem Sonnenschein und glitzerndem Wasser und all den Dingen, denen man hinterherjagt, wenn man jung und fröhlich ist. Ich bin nicht mehr jung, und mein Herz, ermattet in Jahren des Trauerns über so viele Tote, hat den Frohsinn verlernt. Überdies hat Verfall von den Mauern meines Schlosses Besitz ergriffen. Der Schatten sind zahlreiche, und der Wind bläst kalt durch rissige Zinnen und undichte Fenster. Ich liebe Dunkelheit und Schatten und wünsche nach Möglichkeit allein zu sein mit meinen Gedanken.«
Seine Worte und sein Mienenspiel, hatte ich den Eindruck, passten nicht recht zueinander. Das Lächeln etwa, mit dem er seine Rede begleitete, erschien mir boshaft und suspekt. Vielleicht lag das aber auch nur an seiner speziellen Physiognomie, und ich täuschte mich.
Bald darauf bat er mich, ihn für einen Augenblick zu entschuldigen; ich möge doch so freundlich sein und meine Papiere in der Zwischenzeit wieder geordnet zusammenlegen. Er blieb tatsächlich eine Weile fort; währenddessen betrachtete ich einige der Bücher. Bei einem handelte es sich um einen Atlas. Die Karte von England – sicher, welche sonst – lag aufgeschlagen; man sah ihr die häufige Benutzung an. Bei genauerem Hinschauen entdeckte ich, dass mehrere Orte mit kleinen Kreisen markiert waren. Ich musterte sie näher und stellte fest: einer der Kringel bezeichnete eine Örtlichkeit östlich Londons – wohl jene, wo sich das neue Besitztum des Grafen befand; die beiden anderen betrafen Exeter im Südwesten der britischen Insel und Whitby an der Küste von Yorkshire.
Es dauerte knapp eine Stunde, bis der Graf zurückkam. »Ah«, begann er, »immer noch über den Büchern? Gut. Aber Sie sollen auch nicht dauernd arbeiten. Kommen Sie; ich höre gerade, Ihr Abendessen ist fertig.« Er nahm mich beim Arm und führte mich nach nebenan, wo ich ein ausgezeichnetes Souper aufgetragen fand. Wieder bat mich der Graf zu entschuldigen, dass er nicht mitspeise, er habe schon auswärts gegessen. Aber wie schon in der Nacht zuvor leistete er mir Gesellschaft und plauderte, während ich aß. Nach Tisch rauchte ich wie am Abend zuvor; der Graf blieb bei mir sitzen, und wir unterhielten uns über alles mögliche, wobei er viele Fragen stellte. Die Stunden flogen nur so dahin. Ich merkte zwar, dass es später und später wurde, doch sagte ich nichts, denn ich fühlte mich verpflichtet, den Wünschen meines Gastgebers in jeder Hinsicht zu entsprechen. Ich spürte auch kein dringendes Schlafbedürfnis; schließlich hatte die ausgedehnte Ruhe tags zuvor mein Durchhaltevermögen gestärkt. Trotzdem empfand ich unwillkürlich jenes Frösteln, das einen bei Beginn der Morgendämmerung befällt. Dieser Umbruch von der Nacht zum Tage ähnelt in gewisser Weise dem Wechsel der Gezeiten. Es heißt ja auch, dass unrettbar Kranke meist bei Tagesanbruch oder zur Gezeitenwende stürben. Jeder, der jemals selbst todmüde war und trotzdem auf seinem Posten ausharren musste, wird dies plausibel finden, denn er hat die eigentümliche Veränderung in der Atmosphäre gewiss am eigenen Leib verspürt. Plötzlich hörten wir einen Hahnenschrei; mit geradezu übernatürlicher Schrillheit gellte er durch die klare Morgenluft zu uns herein. Graf Dracula sprang auf und rief: »Was, schon wieder Morgen? Welche Nachlässigkeit von mir, Sie so lange aufzuhalten, nur weil ich so viel wissen möchte über meine liebe neue Heimat England! Sie sollten Ihre Schilderungen künftig weniger interessant gestalten, sonst bemerke ich nicht, wie die Zeit verfliegt!« Er machte eine höfliche Verbeugung und empfahl sich eilends.
Ich begab mich in mein Zimmer und öffnete die Vorhänge, aber da war wenig zu sehen. Mein Fenster ging auf den Hof, und ich erblickte nicht viel mehr als das warme Grau des erwachenden Himmels. So schloss ich die Vorhänge wieder und protokollierte die Erlebnisse dieses Tages.
8. Mai. – Während ich das Vorige schrieb, hatte ich manchmal die Befürchtung, ich würde zu weitschweifig. Jetzt bin ich aber froh, dass ich von Anfang an alles detailliert festgehalten habe. Der Ort hier ist wahrhaft seltsam, und seltsam ist, was sich darin abspielt, und zwar so sehr, dass mich, wie sehr ich mich auch dagegen wehre, Unbehagen beschleicht. Ich wollte, ich wäre heil wieder draußen oder gar nicht erst hergekommen. Sicher setzt mir das ungewohnte lange Aufbleiben zu, aber wenn es nur das wäre! Hätte ich wenigstens jemanden, um mich auszusprechen, ließe sich das Ganze ertragen. Doch einen solchen Jemand gibt es hier nicht. Reden kann ich nur mit dem Grafen, und der gerade – – –! Ich fürchte allmählich, dass ich der einzige lebendige Mensch in diesem Schlosse bin. Aber ich will so nüchtern bleiben, wie es die Tatsachen irgend zulassen. Dies wird mir helfen auszuharren. Meine Phantasie darf nicht mit mir durchgehen, sonst bin ich verloren. Also will ich jetzt gleich, da die Eindrücke noch frisch sind, niederschreiben, wie die Lage der Dinge ist – oder zu sein scheint.
Nachdem ich zu Bett gegangen war, schlief ich nur ein paar Stunden. Ich erwachte und spürte bald, dass ich doch nicht weiterschlafen könnte, und erhob mich. Ich befestigte meinen Rasierspiegel am Fenster und begann mich zu rasieren. Da fühlte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter und hörte die Stimme des Grafen: »Guten Morgen.« Ich zuckte zusammen, denn ich hatte ihn nicht kommen sehen, obwohl der Spiegel das ganze Zimmer hinter mir erfasste. Beim Zucken hatte ich mich leicht geschnitten, merkte dies aber zunächst nicht. Ich drehte mich um, sagte gleichfalls einen Gruß und wandte mich wieder zum Spiegel in der festen Erwartung, bestätigt zu finden, dass ich mich vorhin getäuscht hatte. Nein, zumindest diesmal konnte es kein Irrtum sein. Der Mann stand dicht hinter mir; wenn ich über die Schulter schaute, sah ich ihn. Aber der Spiegel zeigte kein Abbild von ihm! Der gesamte Raum hinter mir erstreckte sich darin, aber nirgends entdeckte ich auch nur eine Spur davon, dass sich außer mir noch eine andere Person im Zimmer befand. Dies erschreckte mich; ich hatte ja nun schon viel Seltsames erlebt, aber das übertraf alles. Es steigerte in mir die vage Empfindung von Unbehagen, die mich jedesmal ergreift, wenn der Graf in meiner Nähe ist. Jetzt erst entdeckte ich, dass die kleine Schnittwunde etwas blutete; ein dünner roter Tropfen rann eben über mein Kinn. Ich legte das Rasiermesser beiseite und wollte ein Heftpflaster suchen. Dazu drehte ich mich halb um. Kaum sah der Graf mein Gesicht, war es, als befiele ihn dämonische Raserei. Seine Augen blitzten, und seine Hand griff mir jählings an die Kehle. Ich fuhr zurück; dabei berührten seine Finger die Perlen des Rosenkranzes, an dem das Kruzifix hing. Sofort war der Mann wie verwandelt; der Anfall endete so rasch, dass ich fast glaubte, er habe gar nicht stattgefunden.
»Nehmen Sie sich in Acht«, warnte er mich, »dass Sie sich nicht schneiden. Das ist hierzulande gefährlicher, als Sie glauben.« Dann ergriff er meinen Rasierspiegel und fuhr fort: »Und dieses elende Ding hat das Unheil bewirkt. Ein schändliches Spielzeug der menschlichen Eitelkeit. Weg damit!« Er ging zum Fenster. Mit einem einzigen Ruck seiner grässlichen Hand riss er den schweren Flügel auf und schleuderte den Spiegel hinaus, der tief unten auf dem Pflaster des Hofes in tausend Scherben zersprang. Anschließend ging er davon, ohne ein Wort zu sagen. Der Vorfall ist für mich höchst ärgerlich, denn ich weiß nicht recht, wie ich mich jetzt rasieren soll. Vielleicht nehme ich den Deckel meiner Uhr oder den Boden meiner Seifenschale; beides ist zum Glück aus Metall.
Im Esszimmer stand mein Frühstück; der Graf jedoch war nirgends zu erblicken. So aß ich denn allein. Merkwürdig, ich habe ihn bis jetzt noch nie essen oder trinken gesehen. Ein sehr eigenartiger Mensch muss das sein! Endlich war ich fertig mit dem Frühstück. Nun wollte ich ein wenig das Schloss erkunden. Ich trat auf den Flur und fand ein Zimmer mit einem Fenster nach Süden. Der Blick war großartig; von diesem Aussichtspunkt her zeigte sich mir das Panorama in seiner vollen Schönheit. Das Schloss steht dicht neben einem furchterregenden Abgrund; ein Stein, den man aus diesem Fenster würfe, fiele wohl tausend Fuß tief, ohne irgendwo anzustoßen! So weit das Auge reicht – ein Meer aus Baumwipfeln; nur stellenweise ein paar dunkle Risse im Grün, die auf Gräben hindeuten. Hier und da blinken Silberstreifen, wo Flüsse sich in tiefen Schluchten durch die Wälder winden.
Leider bin ich nicht in der Stimmung, landschaftliche Schönheiten zu schildern. Nachdem ich mich nämlich ihrer eine Weile erfreut hatte, setzte ich meine Erkundung fort. Und was fand ich? Türen, Türen, Türen überall – aber alle fest verschlossen. Nirgends ein Weg hinaus, es sei denn durch die Fenster der dicken Schlossmauer. Dieses Schloss ist ein Gefängnis, und ich bin darin gefangen!