Читать книгу Skrupellos - Bärbel Junker - Страница 4

PROLOG

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„Bitte nicht, Paul“, schluchzte Sophie. „Lass uns doch in Ruhe darüber reden.“

Mit zum Schlag erhobener Faust starrte Paul Ziegler seine Frau aus blutunterlaufenen Augen an.

„Bitte!“, flüsterte Sophie ängstlich.

„Verdammt noch mal, Weib! Du gehst mir mit deiner ewigen Nörgelei auf die Nerven. Ich will, dass aus deinem verweichlichten Sohn Kevin endlich ein richtiger Junge wird. So einer wie Stefan!“

„Kevin ist auch dein Sohn, Paul.“

„Schlimm genug“, knurrte ihr Mann. „Mit dem Weichei kann man doch nichts anfang’. Der hockt doch nur bei dir und deinen blödsinnigen Büchern rum. Kunst! Wenn ich den Scheiß schon hör!“

„Du hast dich früher doch auch dafür interessiert.“

„Hab ich nich’, du dummes Stück. Ich hab nur so getan, um dich rumzukriegen“, erwiderte ihr Mann grinsend. „Ich wollte den Laden von deinem Alten. Dich hab ich dabei in Kauf genommen. Hat ja auch gut geklappt. Konnte ja nich’ wissen, dass der blöde Laden so wenig abwirft.“

„Du hast mich nie geliebt, oder?“, fragte Sophie leise.

„Hast aber lange gebraucht, um das zu merken“, entgegnete ihr Mann grinsend.

Sophie sah ihn stumm an. Wie konnte ich diesen Mann nur heiraten? Wie konnte ich mich so irren? dachte sie verzagt.

„Na, alte Trauertante. Willst du nich’ ‘n büschen rumjammern?“, sagte Paul grinsend.

„Ich will nicht, dass Kevin so wird wie sein Bruder“, flüsterte Sophie.

Sie hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da schlug ihr Paul seine Faust so hart ins Gesicht, dass sie das Gleichgewicht verlor, mit dem Genick gegen den schweren Eichentisch prallte und zu Boden fiel.

Ihr Mann starrte mitleidlos auf sie herab. „Stell dich nich’ so an“, knurrte er.

Doch seine Frau regte sich nicht. Sein Schlag hatte ihr das Nasenbein gebrochen. Blut lief über ihr fein geschnittenes Gesicht, versickerte im Ausschnitt ihrer Bluse und tauchte den Ying Yang-Anhänger, den sie an einer Goldkette um den Hals trug, in blutiges Rot. Sie bewegte sich nicht, würde es auch niemals wieder.

Sie hatte sich an der harten Tischkante das Genick gebrochen.

„Verdammter Mist!“, fluchte Paul, als sein schwerfälliger Verstand nach einer Weile endlich begriff, was geschehen war. „Was, zum Teufel, mach’ ich jetzt? Nich’ die Bull’n! Die lochen mich bei meinen Vorstrafen glatt ein!“

Die Haustür klappte. Paul Ziegler fuhr erschrocken zusammen. Doch es war nur sein Sohn Stefan, der in die Küche trat.

„Was ist denn hier los? Hast du unsere Alte endlich abgenibbelt, oder was?“ Er ging zu einem Stuhl und setzte sich rittlings darauf. „Was is’, Alter? Bist du stumm?“

„Ich glaub’, die wird nich’ wieder“, murmelte Paul.

„Echt?“

„Ja, echt, du Arsch. Das is’ nich’ zum Lachen. Wenn mich die Bull’n erwischen, bin ich dran.“

„Na und? Dann dürfen sie dich eben nich’ erwischen. Wir schaffen die Leiche weg“, erwiderte sein feiner Sohn ungerührt.

Paul Ziegler musterte seinen Sohn bewundernd. Das war ein Junge nach seinem Geschmack. Nich’ so’n Weichei wie sein jüngerer Sohn.

Ach ja, Kevin! Verdammt!

Wie sollte er dem den Tod seiner geliebten Mutter beibringen? Der rannte doch glatt zu den Bullen!

„Und Kevin?“, fragte er aus diesem Gedanken heraus. „Was machen wir mit dem?“

„Wenn er nich’ mitzieht, schicken wir ihn eben seiner geliebten Mami hinterher“, erwiderte Stefan gefühllos. „Es ist draußen schon schummrig. Am besten, wir bring’ sie erstmal weg. Um meinen lieben Bruder können wir uns danach immer noch kümmern.“

Sein Vater nickte. „Fass mal mit an, Stefan. Nimm ihre Beine. Wir legen sie in Kofferraum und versenken sie nachher im Meer. Wir fahr’n sofort zu unserm Boot.“

„Alles klar“, entgegnete sein Sohn ungerührt.

Sie zogen die tote Frau weg vom Tisch und hoben sie hoch. „Die is’ leichter, als ich dachte“, sagte Stefan herzlos. Sie hatten fast die Haustür erreicht, als diese geöffnet wurde. Kevin war es, der eintrat. Der dunkelblonde, schlanke Junge blieb abrupt stehen. Seine blauen Augen blickten verständnislos auf den Körper, den sein Vater und sein Bruder zwischen sich trugen.

„Mama? Was ist mit dir? Was hast du?“, fragte Kevin besorgt. Er trat näher und entdeckte das Blut auf ihrem Gesicht.

„Mama?“

Er griff nach ihrer leblos herunterhängenden Hand. Und langsam krochen Furcht und Entsetzen in dem Jungen hoch. Er sah in ihr geliebtes Gesicht. Sah die Verletzung, sah das Blut.

„Was habt ihr mit Mama gemacht?“, stieß er hervor. „Ihr habt sie getötet! Ihr seid Mörder! Ich gehe zur Polizei!“, rief er. Und die schreckliche Erkenntnis löste eine Tränenflut bei ihm aus.

„MÖRDER! Ihr seid MÖRDER!“, schluchzte er.

„Lass sie runter, Stefan“, befahl Paul Ziegler. „Ich schnapp mir den Bengel.“

Und dann lag Sophie Ziegler auf dem Fußboden, und Paul zog seinen achtjährigen Sohn zu sich heran.

„Wenn du nich’ sofort die Klappe hältst, folgst du deiner Mutter so schnell, dass du nich’ mal mehr Piep sagen kannst. Hast du das verstanden?“, zischte er.

Kevin starrte ihn an.

„Ob du das verstanden hast, Weichei?“

„Ihr habt Mama getötet“, brachte der Junge schluchzend hervor. „Ihr müsst bestraft werden!“

Kevin fürchtete sich weder vor seinem Vater, noch vor seinem Bruder. Über dieses Stadium war er durch den Tod seiner Mutter hinaus.

Er war verzweifelt!

Er hatte seine stille, zärtliche Mutter über alles geliebt, hatte jede freie Minute bei ihr im Buchladen zugebracht. Sie hatte ihn den schönen Künsten zugeführt. War immer für ihn da gewesen. Hatte ihn mit ihren schwachen Kräften vor seinem gewalttätigen Vater beschützt. Ohne sie war er einsam und verloren. Ohne seine geliebte Mutter hatte das Leben für ihn keinen Sinn.

„Es hat keinen Zweck, Alter“, sagte Stefan. „Die Knalltüte hält nich’ dicht.“

„Dann nehm‘ wir ihn mit. Bring ihn zum Wagen. Ich komm’ gleich nach.“

„Warte noch, ich will die Kette, oder hast du was dagegen?“, fragte Stefan. Sein Vater schüttelte den Kopf. Da beugte sich Stefan über seine tote Mutter und löste die goldene Kette von ihrem Hals. Er hatte schon lange einen Blick auf das Schmuckstück geworfen. Endlich gehörte es ihm. Voller Besitzerstolz musterte er den Ying Yang-Anhänger, ein ausgefallenes Schmuckstück in Rot- und Weißgold gehalten mit einer schwarzen Perle in der weißgoldenen Hälfte und einer weißen Perle im rotgoldenen Teil, eine eher unübliche Zusammenstellung.

„Nein!“, wimmerte Kevin. „Das ist Mamas Kette!“ Schluchzend stürzte er sich auf seinen Bruder. Er versuchte ihm die Kette zu entreißen, hatte jedoch gegen Stefan keine Chance.

„Blöder Wichser“, knurrte dieser verächtlich. Er packte seinen Bruder und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Mit einem gehässigen Grinsen hängte er sich die Kette um den Hals. „Mach voran“, knurrte er und stieß seinen weinenden Bruder vor sich her.

In der Garage des kleinen Einfamilienhauses verfrachtete er seinen Bruder in den hinteren Teil des hier abgestellten Lieferwagens, schlug die Tür hinter ihm zu und schloss ab.

Im selben Moment betrat sein Vater die Garage, mit einer Teppichrolle, in die er seine tote Frau gewickelt hatte, auf den Schultern.

„Gute Idee“, meinte Stefan grinsend und schloss die Wagentür wieder auf.

Ohne seinen jüngsten Sohn zu beachten, schob Paul Ziegler die Teppichrolle neben Kevin und schlug die Tür wieder zu. Und nachdem Stefan wieder abgeschlossen hatte, setzte Paul sich hinters Steuer und fuhr los.

Vor Kummer wie erstarrt, saß Kevin neben der Teppichrolle, in der seine tote Mutter lag. Er rührte sich nicht, auch nicht, als der Wagen nach etwa einer halben Stunde Fahrtzeit anhielt. Selbst als die Wagentür geöffnet wurde, reagierte er nicht. Erst als sein Bruder die Teppichrolle zu sich heranzog, blickte er hoch.

„Was habt ihr mit Mama vor?“, flüsterte er.

„Na, was wohl, Weichei? Wir versenken sie im Meer und dich am besten gleich mit. Dann seid ihr endlich auf ewig vereint“, erwiderte Stefan höhnisch grinsend.

Er hatte seine Alte nie gemocht. Immer dieses kultivierte Getue. Was interessierten ihn Bücher und Kunst, ‘ne Pulle Schnaps war ihm weitaus lieber. Allerdings konnte er seinen Alten auch nicht leiden. Der war von Jahr zu Jahr primitiver geworden, so primitiv, dass es selbst ihn abstieß. Er hatte nie begriffen, wie die beiden zusammengefunden hatten. Er wusste nur, dass sein Vater die Alte reingelegt hatte.

Er hatte sich verstellt, einen auf armen, benachteiligten Jungen gemacht. Und seine Mutter, zu gut für diese Welt, war ihm auf den Leim gegangen. Irgendwie hatte er sie dann wohl rumgekriegt und geschwängert. So hatte er sie und den Buchladen sicher. Er, Stefan, war das Ergebnis dieser Aktion.

Kurze Zeit später waren dann seine Großeltern verunglückt, und seine Eltern hatten auch noch das kleine Einfamilienhaus geerbt. Und dann, als keiner mehr damit rechnete, war seine Alte mit Kevin schwanger. Wieso sein Bruder jedoch so gar nichts von seinem Vater mitgekriegt hatte, das verstand er nicht.

Manchmal beneidete er seinen achtjährigen Bruder um sein Aussehen und seine kultivierte Art. Aber zugegeben hätte er das niemals.

Obwohl erst sechzehn Jahre alt, war Stefan groß, breit und schon ziemlich muskulös. Die dunklen Haare hatte er ebenso von seinem Vater geerbt wie die kalten grauen Augen, die füllige Figur und das dickliche Gesicht.

Er hasste seinen Bruder, neidete ihm die Eleganz, mit der sich dieser bewegte, missgönnte ihm das schmale, gut geschnittene Gesicht mit der edlen Nase und dem schön geschwungenen Mund. Ja, Kevin kam ohne Zweifel der Familie seiner Mutter nach. Alles Spinner wie sein Alter abfällig sagte. Stefan wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sein Vater ihn anrempelte.

„Was is’? Willst du hier übernachten? Nein? Dann fass gefälligst mit an. Wenn wir fertig sind, saufen wir zu Hause ordentlich einen“, versprach Paul.

„Was machen wir mit Kevin?“, wollte Stefan wissen.

„Allein sind wir beide zusammen wohl besser dran, oder?“, knurrte sein Vater.

„Und wie?“, fragte Stefan und griff nach seinem Springmesser, das er stets in der Hosentasche bei sich trug.

„Das, oder Genickbruch wie bei deiner Alten“, meinte Paul.

„Is’ noch besser“, erwiderte Stefan und steckte das Messer wieder ein.

Kevin sah wie erstarrt zu, als sie seine in den Teppich eingerollte tote Mutter aus dem Wagen zogen. Er hatte gehört, was sein Vater und sein Bruder gesagt hatten. Aber die Gefahr, in der er schwebte, drang nicht zu ihm durch.

Doch plötzlich war ihm, als spräche seine Mutter zu ihm:

Liebling, du bist in Gefahr. Du musst fliehen, sonst töten sie dich. Ich liebe dich und werde immer bei dir sein. Flieh, Liebes! Tu es mir zuliebe.

„Mama?“, flüsterte Kevin. „Mama, bist du es?“

Ja, mein Herz. Ich bin bei dir, werde immer bei dir sein. Aber jetzt musst du gehen. Warte nicht länger. Geh! Geh sofort!

Und Kevin sprang auf. Drei Schritte und er hatte die Öffnung erreicht. Er sprang in den Sand und lief davon.

„Er haut ab!“, grölte Stefan und jagte hinterher.

Kevin lief wie im Traum. Immer weiter, immer weiter. Doch wohin? Links von ihm wogte das Meer, vor ihm und rechts von ihm war nichts als Sand. Kein Mensch, kein Haus weit und breit. Wo sollte, wo konnte er hin?

Und hinter ihm keuchte sein gewaltbereiter Bruder heran.

Komm zu uns, Kevin, lockten die Wellen. Bei uns ruhst du wie in einem Daunenbett so friedlich und so weich. Zögere nicht. Lass dich fallen, fallen wie in die weichen Arme deiner Mutter. Komm Kevin, komm.

Und Kevin zögerte nicht. Er lief einige Meter weit ins Wasser hinein, warf sich in die sanft wogenden Wellen und schwamm davon.

„Mama?“, flüsterte er. „Mama, ich komme zu dir.“

Ja, mein Herz, wisperte es. Komm in meine Arme.

Kevin schloss glücklich die Augen und lächelte wie im Schlaf.

Stefan stand am Wasser und starrte aufs Meer hinaus. Von seinem Bruder war in der hereinbrechenden Dunkelheit nichts zu sehen. Wahrscheinlich war er bereits ertrunken, denn wohin hätte der Blödmann auch schwimmen sollen.

So viel Courage hätte er dem Weichei gar nicht zugetraut. Nahm sich so mir nichts dir nichts das Leben. Na ja, sie hätten ihn ja sowieso ertränkt! Stefan drehte sich um und ging zurück.

„Das wäre erledigt“, sagte er.

Paul Ziegler nickte. Gemeinsam gingen sie zum Wagen, vor dem noch immer die Teppichrolle lag. Sie holten ihr Boot, legten den Wagenheber und die Teppichrolle hinein und fuhren ein Stück hinaus aufs Meer.

Nachdem alles erledigt war, ruderten sie zurück zum Strand, stiegen in den Lieferwagen und fuhren zurück.

Skrupellos

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