Читать книгу Die Tote auf der Bank - Bärbel Junker - Страница 4
PROLOG
ОглавлениеDie einsame Frau auf der Bank liebte diesen idyllischen, von dichtem Wald und Holunderbüschen umgebenen Ort.
In Gedanken versunken sah sie vor sich hin, durchlebte noch einmal die unerwartete Begegnung mit der Person aus ihrer Vergangenheit, die sie auch heute noch aus tiefster Seele verabscheute und hasste.
Sie hatte ihn auf einem Parkplatz getroffen.
Zufall oder Schicksal? Sie wusste es nicht.
Noch einmal sieht sie sich dort stehen und zu den beiden sich gestenreich unterhaltenden Männern hinüberstarren, die mit lauter Stimme aufeinander einreden.
Diese Stimme!
Ist er es? Kann das wirklich sein? Als sie ihn erkennt, lodert das damalige Entsetzen erneut wie eine höllische Feuersbrunst in ihr empor.
Sie lässt ihn nicht aus den Augen.
Erinnerungen werden wach, Erinnerungen, die sie nur allzu gerne aus ihrem Gedächtnis löschen würde, etwas, dass ihr jedoch bis heute nicht gelungen ist. Versucht hat sie es, jedoch vergebens.
Ja, er muss es sein, obwohl sein Gesprächspartner ihn mit dem Namen Homberger anspricht, einem ganz anderen Namen als der, unter dem sie ihn kennt.
Aber er ist es, daran zweifelt sie nicht, denn seine arrogante Stimme ist unverwechselbar; und seinen Namen kann man ändern, sofern man die richtigen Beziehungen und das entsprechende Geld dafür hat.
Aufgewühlt beobachtet sie ihn, lässt ihn keine Sekunde aus den Augen. Was soll sie tun? Ihn hier und jetzt zur Rede stellen? Oder ihn zuerst einmal heimlich beobachten? Vielleicht wäre das klüger, jedoch fehlt ihr dazu die Geduld. Sie entscheidet sich.
Als er sich von seinem Gesprächspartner verabschiedet und sich auf den Weg zu seinem Wagen macht, folgt sie ihm.
Trotz des fremden Namens ist sie sich absolut sicher ihren Peiniger von damals vor sich zu haben. Die Bestätigung seiner Identität lässt nicht lange auf sich warten. Als er sein volles Haar mit der linken Hand aus der hohen Stirn streicht, fällt ihr Blick auf seinen nur noch zur Hälfte vorhandenen Ringfinger. Eine Verunstaltung, an der er sich stets gestört hat.
Und was nun? Zu ihm gehen und ihn mit seiner Vergangenheit konfrontieren?
Sie zögert noch unentschlossen, als er vor einem BMW, einer silberfarbenen Luxuslimousine, stehen bleibt.
Natürlich, ein solches Fahrzeug passt zu ihm, denn dem Luxus war er von jeher zugeneigt. Teure Luxuskarosse, kostspielige, elegante Garderobe. Dieser Mann strahlt aus jeder Pore Reichtum aus. Aber Geld war ja auch in der Vergangenheit nie ein Problem für ihn.
Langsam geht sie auf ihn zu.
Noch hat er sie nicht bemerkt, da er ihr beim Aufschließen seines Wagens den Rücken zukehrt.
Jetzt oder nie, denkt sie entschlossen und spricht ihn mit seinem richtigen Namen an.
Er wirbelt erschrocken herum und starrt sie geradezu entsetzt an. „Samantha? Verdammt, wo kommst du denn her?“, stößt er hervor.
Diese Stimme! Diese arrogante Stimme, deren Klang sie über all die Jahre begleitet hat und die sie hasst wie nichts auf der Welt. Sie wird sie ihr Leben lang nicht vergessen.
Er starrt sie so schockiert an, als sei sie eine Erscheinung. Aber letztendlich ist sie das wohl auch für ihn: Ein Geist, ein längst vergessenes Gespenst aus der Vergangenheit.
Anders als für sie, denn sie hat ihn keineswegs vergessen!
Hasserfüllt starrt sie ihn an. Was wird er tun? Sich umdrehen und einfach wegfahren?
Doch er überrascht sie, lässt sie weder einfach stehen, noch steigt er in seinen Wagen und fährt davon. Erstaunlich bei einem Mann wie ihm, der sich nicht um andere Menschen schert, sie nur für seine Zwecke benutzt.
„Wieso hast du mich nach all den Jahren sofort wiedererkannt?“, wundert er sich. „Ich habe mein Aussehen doch etwas verändert.“
Sie mustert ihn schweigend an. Ich würde dich stets wiedererkennen, denkt sie hasserfüllt, obwohl ich dein Gesicht irgendwie anders in Erinnerung habe.
„Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragt er, seine Überraschung abschüttelnd wie einen unbequemen Umhang, ironisch und so selbstsicher wie sie ihn kennt.
Sie sieht ihn stumm an, während die Jahre schwinden, sich zurückschrauben zu dem einen, dem unsäglichen Tag, der ihr Leben so einschneidend verändert hat.
Er trug die Schuld daran, war der Verursacher, dieser Mann vor ihr, dem Schuldgefühle fremd sind. Hass überwältigt sie unvermittelt und stark, unvergänglicher Hass, der sie nun schon seit fünfzehn Jahren begleitet und nie vergeht.
Wie ein Sturzbach brechen Abscheu und Bitterkeit ungebremst aus ihr hervor.
Eine Weile hört er sich mit steinerner Miene ihre Vorwürfe an. Doch dann wird es ihm zu viel.
„Hör auf, Samantha. Was soll das Theater? Das führt doch zu nichts. Lass die Vergangenheit ruhen, andernfalls wird es deiner Gesundheit schaden“, warnt er eiskalt.
„Ich habe keine Angst vor dir“, stößt sie verbittert hervor.
„Das solltest du aber“, erwidert er kalt.
„Sei deiner Sache nur nicht so sicher. Du weißt nicht alles, obwohl du dir das wahrscheinlich einbildest. Ich könnte dich vielleicht überraschen“, droht sie.
„Diesmal wirst du nicht ungestraft davonkommen, dafür sorge ich.“
„Ach, Samantha, mach dich doch nicht lächerlich. Was damals passierte interessiert doch heute niemanden mehr. Außerdem hast du keinerlei Beweise. Dein Lamentieren ändert nichts, verärgert mich nur. Du kannst mir nichts anhaben. Also verschwinde, so lange du es noch kannst. Und wenn du am Leben bleiben möchtest, dann rate ich Dir niemals wieder meinen Weg zu kreuzen. Hast du das verstanden?“
Sie antwortet nicht, reagiert nicht auf seine Drohung. „Warum hast du deinen Namen geändert?“, fragt sie stattdessen. „Zwangen dich deine Schandtaten unterzutauchen? Bei deiner Veranlagung und deinem miesen Charakter würde mich das nicht überraschen.“
Sein Blick ist mörderisch. „Wenn du so weitermachst, redest du dich noch um Kopf und Kragen“, stößt er finster hervor.
„Ach ja? Willst du mir mal wieder drohen?“, fragt sie ironisch.
Er schüttelt genervt den Kopf und öffnet die Wagentür. Nach einem letzten abschätzigen Blick steigt er ein und fährt davon.
Die Frau auf der Bank seufzte. Sie war sich seiner Gefährlichkeit wohl bewusst. Aber der Hass hatte sie bei ihrem Zusammentreffen einfach übermannt. Natürlich hätte sie nicht so völlig die Beherrschung verlieren dürfen.
Doch diese Erkenntnis kam leider zu spät. Das Gesagte konnte nicht mehr zurückgenommen werden. Aber selbst wenn, würde es an seiner Drohung nichts ändern. Sollte er irgendeine Teufelei gegen sie planen, vielleicht sogar sie endgültig zum Schweigen bringen wollen, würde ihn sowieso nichts davon abhalten können.
Wie konnte sie sich vor einem frühzeitigen Ende schützen? Gar nicht, dachte sie verzagt. Aber ich könnte zumindest einen Hinweis auf ihn und seine Machenschaften hinterlassen, falls ich plötzlich das Zeitliche segne.
„Genug der trüben Gedanken an diesem herrlichen Sommertag“, murmelte sie.
Sie schloss die Augen, lehnte sich zurück, und wandte sich angenehmeren Erinnerungen zu. Ihr fiel Frank ein, der sie so charmant umworben und in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte. Allerdings sah sie diese Begegnung heute in einem anderen Licht als noch vor kurzem, denn jetzt wurde ihr Blick nicht mehr von ihrer Zuneigung zu diesem Mann getrübt, der so überraschend in ihr Leben getreten war.
Durch ihn hatte sie diesen schönen, abgeschiedenen gelegenen Ort kennengelernt. Mit ihm hatte sie hier eine zwar sehr kurze, jedoch herrliche Zeit verbracht. Kostbare Stunden zu zweit, nur umgeben von Wald und dem Gesang der Vögel. Was kann es Schöneres geben, hatte sie damals glücklich gedacht.
Närrin die sie war!
Sie hätte lieber auf die Warnung ihrer Schwester hören sollen. Katharina hatte schon von jeher über ein besonders feines Gespür für Menschen verfügt, hatte sie immer sehr schnell einschätzen und durchschauen können.
Sei vorsichtig. Lass dich lieber nicht so schnell auf diesen Mann ein, hatte sie gewarnt. Du kennst ihn erst seit kurzem, weißt kaum etwas über ihn. Und da du ziemlich wohlhabend bist, kann ein wenig Vorsicht bestimmt nicht schaden.
Ich bin ihm bisher nur zweimal kurz begegnet, aber ich traue ihm nicht. Es ist zwar nur ein Gefühl, aber ich halte diesen Mann für gefährlich.
Sie hatte die Warnung ihrer Schwester nicht ernst genommen, wollte nichts Negatives über Frank hören, hatte diesen lieber vertrauensvoll schon bei ihrem zweiten Treffen zu diesem idyllischen Ort begleitet. Ein verwunschener Ort, an dem es ihr schien, als seien sie beide ganz allein auf dieser ansonsten so lauten und hektischen Welt.
Sie hatte sich in Franks Nähe so glücklich und sicher gefühlt, hatte geglaubt, in ihm endlich den Mann fürs Leben gefunden zu haben.
Sie hatte sich geirrt.
Und dann hatte er sich ohne Vorankündigung von einem Tag auf den anderen von ihr getrennt. Hatte Schwierigkeiten vorgeschoben die ihn zwangen Deutschland zu verlassen. Ihr Angebot ihm zu helfen hatte er brüsk abgelehnt.
Ich bin von jeher ein Einzelgänger gewesen und werde es auch immer bleiben. Ich komme allein am besten zurecht, Samantha. Und so ist es mir auch am liebsten. Die Zeit mit dir war nett, aber alles geht einmal zu Ende, hatte er kühl erwidert.
Sie waren auseinander gegangen wie Fremde. Alles war gesagt. Ein letzter kühler Blick. Dann war er ebenso plötzlich aus ihrem Leben verschwunden wie er hineingetreten war.
Und sie hatte erkennen müssen, dass dieser Mann, von dem sie gehofft hatte, er würde von nun an zu ihrem Leben gehören, wohl niemals etwas für sie empfunden hatte. Nur, weshalb hatte er sich dann überhaupt um sie bemüht?
Was hatte er von ihr gewollt?
Inwiefern war sie überhaupt jemals für ihn von Interesse gewesen?
Hatte er es auf ihr Vermögen abgesehen? Allerdings hatten sie darüber nie gesprochen, und er hatte sie auch nie um Geld gebeten. Das konnte es also nicht gewesen sein.
Aber was dann?
Sie senkte den Kopf und blickte auf ihren Hund Baro, der friedlich zu ihren Füßen schlief. Frank hatte Baro ebenso wenig leiden können wie dieser ihn. Vielleicht hatten ihr kleiner Beschützer und ihre Schwester diesen Mann von Anfang an durchschaut und richtig eingeschätzt.
Frank mochte ihren kleinen Hund nicht, hatte sie sogar dazu überreden wollen, sich von ihm zu trennen, etwas, dass für sie nie in Frage gekommen wäre. Hätte er darauf bestanden, wäre es das Ende ihrer Beziehung gewesen. Baros unerschütterliche Liebe und Treue hatte sie schon so oft in schweren Zeiten getröstet, denn ihr kleiner Freund enttäuschte sie nie. Sie liebte ihn von ganzem Herzen und würde ihn niemals in Stich lassen.
Nachdenklich starrte sie auf die dunkelbraune Hundeleine in ihrer Hand. In das Leder gepresst stand dort Baros Name. Lächelnd nahm sie ein weiches Tuch aus ihrer Tasche und polierte die Goldbuchstaben. Nachdem die Buchstaben glänzten, hängte sie die Leine über die Rückenlehne der Bank, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sekunden später war sie eingeschlafen.
Schrilles, hektisches Bellen, riss Samantha abrupt aus ihrem leichten Schlummer. Erstaunt musterte sie ihren zitternden Hund, den sie noch nie so aufgeregt erlebt hatte.
„Was ist denn los, Baro? Hast du schlecht geträumt?“, fragte sie verwundert. Dabei schweifte ihr Blick aufmerksam über den stillen Platz, an dem sie mit Frank verabredet war.
Und plötzlich fragte sie sich, wieso sie mit einem Treffen an diesem Ort überhaupt einverstanden gewesen war? Immerhin hatte er sie bei ihrem letzten Zusammensein eiskalt und endgültig abserviert.
Ich hätte auf Charlotte hören und seine Nachricht sofort zerreißen sollen, dachte sie reumütig. Warum tat ich es dann nicht? Aus Neugier? Wollte ich einfach nur wissen, wieso er nicht wie geplant das Land verlassen hat? Vielleicht. Und jetzt kommt er noch nicht einmal, lässt mich hier an diesem verlassenen Ort einfach sitzen, ärgerte sie sich.
Zum Teufel! Was denkt sich dieser Mann?!
Unbehaglich musterte sie ihre Umgebung, die ihr plötzlich bedrohlich erschien. Ein ungutes Gefühl, eine Empfindung von Einsamkeit und Gefahr kroch in sie hinein. Und erstmals erkannte sie, wie einsam gelegen dieser Treffpunkt wirklich war. Hilfe hatte sie an diesem verlassenen Ort bei Gefahr sicherlich nicht zu erwarten.
Sie drehte sich im Sitzen um und musterte misstrauisch den dichten Wald hinter sich, der sich über viele Hektar Fläche ausdehnte. Aber von dort waren keinerlei Geräusche zu vernehmen, welche die Anwesenheit Fremder vermuten ließen.
„Wer sollte sich wohl auch hierher an diesen abgelegenen Ort verirren“, murmelte die einsame Frau in die Stille um sich herum. Und doch hatte irgendetwas ihren kleinen Hund aufgeschreckt, der ganz nahe an sie herangerückt war und seinen Kopf an ihr Bein presste.
Hatte ihn vielleicht ein Tier in dem Wald hinter ihr erschreckt? Sie beugte sich vor und streichelte zärtlich sein weiches Fell.
„Was ist los, Baro? Was hat dich so erschreckt? Du zitterst ja immer noch“, sagte sie besorgt.
Die schokoladenbraunen Augen des Hundes sahen sie verständig an.
„Ist jetzt alles wieder gut?“, fragte sie zärtlich.
Nein, das war es Baros Verhalten nach anscheinend ganz und gar nicht. Seine Ohren zuckten nervös, seine Lefzen zogen sich zurück, seine Mundwinkel reichten plötzlich bis fast an seine Ohren.
Knurrend kam er mit einem Satz auf die Beine. Seine braunen Augen sahen Samantha auffordernd an; und dann geschah etwas, das sie völlig überraschte, weil sie es nicht für möglich gehalten hätte. Der kleine Hund drehte sich um und verschwand mit wenigen Sätzen im Wald.
Die Frau sah ihm sprachlos hinterher.
Baro wich nie von ihrer Seite, war noch niemals zuvor fortgelaufen. Was hatte ihn jetzt dazu veranlasst?
Einen Moment lang vernahm sie noch sein Bellen, das sich nach einer Weile jedoch in dem dichten Wald verlor.
Dann war es plötzlich still.
„Baro?“, flüsterte die Frau verwirrt. Sie starrte auf die undurchdringliche Barriere dicht stehender Bäume und fühlte sich plötzlich sehr allein.
„Baro?“, murmelte sie. Sorge um ihn riss sie jählings aus ihrer Lethargie. Sie sprang auf und eilte ihrem Hund hinterher.
Sie fegte Blätter und Zweige beiseite, die ihr den Weg ins Innere des Waldes versperrten. Dabei beachtete sie weder die Schrammen an ihren Armen noch die Beschädigungen an ihrer Kleidung, die ihr aggressives Vorgehen verursachten.
Sie stürmte voran ohne zu überlegen.
Und der Wald schloss sich lautlos wieder zu einer dichten Wand hinter ihr.
Zwischen den Bäumen hindurch, die nur diffuses Licht bis zum Waldboden durchließen, hastete die Frau in dem Bestreben, ihren kleinen Freund einzuholen. Einzig die Sorge um ihren Gefährten trieb sie voran.
Immer wieder rief sie Baros Namen. Immer tiefer eilte sie in die Schatten hinein, welche die alten Baumriesen warfen, nicht überlegend, dass sie sich verlaufen und den Rückweg nicht finden könnte.
Sie sorgte sich um Baro, musste ihn zurückholen, alles andere war nicht wichtig.
Um sie herum war es so still wie auf einem Friedhof. Nur die Geräusche, die ihr Vorwärtsstürmen verursachten, störten die Lautlosigkeit ihrer Umgebung. Selbst die Vögel des Waldes hatten ihre manchmal ziemlich schrille Unterhaltung eingestellt.
Die kopflos dahin eilende Frau bemerkte nichts von alledem.
Sie wollte ihren kleinen Freund wiederfinden, das war alles, was in diesem Moment für sie zählte.
Unverdrossen stürmte sie voran, ihrem unausweichlichen Schicksal entgegen.