Читать книгу Will haunt you - Dieses Buch wird dich verfolgen - Brian Kirk - Страница 7
ОглавлениеDas Buch war das letzte, woran ich dachte, als ich an in jenem Abend zum Auftritt kam. Irgendwas hätte aber meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen sollen, als ich Solomon sah. Die Brandnarbe, die durch den Kragen seinen Hals hinaufkroch. Der gottverdammte Schimmer in seinen Augen.
»Jesse, mein Alter!«, donnerte er, als er mich den dunstigen Raum betreten sah. Solomon ist ein mürrisches Arschloch, kein vergnügter Kumpel, der mich begrüßen würde wie einen heimkehrenden Kriegshelden. »Wie läuft’s?«
Wir gaben uns die Hand, umarmten uns hölzern. Er war heiß. Das hätte ein weiterer Hinweis sein können. Seine Brust und sein Rücken glühten, als hätte er sehr hohes Fieber, aber ich schob es auf die Sommerhitze. Vielleicht das Lampenfieber.
Caspian saß bereits an der Bar und kippte wohl schon seinen dritten Kurzen Jameson. Zwei leere Flaschen lagen wie gefallene Soldaten auf der Theke vor ihm, und ich wusste, was das bedeutete, kannte die Art von Nacht, die es prophezeite. Caspian mit einer Flasche Whiskey war unheilvoller als ein Clown in einer dunklen Gasse.
Und die Erinnerungsfetzen, die der Anblick hervorrief, brachten mich beinahe dazu, umzudrehen und wieder zur Tür hinauszugehen.
Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte, wenn ich gegangen wäre. Ich war am Arsch, ganz egal, was ich als Nächstes tat.
Das Begrüßungsritual war kurz. Wir hatten seit einem Jahrzehnt nicht mehr zusammen gespielt, waren aber alle in Kontakt geblieben. Caspian trieb sich immer noch herum – hatte eine Fangemeinde aus Speichelleckern, die ihm überallhin folgte. Solomon arbeitete jetzt für eine Merchandising-Firma, die Bandshirts, Autoaufkleber und anderen billigen Nippes verkaufte. Kevin arbeitete als Tontechniker in einem seriösen Studio und verdiente ganz gut, soweit ich wusste.
Ich hatte … tja, dazu komme ich noch, schätze ich.
Ich war kurz vor dem angesetzten Showbeginn angekommen, um das Vorglühen zu meiden. Die Versuchung war noch immer zu stark. Ich kenne meine Grenzen, und um clean zu bleiben, ist Vermeidung das Beste für mich. Nicht, dass der Full Moon Saloon einen Backstage-Bereich hätte, wo das harte Zeug die Runde macht. Aber trotzdem. Ein Ausrutscher, und ich konnte die letzten sieben Jahre in den Wind schießen. Warum das Risiko eingehen?
Der Barmanager gab uns das Zeichen, dass es soweit war, und wir gingen hinüber zur Bühne, um unsere Instrumente einzustellen. Solomon setzte sich auf den Hocker, klopfte auf die Bassdrum, ließ die Snare prasseln. Kevin positionierte sich auf der rechten Seite der Bühne, ich auf der linken. Der Gitarrengurt auf meiner Schulter fühlte sich angenehm an, meine Jim Root Telecaster surrte in meiner Hand. Und in diesem Augenblick kam alles wieder. Die unheimliche Energie, die entsteht, wenn der Verstärker aufgedreht ist und das Publikum auf der richtigen Wellenlänge liegt – selbst in einer halbleeren Spelunke wie dieser.
In der Mitte der Bühne stampfte Caspian zum Takt der Basstrommel mit dem Fuß. Dann, genau zum Einsatz, riss er die Faust hoch, und zum ersten Mal seit zehn Jahren rief er die Toten auf, sich zu erheben. Ein Chor von betrunkenem Grölen ertönte aus der schmalen Menge der wenigen Anhänger, die gekommen waren, um sich ihre liebste Kultband aus einer Ära anzusehen, an die sich kaum erinnerten.
Ich schaute Caspian an und grinste über die Absurdität des Anblicks. Seine ergrauenden Achselhaare flatterten herum wie die Fühler einer kranken Seeanemone. Vor zehn Jahren wäre er oben herum nackt gewesen, glänzendes Öl auf seinen Rockstar-Bauchmuskeln. Heute aber trug er ein Muskelshirt, um seinen herunterhängenden Bierbauch und seine fleischigen Brüste zu verstecken. Wenigstens bekräftigte das Pentagramm, das vorne auf das Shirt gedruckt war, die Wut, die immer noch in seinem alterslosen Herzen tobte. Und die Tattoos auf seinen Armen leuchteten noch immer wie frisches Blut. Solomon hieb nun auf das Pedal ein, ein rituelles Kriegstrommeln, das bis zur Show herunterzählte. Drei, zwei, eins …
Ich schlug die Gitarre so heftig an, wie ich konnte: eine einzige schnelle Bewegung nach unten, die die Uhr um zehn Jahre zurückdrehte und einen so lauten, verzerrten Akkord brüllte, dass einer unserer alten Roadies, Sam Holt, zurücktaumelte und sein Bier fallenließ. Sam wurde aus drei Jobs gefeuert, war von zwei Ehefrauen verlassen worden und verlor die Schlüssel vom Bus öfter, als ich zählen konnte. Aber das war das erste Mal, dass ich jemals gesehen hatte, wie diesem Veteranen das Bier aus der Hand glitt.
Unsere Eröffnungsnummer war »Coffin Dust«, eine Power-Ballade über unerwiderte Liebe, die Caspian geschrieben hatte, als er als Zehntklässler in der Highschool abgeblitzt war. Das Lied war eine schmutzige Metapher dafür, wie seine Exfreundin im Bett gewesen war. Lance Caspian, immer ein Mann von Klasse. Als Nächstes kam »Within a Cage of Hate«. Der Song hat keinen Text, nur Schreie und kehliges Heulen. Das Riff besteht aus nichts weiter, als dass ich mit dem Plektrum so schnell ich kann über die E-Saite harke, während Kevin den Bass dröhnen lässt, als würden Bomben fallen.
Ich spreizte die Beine und ging in die Hocke, nahm eine Pose ein, von der ich mir immer vorgestellt hatte, sie in einer Arena voller kreischender Fans zu zeigen. Passiert war es nie. Das hier musste reichen.
Trotzdem fühlte es sich verdammt gut an.
Die Menge hatte sich nach dem dritten Song aufgelockert, die rund sechzig Leute verteilten sich vor der Bühne. Alte Achtziger-Jahre-Metalheads. Sie trugen ihre Bandshirts immer noch in die zu engen Jeans gesteckt. Die Köpfe ruckten auf steifen Hälsen. Sie klammerten sich an das wenige Haar, das sie noch hatten. Die Arme wütend hochgerissen, Finger zu Teufelshörnern gespreizt.
Scheiße, ja, dachte ich. Die Toten erheben sich wieder.
Beim sechsten Song dehnte sich die Zeit, und eine Ruhe kam über mich wie das Auge eines tödlichen Sturms. Frieden inmitten der Raserei. Mein Ort des Glücks. Ich stand in dieser Blase der Ruhe und beobachtete, wie der Schweiß unserer alten Fans durch die Gegend spritzte, ihre Gesichter verzerrt zu wütenden Fratzen posthormoneller Tobsucht.
Das Ziehen in meinem Arm hatte vor einigen Songs nachgelassen. Ich konnte die ganze Nacht spielen, wenn nötig. Angesichts dessen, wie die letzten zehn Jahre gelaufen waren, war es genau das, was ich brauchte. Mehr brauchte, als ich geahnt hatte. Und für den Bruchteil eines Augenblicks vermisste ich den Alk nicht mal oder störte mich daran, dass ich in einer Kneipe war. Nicht mal so einem Scheißloch.
Wir kamen gerade zu unserem neunten und letzten Song, als ich zum ersten Mal die Braut in der dritten Reihe wahrnahm, die mich ansah, versuchte, Blickkontakt herzustellen, und ihre Hüften so hypnotisch wiegte, dass sie eine Giftschlange hätte einschläfern können. Sie lächelte, als sie bemerkte, dass ich sie ansah, und zog langsam ihre Bluse hoch, ein verwaschenes, schulterfreies Top mit unserem alten Logo vorne drauf. Ein halbverwester Zombie, der aus der Erde herauskriecht. Dahinter RISING DEAD auf einen schiefen Grabstein gemeißelt. Solomon verkauft die Dinger jetzt für 14,99 $.
Sie zog das Top langsam hoch, Stück für Stück, reizte mich, band die Bewegung in die sich windende Art und Weise ein, wie sie tanzte. Sie war viel jünger als alle anderen, immer noch in ihren Zwanzigern. Sie musste demnach siebzehn oder so gewesen sein, als wir uns aufgelöst hatten. Ich fragte mich, mit welchem von uns sie geschlafen hatte. Nicht mit mir, daran hätte ich mich erinnert. Das hatte überhaupt dazu beigetragen, dass alles den Bach runterging. Manche One-Night-Stands halten ewig, wie ich gelernt habe.
Ihr Bauch war flach und straff, mit einer senkrechten Linie in der Mitte. Gebräunt. In ihrem Bauchnabel steckte ein Stahlstift und, wie ich erkannte, als sie über ihre Lippen leckte, auch einer in ihrer Zunge. Sie wiegte ihre Hüften, gebärfreudige Hüften, murmelte der alte Mann in mir, und hob das Top weiter, um die prallen Unterseiten ihrer Brüste zu zeigen. Nur noch ein paar Zentimeter, dann wären die Milchtüten zu sehen.
Das ist das Schlimmste, wenn man ein Kind hat. Titten bekommen eine neue Bedeutung.
Sie schloss die Lider, als sie das Top nach oben und über die Brust riss, wobei der Stoff eine Sekunde lang an ihren Nippeln hängenblieb. Ich vermasselte den nächsten Akkord, aber das war mir egal. Zu diesem Zeitpunkt produzierten wir ohnehin einen einzigen, fetten Soundorgasmus. Eine Kakophonie aus verzerrten Tönen, die dazu gedacht war, Chaos hervorzurufen. Die Wände dessen niederzureißen, was unser strukturiertes Leben geworden war.
Caspians Stimme wurde leiser und brüchig, was nicht schlimm war. Wir kamen zum letzten Höhepunkt. Keine Zugabe heute Abend. Wir hatten beschlossen, alles auf der Bühne zu lassen. Alles in einem ekstatischen Set zu geben, sodass alle benommen und zitternd dastehen würden.
Wir hämmerten auf unsere Instrumente ein, so hart wir nur konnten, dann hörten wir genau gleichzeitig auf und ließen den kombinierten Sound gegen die Wände krachen. Ich hatte die Augen geschlossen und stellte mir ein Meer aus Menschen vor. Als ich sie aufmachte, schlug die Realität zu. Die Hälfte des Publikums war gegangen, die Übrigen grölten, als die letzten Töne verklangen und die Rückkopplung aus den Verstärkern krächzte. Der enttäuschende Abschluss einer Show, die zehn Jahre in der Mache gewesen war. Noch etwas, das ich gelernt habe: Wir können unsere Träume niemals voll ausleben.
Klar, es war vielleicht nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber es war trotzdem super. Und als ich mir den harten Kern der Fans ansah, die geblieben waren, und bemerkte, wie das Mädel, das mir seine Möpse gezeigt hatte, sich immer noch wiegte und mir schöne Augen machte, da bedauerte ich nur, dass wir es nicht noch einmal durchziehen konnten. Dies war das letzte Kapitel, der letzte Akt.
Der Bühnenmanager knipste die Scheinwerfer aus und drehte die Lichter über der Bar auf. Der spärliche Applaus ebbte ab, und diejenigen, die geblieben waren, erhoben Ansprüche auf die leeren Hocker.
Caspian trat neben mich. »Wir haben ihnen die scheiß Ärsche aufgerissen«, sagte er und sprach mit dem gekünstelten britischen Akzent, den er sich vor Jahren angewöhnt hatte, um mehr wie Lemmy zu klingen.
Meine Ohren waren taub und klingelten. Wahrscheinlich hatten wir der Hälfte der Zuhörer einen Tinnitus verpasst. »Scheiße, ja, Mann. Wir haben ihnen ihre Gräber geschaufelt.«
Ich drehte mich um und sah Solomon lächeln, während er mit einem leicht benommenen Ausdruck, als wäre er gerade lobotomisiert worden, einen Drumstick zwischen den Fingern drehte. Ganz rechts hatte Kevin die Bassgitarre hingestellt und sich vorgebeugt, um mit einer kraushaarigen Blondine zu reden, deren Ausschnitt tiefer war als der Grand Canyon. Sie war vielleicht irgendwas zwischen fünfunddreißig und fünfzig, was Kevin passte. Sein Typ war alles mit einem Loch.
»Bist du immer noch trocken?«, fragte Caspian.
Ich stellte die Gitarre in den Ständer und nahm mir einen Moment Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Das war eine dumme Frage. Na ja, aber Caspian war ein dummer Mann.
»Klar, Mann. Sieben Jahre.«
»Schade«, sagte Caspian und schüttelte den Kopf. Seine blasse Kopfhaut schimmerte durch die Strähnen seines langen, zurückgegelten Haars. »Andererseits kriegen wir noch eine Runde aufs Haus. Ich nehme deine.«
»Hau rein!«
Ich blieb auf der Bühne, als Caspian und die anderen herunterstiegen und sich einen Weg zur Theke bahnten. Die Leute klopften ihnen auf den Rücken, als sie vorbeigingen, blickten sie dümmlich mit schlaffem Lächeln und trüben Augen an. So hatte einmal unser Leben ausgesehen. Eingezwängt in einen dreckigen Bus, der von Stadt zu Stadt kroch, ließen wir in schmutzigen, halbvollen Kneipen die Trommelfelle von randalierenden Säufern platzen. Und ich hatte jede einzelne Minute geliebt. Aber diese Zeit war vorbei.
Außer heute Abend.
In dieser stinkenden Halle voller Außenseiter waren die Toten wieder auferstanden.
Ein letztes Mal blickte ich von der Bühne und trat dann hinunter. Wieder sterblich.