Читать книгу Reiten nur mit Sitzhilfe - Brigitte Kaluza - Страница 17
Die bewusste Steuerung einzelner Körperteile
ОглавлениеDie Ursache liegt in der zweiten Aufgabe der Großhirnrinde, der isolierten Steuerung einzelner Körperteile. Die Fähigkeit hierzu ist bei landlebenden Wirbeltieren entstanden, denn es ist von offensichtlichem Vorteil, wenn man seine vier Beine nicht nur zusammen in einem Standard-Gangmuster zur Fortbewegung nutzen, sondern auch mal ein einzelnes Bein gezielt und separat bewegen kann, um etwa einem Loch auszuweichen oder nach etwas Essbarem zu greifen.
Um diese Funktion zu erfüllen, haben sich im Laufe der Evolution direkte Nervenbahnen von der Großhirnrinde vor allem zu den Extremitäten, zum Kehlkopf und zur Zunge entwickelt. Diese Nervenbahnen laufen nicht über die Gangmuster-Schaltzentren, sondern daran vorbei, denn sie sind dazu geschaffen, dem Bewusstsein einen direkten motorischen (steuernden) und sensorischen (fühlenden) Zugang zu all denjenigen Körperteilen zu verschaffen, die wir häufig bewusst, isoliert und mit großer Geschicklichkeit bewegen oder an denen wir detailreiche Information erfühlen wollen. Die Regionen der Großhirnrinde, von denen diese Nervenbahnen ihren Ausgang nehmen, heißen in ihrer Gesamtheit „Motorcortex“. Wir haben im Motorcortex eine bewusste Wahrnehmung unseres Körpers, aber diese ist stark verzerrt. Würde man den menschlichen Körper in denjenigen Proportionen darstellen, in denen seine Teile im Motorcortex repräsentiert sind, kämen zwei recht erheiternde Abbildungen heraus (Penfield & Boldrey, 1937), von denen die eine den „motorischen“ Homunculus (in den Proportionen der Steuerbarkeit) und die andere den „sensorischen“ Homunculus (in den Proportionen der Gefühlswahrnehmung) darstellt (Abb. oben). Völlig analog gilt dies im Übrigen auch für das Pferd – die Darstellungen eines motorischen und sensorischen „Hippunculus“ hätten Ähnlichkeit mit Jolly Jumper (dem Pferd des Cartoon-Helden Lucky Luke), also riesige Hufe und ein gigantisches Maul mit gewaltiger Zunge.
Die Skulptur des sensorischen Homunculus stellt den menschlichen Körper in denjenigen Proportionen dar, mit denen er in der Großhirnrinde wahrgenommen wird.
(Foto: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Front_of_Sensory_Homunculus.gif#metadata)
Wir Menschen können demzufolge bewusst und direkt vor allem Mund und Kehlkopf (zum Sprechen und für die selektive Nahrungsaufnahme), die Hände (zum Greifen, Schreiben, Handwerken) und die Füße bedienen, nicht jedoch den Rumpf, denn das „Schlängeln“ und die Grundmuster der Fortbewegung werden von den Gangmuster-Schaltzentren im Rückenmark kontrolliert und vom Kleinhirn dirigiert – hier steuert das Bewusstsein nur indirekt als „Auftraggeber“. Wir haben also eigentlich zwei Systeme zur Steuerung unserer Hände und Füße – die bewusste, direkte Einzelsteuerung über den Motorcortex und die unbewusste, indirekte Steuerung bei koordinierten Laufbewegungen über Kleinhirn und Gangmuster-Schaltzentren. Wenn der Motorcortex einen Befehl zur Einzelsteuerung an eine Hand oder einen Fuß sendet, berechnet das Kleinhirn sofort, wie sich die Körperbalance während der Ausführung mit den übrigen Gliedmaßen halten lässt. Während der bewussten Bewegung einer Extremität wird daher die unbewusste Schlängelbewegung des Rumpfes fixiert. Sie können das leicht beobachten, indem Sie beispielsweise beim Joggen mit der Hand das Telefon bedienen oder den Reißverschluss der Jacke einfädeln – die bewusste Einzelsteuerung ihrer Hände blockiert die Schlängelbewegung des Rumpfes und die Laufbewegung wird dabei sofort steifer und anstrengender.
Das Beispiel illustriert auch, dass unsere bewusste Bewegungssteuerung im Motorcortex in Wirklichkeit nicht ausreicht, um unsere Bewegungen tatsächlich zu steuern. Es funktioniert nur, wenn die Übrigen im Team mitarbeiten – wenn der Komponist in der Großhirnrinde ein Stück für Solisten und Orchester schreibt, muss das Kleinhirn dieses Stück dirigieren, sodass die Schaltzentren der Muskelgruppen als Musiker im Orchester wissen, wer gerade als Solist und wer die Begleitung spielen soll.
Diese Art der Verkabelung unserer bewussten Körperwahrnehmung ist auch der Grund dafür, weshalb die Reitliteratur voll von Zügel- und Schenkelhilfen ist: Die Verfasser dieser Reitliteratur waren selbst meist begnadete Reiter (in deren Kleinhirn das Programm „Laufen mit Pferd“ installiert war), aber sie hatten naturgemäß kaum bewusste Wahrnehmung von ihren dabei stattfindenden Rumpfbewegungen und von der Art, wie sie durch Neuausrichtung ihrer Körperachse auf die Pferdebewegung Einfluss nahmen. Daher beobachteten und beschrieben sie stattdessen, wo sich ihre Hände und Füße bei den einzelnen Lektionen befanden und wie sich Hände und Füße dabei bewegten, obwohl diese Bewegungen eigentlich unwesentlich sind. So lange ihre Reitschüler jung genug durch Üben auf gut ausgebildeten, kooperativen Pferden ebenfalls bereits das Programm „Laufen mit Pferd“ installiert hatten, war dies kein Problem. Das Dilemma beginnt dort, wo ein Mensch ohne diese Programminstallation Reiten lernen will, indem er versucht, die Instruktionen bewusst umzusetzen – sein Motorcortex steuert die Bewegung eines Schenkels oder einer Hand für die entsprechende Hilfe, während sein Kleinhirn dabei die Schlängelbewegung des Rumpfes fixiert. Allein die bewusste Konzentration auf unsere Hände oder Beine bewirkt, dass der Motorcortex die Kontrolle übernimmt, denn das Betriebssystem in unserem Kleinhirn ist so programmiert, dass die bewusste Steuerung immer Priorität hat (Artoni, et al., 2017). Ein solcher Reiter kann daher das Pferd nicht mehr fühlen, geschweige denn mit seiner Rumpfbewegung gezielt beeinflussen. Die Befolgung der Instruktionen für Hände und Füße verhindert, dass das Programm „Laufen mit Pferd“ jemals in seinem Kleinhirn installiert wird.
Als Erwachsene sind wir, zumindest in unserem heutigen Kulturkreis, weitestgehend Verstandesmenschen. Wir können nicht mehr mit der Unbefangenheit eines Kleinkindes Reiten lernen, zumal wir als Erwachsene ein geschärftes Risikobewusstsein haben und daher von Anfang an auch die Kontrolle behalten wollen. Unser bewusster Verstand in der Großhirnrinde ist der Komponist, der im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angibt, das Teammitglied, welches gerne das große Wort führt. Das Kleinhirn, unser innerer Dirigent, wird versuchen, jegliche Komposition mit dem Orchester einzustudieren. Wenn wir es daher versäumt haben, das Reiten als Kinder zu erlernen, müssen wir mit unserem bewussten Verstand eine Komposition erschaffen, die nicht nur von unserem Kleinhirn in die Bewegung eines reitenden Menschen umgesetzt werden kann, sondern auch vom Kleinhirn unseres Pferdes verstanden werden kann. Auch beim Pferd funktioniert das neuronale Steuerungsteam in völlig analoger Weise wie beim Menschen. Ein isolierter Druck einer Schenkel- oder Zügelhilfe auf einen Punkt des Pferdekörpers läuft als sensorische Meldung in der Großhirnrinde des Pferdes ein, wird dort verstanden (oder auch nicht) und in eine Komposition für den Pferdekörper umgesetzt. Selbst wenn das Pferd gelernt hat, was das Klopfen und Zupfen bedeuten soll – es ist in derselben Situation wie der Jogger, der beim Laufen sein Mobiltelefon bedienen muss: Das Verstehen, Verarbeiten und Umsetzen eines Einzelsteuerbefehles blockiert die rhythmische Schlängelbewegung der Gangmuster-Schaltzentren. Daher wirkt das Reiten mit Schenkel- und Zügelhilfen immer hölzern und grobmotorisch. Eine synchrone Bewegung mit dem Pferd ist nur dann möglich, wenn die beiden Dirigenten direkt über die unterbewusste Propriozeption zusammenarbeiten, wenn also Mensch und Pferd ihre Rumpfbewegungen koppeln.
Die Synchronisation mit der Pferdebewegung verbessert sich daher, wenn der Reiter lernt, die Dominanz seiner Großhirnrinde bei der Bewegungssteuerung bewusst zu unterdrücken. Eine Methode, dies zu erreichen, hängt mit der Fokussierung des Blickes zusammen: Seit der Zeit der Urwirbeltiere reißt unser Großhirn sofort die Kontrolle an sich, sobald wir etwas mit dem Blick fixieren. Umgekehrt hält es sich zurück, wenn wir unseren Blick nicht auf ein bestimmtes Objekt fokussieren, sondern bewusst unser gesamtes, auch peripheres Blickfeld wahrnehmen. In einigen Reitlehren, beispielsweise dem „Reiten aus der Körpermitte“ von Sally Swift spielt daher der „weiche“ Blick eine wichtige Rolle (Swift, 1989).