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Spiel und Ziel – die unterschiedlichen Begabungen der menschlichen Gehirnhälften
ОглавлениеKinder erlernen die gemeinsame Bewegung mit dem Pferd vor allem deshalb so leicht, weil sie es spielerisch tun, nur im Moment lebend und aus Freude an der Bewegung. Erwachsene dagegen haben in der Regel einen Plan, wie sie mit dem Pferd umgehen wollen. Kinder setzen beim Reiten vorrangig ihre rechte Gehirnhälfte ein, Erwachsene ihre linke.
Auf den ersten Blick sind die beiden Hälften des Gehirns funktionsäquivalent – jede Gehirnhälfte steuert eine Körperhälfte, wobei wegen der Überkreuzung der Nervenbahnen die linke Hirnhälfte die rechte Körperhälfte steuert und umgekehrt. Bei Affen lässt sich jedoch beobachten, dass die linke Hand (gesteuert von der rechten Hirnhälfte) bevorzugt zum Fangen bewegter Objekte genutzt wird, während die rechte Hand (gelenkt von der linken Hirnhälfte) bevorzugt zum Festhalten an einem Objekt dient (Rogers, 2009). Vor etwa 2,5 Millionen Jahren begannen die Vorfahren des Menschen jedoch, sich mehr und mehr im Gebrauch von Werkzeugen zu üben und verwendeten hierzu bevorzugt ihre rechte Hand, denn ein Werkzeug muss man gut festhalten. So trainierten sie gleichzeitig die zugehörige linke Gehirnhälfte für diese Aufgabe. Machen wir uns kurz bewusst, was die Aufgabe „Werkzeuggebrauch“ beinhaltet: Man muss ein Ziel haben, was man mit dem Werkzeug erreichen will, eine Vorstellung, wie das Werkzeug dafür einzusetzen ist, und einen Plan, welche Bewegungen und Handgriffe nacheinander auszuführen sind. Die hoch entwickelte menschliche Intelligenz ist eng verknüpft mit diesem „Begreifen“ und der logischen Aneinanderreihung verschiedener „Begriffe“. Unsere Sprache und unsere schriftliche Überlieferung basieren auf der Abfolge von Begriffen, Zeichen und Symbolen. Sprache wird von unserer linken Hirnhälfte erzeugt. Entsprechend ist unsere linke Gehirnhälfte durch Evolution und ständiges Training hoch spezialisiert, einen Plan zum zielgerichteten Handeln zu entwickeln, zu verstehen und umzusetzen – und diese Erfahrung anderen mitzuteilen.
Die menschliche Intelligenz kommt jedoch durch das Zusammenwirken beider Gehirnhälften zustande. Einen einzigartigen Einblick in deren unterschiedliche Funktionen gibt die Hirnforscherin Jill B. Taylor, die ihren eigenen Schlaganfall überlebte und die damit verbundenen Erfahrungen in einem Buch beschrieben hat (Taylor, Mit einem Schlag, 2008) (Taylor, 2006). Während Blutgerinnsel ihre linke Gehirnhälfte ausschalteten, erlebte sie die Welt aus der Sicht ihrer rechten Gehirnhälfte – eine sprachlose Welt, in der Raum und Zeit eins wurden. In einem jahrelangen Prozess der Rekonvaleszenz erlangte sie jedoch wieder die Fähigkeit zu sprechen und zu schreiben und konnte so von dieser Erfahrung berichten. Ihr Buch bietet einen einzigartigen Einblick, wie das Zusammenspiel der beiden Hirnhälften die Facetten der menschlichen Persönlichkeit formt:
In der rechten Hirnhälfte geht es nur um das Hier und Jetzt, sie empfindet das Glück und die Freude des Augenblicks. Sie denkt in Bildern und nimmt den eigenen Körper ohne Grenzen als Bestandteil des Universums wahr. Sie versteht die unterschwelligen Hinweise der Sprache, wie etwa Gesichtsausdruck und Körpersprache, sie betrachtet das Gesamtbild der Kommunikation und bewertet die Übereinstimmung des Ganzen. Die rechte Hirnhälfte erzeugt in unserem Bewusstsein Empathie, Mitgefühl und Intuition.
Die linke Hirnhälfte versteht die Details, sie versteht die Buchstaben und wie sie zusammen Wörter ergeben, die aneinandergereiht eine komplexe Botschaft übermitteln. Die linke Hirnhälfte denkt in Sprache, in Form einer inneren Stimme, die sagen kann „ich bin“, wodurch wir in unserem Bewusstsein zu unabhängigen Wesen werden, einzigartige feste Körper, getrennt vom Ganzen. Die linke Hirnhälfte erzeugt in unserem Bewusstsein das Ichgefühl und die Fähigkeit zu logischem Denken. Sie ist ehrgeizig, vergleicht sich ständig mit anderen und möchte die gesteckten Ziele erreichen.
Beide Hirnhälften arbeiten zusammen: Die linke Hirnhälfte reiht die von der rechten Hirnhälfte geschaffenen Bilder eines Momentes in zeitlicher Abfolge auf und vergleicht die Details dieses Momentes mit denen des letzten. Dadurch entstehen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die linke Hirnhälfte macht uns die Ausmaße unseres Körpers bewusst, während die rechte Hirnhälfte uns hilft, ihn dort zu platzieren, wo wir ihn hinbewegen möchten.
Je nach Situation und individueller Persönlichkeit kann die dominante Rolle von der linken oder der rechten Hirnhälfte übernommen werden. Durch die Erziehung zum Lesen, Schreiben und planvollen Strukturieren des Tagesablaufes wird bei Menschen der modernen Kulturen meist spätestens im Erwachsenenalter die linke Hirnhälfte dominant.
Für die Kommunikation mit einem Pferd ist es jedoch nicht ideal, wenn unsere linke Hirnhälfte dominiert. Pferde haben in der Evolution weder den Gebrauch von Werkzeugen noch die Kommunikation über Symbolabfolgen oder Worte entwickelt. Pferde kommunizieren untereinander fast ausschließlich über Körpersprache. Wir dürfen daher annehmen, dass ihre „Pferdsönlichkeit“ eher unserer intuitiven Persönlichkeit ähnelt, die vom Einfluss der rechten Hirnhälfte erzeugt wird. Reiten mit Sitzhilfen wird auch aus diesem Grund von Pferden weitaus besser verstanden als Reiten über erlernte Abfolgen von Zügel- oder Schenkelhilfen!
Um ein Pferd mit Sitzhilfen reiten zu können, brauchen wir jedoch vor allem auch das Körperbewusstsein unserer rechten Hirnhälfte. Wir brauchen ihre Fähigkeit, den eigenen Körper als „unbegrenzt“ wahrzunehmen, um mit der Pferdebewegung eins werden zu können. Das Fahrradfahren kann nochmals als Beispiel dienen, um das Zusammenspiel von linker und rechter Hirnhälfte beim Erlernen von komplexen Bewegungen zu verdeutlichen: Wir können uns die theoretischen Kenntnisse aneignen, wie Fahrradfahren funktioniert (linke Hirnhälfte), aber um tatsächlich Fahren zu lernen, müssen wir spielerisch die Balance finden zusammen mit dem externen Objekt Fahrrad – wir brauchen die Fähigkeit der rechten Hirnhälfte zur erweiterten Körperwahrnehmung.
Die folgenden Kapitel bieten viel theoretisches Wissen für die linke Hirnhälfte. Wenn es Ihnen gelingt, diese Modelle und Vergleiche als „bewegte Bilder“ vor Ihrem inneren Auge zu visualisieren, hat ihre rechte Hirnhälfte „verstanden“. Wenn Sie auf dem Pferd sitzen – vergessen Sie die Theorie und geben sich stattdessen dem Glücksgefühl der gemeinsamen Bewegung hin. So geben Sie ihrer rechten Hirnhälfte die Leitung im Team der neuronalen Steuerung und werden offen für das Fühlen einer Bewegungssymbiose mit dem Pferd.
Ehrgeiz, Vergleiche und Trainingspläne dagegen übergeben die Kontrolle der linken Hirnhälfte. Reiten als sportlicher Konkurrenzkampf unterdrückt die empathische rechte Hirnhälfte und damit das Gefühl des Einswerdens mit dem Pferd.