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Sittlich-soziales Engagement und Erwerbstätigkeit
ОглавлениеEin Blick auf die nationale Ebene zur Zeit des ersten Zentralvorstands nach der Gründung des SVF am 28. Januar 1909 verweist ebenfalls auf den gut situierten, elitären Charakter der Verbandsführung. Unter den sieben Vorstandsmitgliedern gilt dies jedenfalls für den Präsidenten Auguste de Morsier, die Vize-Präsidentin Klara Honegger (1860–1940), Tochter eines Zürcher Regierungsrats, die Sekretärin Antonia Girardet-Vielle und die Beisitzerin Marie Courvoisier.153 Ein weiteres markantes Charakteristikum der Gruppe ist das Gewicht des sozialen Engagements im Leben der Beteiligten. Neben de Morsier und Courvoisier hatten mindestens auch Klara Honegger und Louisa Thiébaud (1869–1940) durch ihr Engagement in der Sittlichkeitsbewegung erste politische Erfahrungen und waren sozialreformerisch tätig.
Eine spätere Momentaufnahme der acht Sektionspräsidentinnen, die 1959/60 einen Beitrag im Aktivitätsbericht des SVF über seine letzten 25 Jahre verfassten und über die Daten vorhanden sind, zeigt sowohl Elemente des Wandels als auch der Kontinuität in der soziokulturellen Zusammensetzung des SVF auf lokaler Ebene. Es handelte sich um die Präsidentinnen der Kantone Genf, Neuenburg, Waadt, Basel (Stadt und Land), Tessin, Zürich, Bern und Solothurn.154 Die Genfer Präsidentin Marcelle A. Prince-Koiré (1892–1975), in Batumi in Georgien geboren, war die Tochter eines russischen Reeders und einer Französin, die seit 1901 in der Schweiz lebte und im Ersten Weltkrieg als freiwillige Krankenpflegerin in Marseille im Einsatz gewesen war. Sie lebte in grossbürgerlichen Verhältnissen und engagierte sich nach 1960 in der Liberalen Partei. Die in Schaffhausen geborene Clara Waldvogel (1889–1972), Tochter eines Deutschlehrers des Collège latin in Neuenburg, war in derselben Stadt Lehrerin für Deutsch und Englisch an der Mädchensekundarschule, Pazifistin, Freundin des Gründers des Service Civil International Pierre Cérésole und Mitglied des Schweizerischen Frauen-Alpenclubs, der 1918 nach dem Ausschluss der Frauen aus dem SAC 1907 gegründet worden war. Auch ihr Bruder war ein pazifistischer Aktivist; er war Mitglied der Gruppe der antimilitaristischen Pastoren. Als Tochter eines Neuenburger Pastors und einer Schottin dürfte auch die Waadtländer Präsidentin und Anwältin Antoinette Quinche in einem Elternhaus mit hohen moralischen Ansprüchen an den Einzelnen und die Gesellschaft sozialisiert worden sein. Eine Prägung durch die Sittlichkeitsbewegung findet sich ferner bei der Basler Lehrerin Anneliese Villard-Traber (1913–2009), die ihren Mann – einen Dienstverweigerer – in der schweizerischen abstinenten Jugendbewegung kennengelernt hatte. Ein gemeinnütziges Engagement neben demjenigen für das Frauenstimmrecht prägt auch die Biografie von Marie Jäggi-Schitlowski (1904–1981), Tochter russischer Einwanderer, Fürsprecherin und mit einem Kunstmaler verheiratet, die nicht nur Vorstandsmitglied des Frauenstimmrechtsvereins Bern, sondern auch der Sektion Bern des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins war. Ihre Co-Präsidentin des Frauenstimmrechtsvereins Bern, Adrienne Gonzenbach-Schümperli (1900–1987), war als Lehrerin tätig. Seit den 1930er-Jahren war sie in der FDP engagiert, wo sie die lokale Frauensektion aufgebaut hatte. Die Tessinerin Alma Zeli-Bacciarini (1921–2007), die jüngste dieser Gruppe, war die Tochter eines Ingenieurs. Nach einem Studium der französischen und italienischen Literatur in Zürich und Genf wurde sie Mittelschullehrerin. Zwischen 1954 und 1963 war sie auch Vizepräsidentin des Schweizerischen Verbands. Nach Einführung des Frauenstimmrechts sass sie für die FDP im Grossen Rat und im Nationalrat.155 Die Zürcherin Erika Grendelmeier (1906–1988), ursprünglich Deutsche, Tochter eines Kaufmanns, war die Ehefrau des langjährigen LdU-Nationalrats und Anwalts Alois Grendelmeier. Sie präsidierte den Zürcher Frauenstimmrechtsverein von 1954 bis 1962. Als eine der wenigen Hausfrauen in der Leitung des Stimmrechtsvereins diente sie laut Gertrud Heinzelmann «als Aushängeschild zur Demonstration ‹normaler Weiblichkeit› in der Öffentlichkeit».156