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FIEBER
ОглавлениеEr hatte das Schriftstück selbst in den Händen gehabt...
Daß ein eifernder Papst wie Pius die Sittenfreiheit seiner Hauptstadt haßte, war natürlich. In jeder Schwäche sah er die Todsünde, war keiner Vorstellung zugänglich, kannte kein Mittel als erbarmungslose Strenge. Gleich zu Anfang seines Pontifikats schritt er dazu, Todesstrafe auf Ehebruch zu setzen. Mit genauer Not beließ er es dann bei Auspeitschung und lebenslangem Kerker. Davor schützte nicht Rang noch Verdienst.
Das Kurtisanenwesen auszurotten, war er entschlossen. Zwar die Zeit war lange vorbei, da die freilebenden Frauen über die römische Gesellschaft unumschränkt herrschten, da in ihren Salons die Kardinäle, Gesandten und Künstler sich glänzendes Stelldichein gaben, da der Hausstand einer Imperia den Zuschnitt eines Fürstenhofs zeigte und der Zutritt bei ihr schwerer zu erlangen war als eine Papstaudienz.
Aber der kosmopolitische Charakter der geistlichen Hauptstadt, die Ehelosigkeit ihrer herrschenden Schicht, ließen auch in graueren Zeiten die Zahl der käuflichen Frauen nicht sinken. Noch immer hatten sie in den stattlichsten Straßen ihre Wohnungen, im Viertel der Prälaten und Hofbeamten, der Bankiers und reichen Nichtstuer, an der Via Giulia also, der Via Sistina, am Canale di Ponte. Sie lebten geachtet, und was es in Rom an Geschäftsleuten gab, existierte durch sie.
Für Pius waren sie Teufelsbrut. Am liebsten hätte er sie sämtlich verbrannt. Nicht lang sah er zu. Ein bündiges Dekret erschien, das die Frauen verbannte: binnen sechs Tagen hatten sie Rom zu verlassen, binnen zwölf Tagen den Kirchenstaat. Dann war die heilige Hauptstadt gereinigt, dem Gebot Genüge getan, dann war Ruhe.
Aber es gab keineswegs Ruhe. Es gab Aufregung. Wer Handel trieb und Waren umsetzte, war völlig verzweifelt. Die Kaufleute, die den Frauen Kredit gegeben, meldeten sich ruiniert. Die Zollpächter traten zusammen und erklärten, künftig werde die Staatskasse einen Ausfall von jährlich 20000 Dukaten zu tragen haben; so stark werde die Einfuhr von Luxuswaren zurückgehen, wenn man die Kurtisanen vertreibe. Rom, hieß es, werde entvölkert. Mit einer Abnahme der Bewohnerzahl um ein Viertel sei sicher zu rechnen. Und warum das alles, warum... Aber deutlicher wagte niemand zu werden. Das geistliche Gericht wachte und lauschte.
Eine Abordnung von vierzig wohlbeleumdeten Bürgern erschien beim Papst in Audienz. Sie waren umsonst sehr beredt. Entweder die oder er, sprach der Mönch. Im heiligen Rom, wo so viel Märtyrerblut geflossen sei, so vieler Heiligen Reste ruhen, wo die Religion ihr Zentrum, Petri Nachfolger seinen geweihten Sitz habe, sei für Huren kein Platz. Entweder er oder die: eher werde er seine Residenz an einen minder verderbten Ort legen, als dies noch weiterhin dulden. Man möge sich bescheiden.
Man beschied sich durchaus nicht. Eingabe folgte auf Eingabe. Kardinäle der freieren Richtung intervenierten vergeblich. Die Gesandten von Florenz und von Portugal, ja der von Spanien, ließen sich vorschieben und erlitten strenge Zurechtweisung.
Der Auszug begann. Hausbesitzer und Händler rangen die Hände. Die Frauen machten sich auf: in Pferdesänften und Kutschen die reichsten, die anderen zu Maultier und Esel. Einige strebten Genua zu, manche Neapel, nach Venedig sehr viele. Sie führten mit sich, was sie besaßen. Aber sie kamen nicht weit. Der Staat des Heiligen Vaters, schon die nächste Umgebung der Residenz, war voll von Räuberbanden. Rechts und links der elenden Straßen lagen sie unverschämt auf der Lauer, von keiner Polizei ernsthaft behelligt. Von den Frauen, die trüb ihres Weges zogen, wurden eine große Zahl überfallen und ausgeraubt, mehrere wurden ermordet. Die Entronnenen kehrten ratlos, verstört und verzweifelt, nach Rom zurück.
Dies führte zur Duldung derer, die noch nicht abgereist waren. Sie mochten bleiben. Aber die Mitte der Stadt, überhaupt alle Quartiere, darin ehrbare Bürger sich aufhielten, wurden von ihnen gesäubert. Man bestimmte ihnen ein Ghetto, eben jenes verwahrloste und abgelegene Viertel beim Grab des Augustus. Elegante Hetären, die ihren Catull lasen und in vier Sprachen konversierten, wurden mit groben Liebesmägden zusammengesperrt. Bei Nacht und bei Tag durfte keine diesen Seraglio verlassen, bei Strafe der Auspeitschung.
Das war vor drei Jahren gewesen. Niemand außer dem Papste selbst stand so recht zu diesem Gesetz. Die Beamten drückten ein Auge zu. Das Gebot wurde durchbrochen, umgangen, geriet in Vergessenheit. In jenen Gassen blieb bald nur gröberes Frauenvolk zurück. Die anderen, protegiert durch Verehrer, wohnten von neuem verstreut in guten Quartieren. Der frühere Zustand, bescheidener freilich, stellte sich her. Man sah die Kurtisanen nur an ihren Fenstern. Verließen sie einmal das Haus, um unter Männer zu gehen, so besuchten sie Kirchen. Kirchgang entschuldigte vieles.
Da brachte in diesem Winter eine Denunziation den Dominikaner aufs neue in eifernden Zorn. Er verlangte genauen Bericht, sah, wie es stand, und griff abermals zu.
Listen wurden gefertigt. Von einer Stunde zur andern, auf einen Schlag, drang die gemaßregelte Polizei in die Wohnungen, ergriff die Nichtsahnenden und trieb sie zusammen. Dem Hausherrn, der künftig noch eine von ihnen zu herbergen wagte, wurde Kerker auf Lebenszeit angedroht. Das Ghetto beim Augustusgrab sollte ummauert werden. Pius zog einen Pestkordon um die fleischliche Lust.
Der junge Miguel Cervantes hatte jene Liste selbst in der Hand gehabt, und sie seinem Kardinal hingereicht, der das Bleisiegel anlegte. Er hatte sie nicht beachtet, die Liste, was ging sie ihn an! Nun sah er das Blatt wieder vor sich, in furchtbarer Vergrößerung, mit jedem Schnörkel des Schreibers. „Die Dirnen Panada, Toffoli, Scappi, Zucchi, Zoppio...” Regina Toffoli, das war sie.
Seine Natur parierte den furchtbaren Einbruch von Scham und Gram, sie wich aus, er wurde krank. Als kleinem Bübchen daheim in Alcala war es ihm einmal ähnlich ergangen: als ihn zwei größere und stärkere Knaben überfielen, ihm die Hände banden und den Wehrlosen durchprügelten. Fast wäre er daran gestorben. Es war damals wie heute ein starkes Fieber, unter Erlahmen wichtiger Leibesfunktionen, subjektiv ein durchaus erträglicher Zustand: Schmerzen fehlten zunächst, und ein sanftes Delirium hob ihn aus der Realität.
So lag er in seiner Turmstube auf schlechtem Bett. Niemand bekümmerte sich um ihn. Ein stumpfsinniger Zisterzienser brachte ihm zweimal abgestandenes Essen, als es unangerührt blieb, erschien er garnicht mehr.
Am fünften Tag vermißte Fumagalli den Schützling. Er erschrak, als er ihn mit glühendem Haupt und unnatürlich leuchtenden Augen auf seinem Strohsack erblickte, neben sich ein Schaff mit zweifelhaft sauberem Trinkwasser. Es war eiskalt in dem unheizbaren Raum, in den es durch vier Fenster hereinzog.
Der Kanonikus schlug den Kranken in die wollene Bettdecke, hob ihn auf wie ein Wickelkind und trug ihn über Stiegen und hallende Korridore in sein Zimmer hinüber. Cervantes ruhte nun auf bequemem Lager, die Augen vom Licht abgekehrt, zwischen den Hannibalsteppichen.
Der Arzt kam, Doktor Ippolito Benvoglienti, hochstirnig, feierlich, in feinstes schwarzes Tuch gekleidet. Er sah und prüfte, horchte und klopfte. Das dauerte lang.
„Ein hitziges Fieber,” erklärte er schließlich.
„Ich habe schon gemeint, er kriegt ein Kind!” sagte der Kanonikus höhnisch.
Der beleidigte Gelehrte verschrieb Medizinen und zog sich zurück.
Fumagalli ließ sich ein Feldbett aufschlagen. Er verließ sein Söhnchen keine Stunde. Er wusch ihn und legte ihm lauwarme Wickel an. Da der Leib sich hart und geschwollen anfühlte, verabreichte er ihm ein Klistier, dem er Öl, Kamillen und Anis zusetzte, und das seine Wirkung tat. Am dritten Tage stellten sich Kopfschmerzen ein. Der Kanonikus legte auf Miguels Schläfenadern zwei Mastixpflaster. Am vierten Tag ließ das Fieber nach, am fünften war es verschwunden.
Fumagalli ging selbst in die Küche hinüber und probierte die Suppen. Nichts war ihm recht, er zerschmiß zwei Teller, die Köche zitterten.
Einmal, als er mit der dampfenden Brühe zurückkam, fand er Miguel in Tränen. Er stellte die Schüssel warm. Er ließ ihn weinen.
„Iß,” sagte er dann. „Grüble nicht mehr. Es liegt hinter Dir. Die Welt ist weit.” Er hatte ihm nie eine Frage gestellt.
Eine nahe Uhrglocke schlug zwölf. „Ich muß fort,” sagte Fumagalli, „Messe lesen. Ich hab einen Rüffel gekriegt.”
„Dann eilt Euch, mein Vater! Ne fiat missa serius quam una hora post meridiem,” zitierte Miguel mit schwachem Lächeln.
„Aber hernach lesen wir,” rief Fumagalli unter der Türe, „und ganz etwas Anderes!”
Dies Andere war Fumagallis Lieblingswerk: die Kommentare Caesars.
Miguel kannte das Buch, aber der Kanonikus wußte es beinahe auswendig. Langsam las er mit seiner Baßstimme. Cervantes lag und lauschte. Am gleichmäßigen Tritt der Legionen in Gallien beruhigte sich sein Blut. Aus den Felsen der Gobelins schaute das Haupt des Puniers ihm gerade und kühn in Gesicht.
Er gesundete und wollte aufstehen. Der Kanonikus erlaubte es nicht. Der alte Mann war glücklich bei dieser Pflege.
Von näheren Kriegsereignissen war jetzt zwischen ihnen die Rede. Fumagalli brachte die Nachrichten. Es handelte sich um die Türken, um Zypern und um das Mittelmeer.
Schwer vollzog sich die Einigung zwischen den christlichen Staaten. Man war fromm und ergrimmt, aber zäh und verschlagen und äußerst genau. Frankreich sperrte sich völlig, in Wien der Kaiser hatte Bedenken, zwischen Philipp, dem Papst und Venedig, die übrigblieben, erhob sich ein Feilschen um die Ausrüstung jeder Galeere, um jede Getreidelieferung. Philipp vor allem war ein höchst kaufmännischer Partner. Er schob auf und wog ab und gab nicht Bescheid. Jede Beihilfe zu der gottgefälligen Unternehmung ließ er sich abkaufen. Um den Zwieback jedes Ruderknechts wurde gemarktet.
Aber jede entweichende Woche machte die Lage kritischer. Schon war auf Zypern Nicosia gefallen, die Hauptstadt Famagusta ohne Hoffnung bedroht, Kreta, Korfu und Ragusa in naher Türkengefahr.
Endlich hieß es, es sei so weit: von den Kriegskosten werde der Papst ein Sechstel übernehmen, Venedig zwei Sechstel, Spanien die Hälfte.
Wenn der Kanonikus derlei berichtete und gegen die Knauser und Zauderer loszog, hörte der genesende Miguel kaum hin. Diese trübe und lächerliche Realität bestand nicht für ihn. Das Innerste seiner Natur kehrte sich ab von ihr. Glaube und Heldentum, ungebrochen und strahlend, das war seine Wirklichkeit. Und der kriegerische Bauer im Priesterkleid war nicht der Mann, das zu tadeln.
Aus dem Elternhause in Alcala kam in diesen Tagen ein lang erwarteter Brief. Nach umständlichen Ratschlägen und Segenswünschen enthielt er auch Nachricht über Bruder Rodrigo. Rodrigo war wirklich Soldat geworden. In den Kämpfen gegen die letzten spanischen Mauren, im wilden Gebirge südlich Granadas, hatte er sich Ansehen verdient und würde nun seinem Feldherrn zur Flotte folgen, in den Entscheidungskampf gegen den Sultan.
Wer war dieser Feldherr? Don Juan d’Austria. Prächtiger Name, für Miguel nur ein Schall. Er fragte den Priester. Der wußte Bescheid. Es war erstaunlich, wie er Bescheid wußte, es war gefährlich.
„Ein Sohn vom Kaiser Carolus ist das, Söhnchen,” erzählte er hitzig. „Ganz jung noch, keinen Tag älter als Du. Ein Halbbruder von Deinem Philipp, den ich Dir schenke. Die Mutter war eine Deutsche. Schön soll er sein wie ein Gott und nichts träumen als Siege. Dein Philipp hat einen Kardinal machen wollen aus ihm, das versteht sich. Aber jetzt ist er Großadmiral und zieht gegen die Türken, und wenn’s nach unserem Oberhaupt im Hause hier geht, dann gibt’s einen Kreuzzug, und Don Juan erobert das heilige Grab.”
Das Gemüt des jungen Miguel war ein gelockerter Acker. Jedes Wort ging auf. Da er ein Mensch der Phantasie, der sinnlichen Vorstellungskraft war, sah er den Kaisersohn vor sich, in weißem Glanz, seine schönen Züge wurden eins mit denen des Puniers, der unter einem Renaissancehelm mit flatterndem Busch auf sein Lager herabsah. Wäre es möglich, Rom zu verlassen und dieser Standarte zu folgen! Rom war ihm verhaßt nach dem, was geschehen war. Und zum Kleriker war auch er nicht geschaffen, so wenig wie der, der den Kardinalshut ausschlug. Er genas und erwog.
Da brachte Fumagalli die Einzelheiten vom Falle Nicosias. Den Verteidigern der venezianischen Feste war freier Abzug zugesagt worden. Aber die Türken brachen das Abkommen, und zwanzigtausend entwaffnete Menschen fielen ihrer Mordlust zum Opfer.
Das war entsetzlich. Der fromme Christ und der fühlende Mensch waren in Miguel entflammt. Er wog nicht ab und er fragte nicht. Er dachte auch keineswegs an die Untaten, die sein eigenes Spanien an Andersgläubigen beging, nicht an Folter, Austreibung, Mord, die seit Isabellas und Ferdinands Tagen hunderttausendfach gegen Mauren und Juden gewütet hatten. Da herrschte Gottes Gebot, und der Zweifel war Sünde. Christenmord war ein Anderes.
An diesem Tage war ihm erlaubt, zum ersten Mal aufzustehen. Aber Fumagalli hätte das nicht erzählen sollen. Entgeistert sah er die Wirkung. Das Fieber war wieder da, ein heftiger Rückfall. Der Kranke warf sich und schrie. Fumagalli mußte ihn mit beiden Händen festhalten in seinem Bett.
„Du mußt auch nicht alles gleich glauben!” sagte der Alte, als der Anfall vorüber war, „die Menschen lügen ja auch.”
Aber es war viel zu spät.