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KAPITEL 2 – Abendessen

Stille herrschte im Raum. Amanda war noch nie eine Dame vieler Worte gewesen. Meistens sprach sie kurz und knapp, so wenige Wörter wie nur möglich verschwendend. In der Kürze liegt die Würze.

«Heute Abend serviere ich Ihnen die Spezialität: Gespickter Rindsbraten mit Kartoffelpüree und Gemüsegarnitur.» Unser Chefkoch sprach mit einem leichten französischen Akzent. Das klang süss. Er zog die silberne Glocke von den Tellern und die Spezialität kam zum Vorschein. Eine junge Angestellte des Hauses legte mir eine Serviette auf die Knie, als ob ich so etwas nicht selbst tun könnte.

Heute Abend fand ich lediglich eine Gabel und ein Messer neben meinem Teller. Es gab Abende, an denen ich mehr als bloss verzweifelte, wenn ich das ganze Bestecksortiment neben mir vorliegen fand. «Guten Appetit!» Ich erwiderte es und biss in das noch leicht knackige Gemüse, genau wie ich es gerne mochte. «Lorena…» Ich schaute von meinem Essen auf, überrascht, dass sie ein Gespräch beginnen wollte. Normalerweise genossen wir die Speisen immer in trübseligem Schweigen, aber es sollte mir recht sein. «Wir wurden kurzfristig zu einem Ball eingeladen.» Sie blickte mich streng an. «Was heisst das für mich?», fragte ich unsicher. «Dass du dich benehmen sollst.» «Amanda, wann habe ich das schon einmal nicht?!», erwiderte ich angriffslustig. Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. Natürlich konnte ich mich an die Geschehnisse auf dem letzten Ball erinnern. Sagen wir’s so, der Kronleuchter paarte sich mit dem Boden, weil ich vielleicht dummerweise über ein am Boden liegendes Kabel im Sperrbereich gestolpert war. «Soll ich anfangen?», fragte sie mich über den langen Tisch. Sie wollte mir meine Ungeschicktheit unter die Nase reiben. «Ich hab’s verstanden.»

«Es ist ein Ball von hoher Wichtigkeit. Ich werde die Begrüssungsrede halten.» Jetzt verstand ich es noch besser. Sie wollte einen guten Eindruck hinterlassen. «Ich kann auch zu Hause bleiben», sagte ich wenig begeistert über den anstehenden Ball. Ich hatte schon viele Bälle erlebt und sie waren weniger spektakulär, als der Name es versprach. «Natürlich wird mich meine Tochter begleiten.» Ich mochte dieses Wort nicht. Tochter. Für die Öffentlichkeit war ich ihr eigen Fleisch und Blut. Doch für mich war es Verrat an meiner biologischen Mutter. «Ich werde einen dunkelvioletten Hosenanzug tragen, mit grossen Knöpfen und einem passenden Hut», schwelgte Amanda in der Zukunft. «Ich werde morgen die Schneiderin kommen lassen.» Sie sprach eigentlich mit sich selbst. Ich widmete mich langsam wieder meinem Essen, das drohte kalt zu werden. «Und wie sieht es bei dir aus?» «Was meinst du?», fragte ich mit vollem Mund. Sie warf mir wieder einen ihrer Mutterblicke zu, der mir sagen sollte: «Benimm dich!»

Schon klar, ich war ihr peinlich, sogar in den eigenen vier Wänden. «Wir könnten mit den gleichen Farben hingehen» «Lieber würde ich sterben, als mit dir im Partnerlook aufzutauchen», gestand ich, nach dem ich mich beinahe an einem grossen Stück Fleisch verschluckt hätte. «Dann sei morgen um 9:00 Uhr unten im Eingangsbereich!», zischte sie mir entgegen und es kam mir vor, als sei sie beleidigt. «Wir haben einiges zu tun morgen.» «Ja, apropos zu tun», versuchte ich und legte mein Besteck nieder. Innerlich versuchte ich gerade genug Kraft zu tanken, damit ich mit meiner Bitte hervorrücken konnte. «Wir haben noch Sommerferien, das wäre die perfekte Gelegenheit Schulbücher zu kaufen.» Es war ihr völlig klar, worauf ich hinauswollte. «Du hast doch noch alles, was du brauchst.» Sie wusste, wie sie sich ihre Vorahnung nicht anmerken lassen konnte. «Nein, habe ich nicht.» Ich wurde wütend. «Ich sollte eine High-school-Zusage auf meinem Schreibtisch liegen haben.» «Nein!», sagte sie barsch und unterbrach mich somit. «Solltest du nicht.» Sie wollte sich wieder ihrem Essen widmen, aber ich redete auf sie ein, dass sie keinen Happen geniessen konnte. «Du weisst ganz genau, dass du mich nicht ewig in diesem Haus gefangen halten kannst.» «Jetzt hör aber auf!» Sie versuchte mich mit ihren Blicken zurechtzuweisen. Ich hielt ihr entgegen, das war das erste Mal, dass ich Blickkontakt mit ihr halten konnte und nicht wegsah. «Ich habe es satt zu Hause unterrichtet zu werden.» Ich wurde lauter. «Das Einzige, was ich will, ist eine Schule zu besuchen. Mehr verlange ich nicht.» Amanda sah mich ernst an, ihre Augen funkelten wütend. Dann erhob sie sich bestimmend, mit einem neutralen Gesichtsausdruck. «Geniess dein Abendmahl» und schon verliess den Speisesaal. Wütend schmiss ich die Gabel in ihre Richtung, doch sie prallte am Türrahmen ab. «Miss Gray, wollen Sie einen Nachschlag?» Der Chefkoch betrat nichts ahnend den Raum. «Nein, will ich nicht!», schrie ich ihn an, sodass er beinahe den Schöpflöffel fallen liess. Auch ich stand auf und rannte in mein Zimmer hoch. Wie konnte Mama zulassen, dass ich zu einer solchen Hexe ziehen musste. Es war gross und fett in ihrem Testament vermerkt worden, falls ihr was zustossen sollte, würde ihre Schwester das Sorgerecht erhalten. Anfangs war es noch okay, aber im Laufe der Jahre hatte Amanda sich verändert. Der Reichtum hatte ihr nicht gutgetan. Er vernebelte ihre Sinne und nun war sie eine Egoistin geworden.

Ich suchte mein Handy aus der Hosentasche heraus und checkte meine Nachrichten. Julia hatte mir geschrieben. Er war so süss und er hatte Interesse. Das war alles, was sie in der Eile wohl schreiben konnte. Ich schrieb ihr zurück und suchte dann aus dem Internet die nächsten Bälle in der Umgebung heraus. Der kommende Ball war einer von Mrs. & Mr. Morgan. Das war eines der angesehensten, reichsten Paare in dieser verkümmerten Stadt. Normalerweise gab es immer Gründe, warum sie ein Fest in dieser Grösse veranstalten wollten. Das erfuhr man aber erst immer vor Ort, was es noch interessanter machte, da aufzukreuzen. Ich legte das Handy zur Seite und starrte meine Zimmerdecke an. Was sollte ich nur anziehen?

Ghost of time - Zeitgeist

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