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Mark fand schließlich heraus, dass man erwartete, er werde wenigstens die eine Nacht bleiben, und als er hinaufging, um sich zum Abendessen umzukleiden, hatte sich seine Stimmung gebessert. Dies lag zum Teil an einem Whisky-Soda, den er unmittelbar zuvor mit ›Fee‹ Hardcastle getrunken hatte, und zum Teil daran, dass der Wattebausch auf der Oberlippe inzwischen entbehrlich geworden war, wie er durch einen Blick in den Spiegel feststellte. Auch das Zimmer mit seinem hellen Kaminfeuer und dem eigenen Bad hatte etwas damit zu tun. Wie gut, dass er sich von Jane hatte überreden lassen, diesen neuen Abendanzug zu kaufen! Er sah sehr gut aus, wie er da auf dem Bett lag; und Mark sah jetzt, dass der alte es nicht mehr getan hätte. Am meisten Mut aber hatte ihm das Gespräch mit der Fee gemacht.

Man konnte nicht gerade sagen, dass er sie mochte. Im Gegenteil, sie hatte in ihm die ganze Abneigung geweckt, die ein junger Mann in der Gegenwart einer übermäßigen, ja unverschämten und zugleich völlig unattraktiven Sexualität empfindet. Und etwas in ihrem kalten Blick hatte ihm gesagt, dass sie sich dieser Reaktion wohl bewusst sei und sie amüsant finde. Sie hatte ihm allerhand anstößige Geschichten erzählt. Immer schon hatte es Mark bei den ungeschickten Versuchen emanzipierter Frauen, sich in dieser Art von Humor zu ergehen, geschaudert, aber das war stets von einem Gefühl der Überlegenheit gemildert worden. Diesmal hatte er das Gefühl, selbst die Zielscheibe zu sein. Diese Frau provozierte die männliche Prüderie zu ihrer Unterhaltung. Später dann hatte sie ihm Erinnerungen aus dem Polizeidienst aufgetischt. Trotz anfänglicher Skepsis war Mark entsetzt über ihre Vermutung, dass ungefähr dreißig Prozent aller Mordverfahren damit endeten, dass ein Unschuldiger gehängt wurde. Und sie gab Einzelheiten über den Hinrichtungsraum zum Besten, die ihm bis dahin nicht bekannt gewesen waren.

All dies war wenig erfreulich. Aber es wurde durch den angenehm vertraulichen Charakter des Gesprächs mehr als ausgeglichen. Immer wieder hatte man ihn im Laufe des Tages spüren lassen, dass er ein Außenseiter war: dieses Gefühl war völlig verschwunden, solange Miss Hardcastle mit ihm sprach. Er hatte den Eindruck, aufgenommen zu sein. Miss Hardcastle hatte offenbar ein bewegtes Leben hinter sich. Sie war nacheinander Frauenrechtlerin, Pazifistin und Faschistin gewesen. Sie war von der Polizei misshandelt und eingekerkert worden. Sie hatte aber auch mit Premierministern, Diktatoren und berühmten Filmstars verkehrt. Sie hatte mit beiden Enden des Gummiknüppels Bekanntschaft gemacht und wusste, was polizeiliche Gewalt vermochte und was nicht. In ihren Augen gab es nur wenig, was sie nicht vermochte. »Besonders jetzt«, sagte sie. »Hier im Institut unterstützen wir den Kreuzzug gegen den Bürokratismus.«

Der polizeiliche Aspekt des Instituts war, wie Mark ihren Ausführungen entnahm, für die Fee das Wichtigste. Die Institutspolizei war dazu da, der Institutsleitung all das abzunehmen, was man vielleicht als Hygieneangelegenheiten bezeichnen könnte. Darunter fielen sowohl Impfungen als auch Beschuldigungen wegen widernatürlicher Verirrungen; von da, meinte die Fee, sei es nur noch ein Schritt, um auch alle Erpressungsfälle an sich zu ziehen. Was das Verbrechen im Allgemeinen betraf, so hatten sie bereits in der Presse dafür geworben, dem Institut weitgehend freie Hand bei Experimenten zu lassen, die aufzeigen sollten, inwieweit eine humane, heilende Behandlung an die Stelle der alten vergeltenden oder rächenden Strafe treten könnte. Hier stand ihnen noch viel gesetzlicher Bürokratismus im Weg. »Aber es gibt nur zwei Tageszeitungen, die wir nicht kontrollieren«, sagte die Fee. »Und die werden wir fertig machen. Man muss den Mann auf der Straße dahin bringen, dass er automatisch Sadismus sagt, wenn er das Wort Bestrafung hört.« Dann habe man freie Bahn. Mark konnte diesem Gedankengang nicht gleich folgen, doch die Fee erklärte ihm, dass es gerade der Gedanke der verdienten Strafe sei, der der britischen Polizei bis zum heutigen Tage ihre Arbeit so schwer mache. Verdiente Strafe habe nämlich immer ihre Grenzen: man könne dem Kriminellen nur soundso viel antun und nicht mehr. Bei der heilenden Behandlung dagegen gebe es keine feste Grenze; sie könne fortgesetzt werden, bis sie eine Heilung bewirke, und jene, die sie verabreichten, würden entscheiden, wann dieser Zeitpunkt gekommen sei. Und wenn Heilung human und wünschenswert war, wie viel mehr galt dies erst für die Vorbeugung? Bald werde jeder, der schon einmal mit der Polizei zu tun gehabt habe, unter die Kontrolle des N.I.C.E. kommen, und am Ende jeder Bürger. »Das ist der Punkt, wo wir beide ins Spiel kommen, Kleiner«, fügte die Fee hinzu und tippte mit dem Zeigefinger gegen Marks Brust. »Auf lange Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Polizeiarbeit und Soziologie. Sie und ich, wir müssen Hand in Hand arbeiten.«

Dies hatte in Mark wieder die alten Zweifel geweckt, ob man ihm wirklich einen Posten anbot, und wenn ja, was für ein Posten das war. Die Fee hatte ihn vor Steele gewarnt, er sei ein gefährlicher Mann. »Es gibt zwei Leute, auf die Sie sehr Acht geben sollten«, sagte sie. »Der eine ist Frost, und der andere ist der alte Wither.« Aber über seine allgemeinen Befürchtungen hatte sie nur gelacht. »Sie sind schon mittendrin, Kleiner«, sagte sie. »Seien Sie nur nicht zu wählerisch, was Ihre Arbeit angeht. Sie müssen die Dinge nehmen, wie sie kommen. Wither mag keine Leute, die ihn festzunageln versuchen. Es hat keinen Zweck zu sagen, Sie wären hierher gekommen, um dieses zu tun, und würden jenes nicht tun. Dafür entwickeln sich die Dinge zurzeit einfach zu schnell. Sie müssen sich nützlich machen. Und glauben Sie nicht alles, was man Ihnen erzählt.«

Beim Abendessen saß Mark neben Hingest. »Nun«, sagte Hingest, »hat man Sie also doch noch eingefangen, wie?«

»Sieht so aus, ja«, antwortete Mark.

»Sollten Sie sich nämlich eines Besseren besinnen«, sagte Hingest, »könnte ich Sie mitnehmen. Ich fahre heute Abend zurück.«

»Sie haben mir noch nicht erzählt, warum Sie selbst uns verlassen wollen«, sagte Mark.

»Ach, wissen Sie, es hängt davon ab, was einer mag oder nicht mag. Wenn Sie Gefallen an der Gesellschaft dieses italienischen Eunuchen und des verrückten Pfarrers und dieser Hardcastle finden – ihre Großmutter würde ihr die Ohren lang ziehen, wenn sie noch lebte –, dann gibt es natürlich nichts mehr zu sagen.«

»Ich glaube, man kann das Institut kaum von einem rein gesellschaftlichen Standpunkt aus beurteilen – ich meine, es ist etwas mehr als ein Club, nicht wahr?«

»Wie? Beurteilen? – Soviel ich weiß, habe ich in meinem ganzen Leben noch nie etwas beurteilt, außer auf einer Blumenausstellung. Es ist alles eine Frage des Geschmacks. Ich bin hierher gekommen, weil ich dachte, es hätte etwas mit Wissenschaft zu tun. Nun, da ich sehe, dass es eher eine politische Verschwörung ist, gehe ich nach Hause. Ich bin zu alt für solche Sachen, und wenn ich an einer Verschwörung teilnehmen wollte, dann sicher nicht an dieser.«

»Vermutlich meinen Sie damit, dass das Element der sozialen Planung Ihnen missfällt? Ich kann gut verstehen, dass es in Ihr Arbeitsgebiet nicht so gut passt wie in die Wissenschaft der Soziologie, aber …«

»Soziologie ist keine Wissenschaft. Und wenn ich merken würde, dass die Chemie mit einer Geheimpolizei zusammenarbeitet, die von einem ältlichen Mannweib geleitet wird, das keine Korsetts trägt, und Pläne ausarbeitet, jedem Engländer Heim und Hof und Kinder zu nehmen, würde ich die Chemie zur Hölle fahren lassen und zur Gärtnerei zurückkehren.«

»Ich verstehe dieses Gefühl der Zuneigung für den kleinen Mann, aber wenn man wie ich die Wirklichkeit studiert…«

»Dann würde auch ich den Wunsch verspüren, alles niederzureißen und etwas anderes an seine Stelle zu setzen. Natürlich. Genau das passiert, wenn Sie die Menschen studieren: Sie finden einen Saustall vor. Ich bin im Übrigen der Meinung, dass man Menschen nicht studieren kann, man kann sie nur kennen lernen, was etwas ganz anderes ist. Weil Sie die Menschen studieren, wollen Sie die Unterschichten das Land regieren lassen und ihnen klassische Musik vorsetzen – so ein Unsinn! Und Sie wollen ihnen alles wegnehmen, was das Leben lebenswert macht; nur ein Haufen von Spitzbuben und Professoren soll davon ausgenommen bleiben.«

»Bill!«, rief Miss Hardcastle plötzlich vom anderen Ende des Tisches herüber, so laut, dass selbst Hingest es nicht überhören konnte. Er sah sie an, und sein Gesicht wurde dunkelrot.

»Stimmt es«, schrie die Fee, »dass Sie gleich nach dem Abendessen wegfahren wollen?«

»Ja, Miss Hardcastle, das stimmt.«

»Könnten Sie mich vielleicht mitnehmen?«

»Mit Vergnügen«, sagte Hingest in einem Ton, der niemanden täuschte, »wenn wir den gleichen Weg haben.«

»Wohin fahren Sie?«

»Nach Edgestow.«

»Fahren Sie durch Brenstock?«

»Nein, ich verlasse die Umgehungsstraße bei der Kreuzung gleich hinter Lord Hollywoods Eingangstor und fahre dann die Potter’s Lane hinunter.«

»Schade! Nützt mir nichts. Dann warte ich lieber bis morgen früh.«

Danach wurde Mark von seinem Nachbarn zur Linken in ein Gespräch verwickelt und sah Bill den Blizzard erst nach dem Abendessen in der Eingangshalle wieder. Er hatte bereits den Mantel an und wollte gerade zu seinem Wagen gehen.

Als er die Tür öffnete, begann er zu reden, und Mark sah sich genötigt, ihn über den kiesbestreuten Vorplatz zum Wagen zu begleiten.

»Befolgen Sie meinen Rat, Studdock«, sagte er, »oder denken Sie wenigstens darüber nach. Ich selbst halte zwar nichts von Soziologie, aber Sie haben eine recht anständige Karriere vor sich, wenn Sie am College bleiben. Sie tun sich selbst keinen Gefallen, wenn Sie sich mit dem N.I.C.E. einlassen – und bei Gott, Sie werden auch sonst keinem damit nützen.«

»Ich denke, man kann über alles zweierlei Ansicht sein«, sagte Mark.

»Wie? Zweierlei Ansicht? Es gibt ein Dutzend Ansichten über alles, bis man die Antwort weiß. Dann gibt es niemals mehr als eine. Doch das ist nicht meine Sache. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Hingest«, sagte Mark. Hingest ließ den Motor an und fuhr davon.

Ein leiser Frosthauch lag in der Luft. Über den Baumwipfeln stand Orion und funkelte auf ihn herab, doch Mark kannte dieses erhabene Sternbild nicht einmal. Er zögerte, ins Haus zurückzugehen. Vielleicht erwarteten ihn dort weitere Gespräche mit interessanten und einflussreichen Leuten; vielleicht aber würde er sich auch wieder als Außenseiter fühlen, allein herumstehen und Gespräche beobachten, an denen er nicht teilnehmen konnte. Er war ohnehin müde. Als er die Vorderseite des Gebäudes entlangschlenderte, kam er bald zu einer weiteren, kleineren Tür, durch die man wahrscheinlich ins Haus gelangen konnte, ohne die Eingangshalle oder die öffentlichen Räume zu betreten. Er ging hinein, stieg die Treppe hinauf und legte sich schlafen.

Die böse Macht

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