Читать книгу Leben ist kälter als der Tod - Callum M. Conan - Страница 10

2 Ein Gedanke

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Colin Fox schob sich hektisch durch die Menge in der völlig überfüllten Bahnhofshalle des Madrider Fernbahnhofs Atocha, die mit ihren übertriebenen Grünanlagen eher an das Tropenhaus eines Botanischen Gartens erinnerte, als an den Aufenthaltsbereich eines Verkehrsknotenpunkts. Vor der Halle angekommen nahm er sofort ein Taxi in die Stadtmitte. Nahe der Plaza Mayor stieg er aus und betrat ein heruntergekommenes Hotel in der Calle de Esparteros. Ein gelangweilter Portier händigte ihm die Schlüssel aus, nachdem er bar bezahlt und eine Tageszeitung gekauft hatte. Es hätte ihn zwar verwundert, aber vielleicht stand ja schon etwas zu seiner gestrigen Aktivität in Barcelona im Innenteil. Er wollte jetzt auf Nummer sicher gehen, nachdem gestern so einiges schief gelaufen war. Deshalb hatte er auch den Zug genommen, anstatt zu fliegen. Die Eisenbahn war immer noch deutlich anonymer als die übertrieben kontrollierten Flieger. Ein Grund, warum er auch diese billige Absteige gewählt hatte. Hier würde man sich nicht an ihn erinnern und wenn er am nächsten Morgen die iberische Halbinsel wieder verließ, deutete nichts darauf hin, dass er Madrid zwischenzeitlich überhaupt verlassen hatte.

Als er die Tür zu seinem Zimmer aufgeschlossen hatte, warf er seinen Koffer ohne ihn auszupacken auf das Bett und setzte sich in einen schäbigen Sessel am Fenster. Von draußen drangen leise Verkehrsgeräusche und einige Stimmen herein, aber im Vergleich zur sonstigen Atmosphäre im Madrider Stadtzentrum war es beinahe ruhig. Der erste Weihnachtsfeiertag schien die Menschen trotz des guten Wetters Zuhause zu halten.

Lustlos blätterte Fox in der Zeitung. Nichts Interessantes. Kein Hinweis auf ein Verbrechen in Barcelona. Da erst fiel ihm das Datum der Zeitung auf. 23/12. Natürlich, wieso sollte es auch ausgerechnet an einem Feiertag die neuesten Nachrichten geben? Verärgert warf er das Papier zu Boden und starrte missmutig aus dem Fenster. Er blickte auf eine typisch kastilische Häuserfassade. Plötzlich ergriff ihn ein Gefühl der Enge und Verzweiflung. Er musste raus hier, musste sich bewegen. Fox streifte sein Jackett über und verließ das Hotel. Vor dem Gebäude wandte er sich nach links, an der nächsten Abzweigung nach rechts. Hektisch blickte er sich um, ohne zu wissen, wo er sich eigentlich befand. An der Puerta del Sol lief er vorbei ohne zu registrieren, dass er am zentralen Platz der Stadt angekommen war. Fox ging immer weiter und weiter, kreuz und quer durch das Straßengewirr der Altstadt. Er wurde immer schneller, rannte bereits, als er die Paseo del Prado überquerte. Menschen starrten ihm verwundert hinterher, Hunde bellten ihn an, Autofahrer bremsten abrupt ab, wenn er vor ihnen die Straße überquerte. Er war wie in Trance.

Als Fox völlig außer Atem war, hielt er an. Einen Moment ging er in die Knie und holte tief Luft. Ihm wurde schwindelig, er merkte, wie sein Kreislauf rebellierte. Eine Sekunde war alles schwarz, dann richtete er sich auf und wankte zu einer Bank in seiner Nähe. Fox setzte sich und versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Langsam suchte er seine Umgebung ab. Wie es aussah, war er im Parque del Buen Retiro gelandet. Allmählich kam er wieder zu Atem. Wieso war er hier? Was hatte ihn so plötzlich aus der Fassung gebracht? Richtig, es war der Gedanke an den gestrigen Abend gewesen. Dabei war der Auftrag letztendlich erfolgreich ausgeführt. Der Spanier war tot und mehr hatte er nicht zu erledigen gehabt. Ob er dafür einen oder zwei Schüsse gebraucht hatte, spielte schließlich keine Rolle. Aber etwas anderes war passiert. Etwas, das er nicht wirklich zuordnen konnte. Es war der Blick dieser jungen Frau gewesen. Natürlich kannte er sie. Sie hieß Lavinia. Und wie aus einem Lexikon-Artikel hätte er eine Reihe von Informationen über sie aufzählen können, die ihm sofort ins Bewusstsein kamen. Aber da war dieses Gefühl, das sich mit den Informationen verband. Er hatte dieses Ziehen am gestrigen Tag zweimal verspürt. Bei ihrem Anblick war es noch um einiges stärker gewesen, als wenige Stunden zuvor. Fox hatte allerdings keine Erklärung dafür. Wenn er sich die Informationen über sie vor Augen rief, kamen ihm zwangsläufig Wörter wie Liebe, Heimat, Leben in den Sinn, aber ihm fehlte ein kognitiver Zusammenhang. Nur dieses Ziehen lieferte den Hinweis, dass es etwas Besonderes war. Die Verbindung passte nicht in sein übliches Schema. Sie war keine Gefahr, aber auch keine Kontaktperson oder kein Auftraggeber. Fox wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Eine Erinnerung schoss ihm durch den Kopf. Krampfhaft versuchte er, sie festzuhalten. Es war eine Situation vor vielen Jahren. Er saß dieser jungen Frau gegenüber und sie lächelte. Ein Glücksgefühl kam in ihm auf. Dieses Lächeln... Die Erinnerung verflüchtigte sich und verband sich mit einer Idee, die gegen eine automatische Verdrängung durch sein Gehirn ankämpfte. Irgendwie schaffte er es, diesen Gedanken festzuhalten. Ich hatte ein Leben. Was hatte dieser Gedanke nur zu bedeuten? Fox versuchte, diese Idee weiterzuentwickeln, sie zu bearbeiten, ihr einen verständlichen Bezug zu geben. Ich hatte ein Leben. Es wollte ihm in diesem Moment nicht gelingen, aber die Idee hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Ich hatte ein Leben und ich war glücklich...

Lavinia Lichtsteiner saß mit leerem Blick in einem Straßencafé am Boulevard Saint-Michel in der Nähe der Sorbonne und stocherte mit einer Gabel in ihrem Fruchtsalat.

-„Komm schon, Lavi, du musst doch wenigstens etwas essen“, ermunterte sie eine blonde Frau, die ihr gegenüber saß. Ihr Name war Mareen Schuhmacher.

Draußen schlenderten vergnügte Passanten über den Bürgersteig und genossen die letzten hellen Minuten an diesem ersten Weihnachtsfeiertag. Die Sonne zeigte noch einmal ihre volle Pracht und ließ die Mansarddächer der Häuser am Boulevard aufleuchten. Mareen Schuhmacher hatte ihre beste Freundin vor einer knappen Stunde vom Flughafen Charles de Gaulle abgeholt und war mit ihr in dieses Café nahe der Universität gefahren, an der sie derzeit studierte. Noch in der Nacht hatte Lavinias Anruf sie aus dem Schlaf gerissen und die verzweifelte Stimme ihrer besten Freundin von den Geschehnissen in Barcelona berichtet. Es war Mareens Vorschlag gewesen, diesen Zwischenstopp in Paris einzulegen und nicht direkt von Barcelona in ihre westfälische Heimat zurückzukehren. Die Polizeibeamten hatten Lavinia nach Registrierung ihrer Daten offenbar die Ausreise aus Spanien erlaubt, was man durchaus als Glücksfall bezeichnen konnte. Nicht auszudenken, wenn ihre beste Freundin neben den Strapazen der allgemeinen Umstände auch noch selbst in den Mittelpunkt der Ermittlungen gerückt wäre.

Mareen fühlte sich hilflos, ja beinahe selbst verzweifelt, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie ihrer besten Freundin in dieser Situation helfen konnte. Dass sie allein durch ihre Anwesenheit eine große Hilfe für Lavinia war, kam ihr dabei nicht in den Sinn. Sie wollte etwas tun, was die Situation verbesserte, aber wie sollte sie das anstellen? Konnte in dieser Lage überhaupt jemand etwas tun?

-„Er hat Àlex getötet“, murmelte Lavinia leise. „Er hat Alex getötet. Warum nur, Mareen? Wieso hat er das getan?“ Der Schock war ihr weiterhin anzumerken.

Mareen schluckte. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Aus ihrer Sicht gab es nichts, dass diesen Umstand erträglicher machen konnte.

„Er wollte mich heiraten. Àlex wollte mich wirklich heiraten.“

Mareen rückte mit ihrem Stuhl neben ihre Freundin und nahm sie mitfühlend in den Arm.

„Und ich habe nein gesagt...“ Lavinia begann zu schluchzen. „Verstehst du, was ich sage? Ich habe seinen Antrag abgelehnt. Ich habe ihn abgelehnt, weil ich Colin das nicht antun wollte. Ich wollte warten. Wegen ihm...“ Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Mareen schwieg und umarmte sie noch fester.


Fox kehrte in der Dämmerung zu seinem Hotel in der Calle de Esparteros zurück. In den zurückliegenden Stunden war er weiter durch die spanische Hauptstadt geirrt und hatte den Gedanken verfolgt, der ihn so beschäftigte. Immer wieder kamen Erinnerungsfetzen aus seiner Vergangenheit zutage, mit denen er vorerst nichts anfangen konnte. Das Problem war einfach, den Erinnerungen einen Bezug im Gesamtzusammenhang zu geben. Er hatte keine Amnesie, denn wenn er darüber nachdachte, konnte er sich an jedes noch so kleine Detail aus seinem bisherigen Leben erinnern. Doch so sehr er auch versuchte, das Puzzle zusammenzuhalten, es wollte ihm nicht gelingen.

Die Luft im Zimmer war stickig, also öffnete er das Fenster. Draußen wehte ein leichter Wind. Fox klappte seinen Koffer auf und entnahm ihm eine kleine Kosmetiktasche. Einen Moment überlegte er, dann zog er den Reißverschluss zur Seite und wählte zwei Dosen sowie eine Spritze aus den Gegenständen aus. Die Spritze und die Dose mit der durchsichtigen Flüssigkeit waren nur für Notfälle gedacht, er hatte sie bislang nie selbst benutzt. Fox fragte sich, wann wohl die nächste routinemäßige Untersuchung der ESS-Mediziner bei ihm anstand. Es sollte nicht mehr allzu lange dauern. Wenn er richtig gerechnet hatte, war es nächste Woche so weit. Also steckte er die Spritze wieder in die Kosmetiktasche.

Der Flügelschlag einer Taube ließ ihn aufhorchen. Das Tier machte es sich gerade auf dem Fensterbrett vor seinem Zimmer gemütlich. Fox öffnete die zweite Dose mit den Tabletten. Er hatte in den letzten beiden Tagen keine der Kapseln genommen, was gegen die Vorschrift war, aber bislang war das nie zu einem Problem geworden. Was genau bewirkten die Tabletten eigentlich? Es war das erste Mal, dass Fox sich diese Frage stellte, seit er vor knapp einem Jahr begonnen hatte, sie regelmäßig zu schlucken. Im Grunde musste er sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte. Es war nie wichtig gewesen. Solange die zuständigen Mediziner beim ESS sich darum kümmerten und sie ihm verschrieben, war es ihm absolut gleichgültig. Es würde schon einen Sinn haben. Aber heute war alles anders. Hatten vielleicht die fehlenden Tabletten diese Unsicherheit bei ihm ausgelöst?

Fox schüttete sich zwei der Kapseln auf die Handfläche. Was würde nun passieren, wenn er sie nahm? Wären all die Gedanken, die ihm seit gestern Abend gekommen waren, einfach so verschwunden? Konnte das sein? Er war überrascht, wie viele Fragen er sich stellen konnte. Das war ebenfalls etwas Neues. Und doch erinnerte er sich an Zeiten, in denen gerade das zu seinem täglichen Leben gehörte. Was war passiert? Das war die einzige Erinnerung, die ihm komplett fehlte. Wie war er so geworden, wie er heute war? Fox verschloss die Dose wieder und warf sie in seinen Koffer. Erst wenn er eine Antwort auf diese Frage hatte, würde er das Risiko eingehen, die Gedanken an sein früheres Leben wieder zu vergessen. Seine Pflicht konnte er auch ohne die Kapseln erfüllen. Wenn alles normal lief, würde er in dieser Woche ohnehin noch zu einer Untersuchung nach Rorschach reisen.


11 Monate zuvor:

Ronald Freud winkte seinen Vertrauten herein, als dieser vor seiner gläsernen Bürotür erschien. Constantin Fröhlich trat ein und setzte sich auf den Sessel vor Freuds Schreibtisch. Draußen rieselten kleine Flocken vom Himmel und tauchten die Konstanzer Landschaft in ein strahlendes Weiß. Die Fußwege am Seerhein wurden gerade von einem städtischen Trupp vom Schnee befreit. Während Freud seine Brille putzte, nahm Fröhlich ein einzelnes Blatt Papier aus einem Umschlag. Er legte es nicht sofort auf die Glasplatte vor ihm, sondern wartete auf den Ausgang ihres Gesprächs, das noch gar nicht begonnen hatte.

-„Wie es aussieht, gehen wir in die nächste Phase“, bemerkte der Leiter des ESS, als er das Brillenputztuch zur Seite legte und das Gestell wieder aufsetzte. „Sie müssen nicht alle Einzelheiten kennen, aber die Abteilung Delta hat sehr gute Arbeit geleistet und eine Liste von Namen zusammengestellt, die uns das bringt, was wir wollten. Sie können damit also Ihr Programm in die operative Phase überführen umsetzen. Ich erwarte, dass alles nach Plan läuft und wir keine Probleme bekommen. Bevor ich Ihnen die Liste gebe“, er zog ein Blatt aus dem Drucker, „möchten Sie mir aber offenbar ebenfalls etwas geben, oder habe ich Ihr Dokument, das Sie da in der Hand halten fälschlicherweise als für mich bestimmt eingeschätzt?“

-„Nein, das haben Sie nicht“, bestätigte Fröhlich und legte das Blatt auf den Schreibtisch. „Ich bin davon ausgegangen, dass Sie einen Vorschlag von mir hören wollen, wer den ersten Auftrag ausführen soll und ich habe Ihnen dafür eine Übersicht über die Leistungen des Mannes erstellt, den ich für am Weitesten halte. Wir haben zwar in den letzten Wochen eine Vielzahl von Probanden ins Programm aufgenommen, aber die Ergebnisse aus den Tests in Verbindung mit der Tatsache, dass er der erste war, der unsere Mittel verabreicht bekam, sprechen für ihn.“

Freud warf einen flüchtigen Blick auf den Zettel.

-„In dieser Hinsicht vertraue ich ganz auf Ihre Kompetenz. Sie kennen die Konsequenzen genauso gut wie ich, also wird Ihr Vorschlag schon der richtige sein. Allerdings sollten wir es bei einer erfolgreichen Einführung nicht bei ihm allein belassen.“

-„Natürlich.“

-„Es geht also um Folgendes: Mehrere Stufen einer Planung durch die latein- und südamerikanischen Kartelle sehen offenbar vor, auch in Europa Fuß zu fassen. Das alles ist noch im absoluten Anfangsstadium, also geht es für uns lediglich darum, die an den Deals beteiligten Personen unschädlich zu machen. Das ist unser erster Schritt. Einen weiteren habe ich bereits in Planung, aber dabei bewegen wir uns dann schon näher am Kern der Organisationen und dafür will ich eine erfolgreiche Bestätigung des Programms im Ernstfall. Zunächst geht es also um einfache Boten. Es sind Männer – und zum Teil auch Frauen – die ganz unten in der Kette stehen und demnach über keinerlei für uns nützliches Wissen verfügen.“

Fröhlich fragte sich, woher Freud das so genau wissen wollte, wo doch jede noch so kleine Information einen Wert haben konnte. Aber das hier war nicht sein Spezialgebiet und er wollte seinem Chef um Himmels Willen nicht widersprechen.

-„Der Vorteil für uns“, fuhr Freud fort“, liegt vor allem darin, dass unser Vorgehen für die andere Seite unbemerkt bleiben wird. Und nicht nur das, auch was die herkömmlichen Strafverfolgungsbehörden angeht, wird es nicht auffallen, wenn ein paar Junkies oder arme Fischer in Südeuropa verschwinden. Wir operieren also vorerst in den Schatten, die sich uns bieten. Die nächsten Schritte werden vorbereitet sein, wenn alles positiv verläuft.“

Natürlich, dachte Fröhlich, die Planungen gehen immer schon mindestens zwei Schritte weiter.

-„Hier haben Sie also die Liste mit den Namen und einigen weiteren nützlichen Informationen.“ Freud reichte ihm die Liste. „Vielleicht finden Sie sogar noch etwas mehr heraus, das Ihren Männern helfen könnte. Sie haben ja die Möglichkeiten, eigenmächtig zu recherchieren. Jeder Auftrag sollte aber einzeln und unter strengster Geheimhaltung erteilt werden. Statten Sie Ihre Agenten mit wasserdichten Legenden aus, planen Sie die komplette Mission vor. Das heißt, Reise, Unterkunft, Durchführung und Verschwinden muss durchkalkuliert worden sein. Bei dem einen oder anderen Fall kann es zudem sinnvoll sein, einen zweiten Mann hinterher zu schicken, der aufräumt, wo es nötig ist.

Kommen wir zu Ihrem Vorschlag: Sie meinen also Omega 5 ist bereit? Haben Sie keine Bedenken wegen seiner psychischen Instabilität?“

-„Wir haben noch nicht wieder über ihn gesprochen, seit er die letzten Phasen des Programms begonnen hat. Die Instabilität ist durch die Präparate uneingeschränkt aufgehoben. Unsere Spezialisten von medizinischer und psychologischer Seite sind sich da einig. Er wird uns nicht enttäuschen.“

-„Gut. Aber unterschätzen Sie nicht seine Charakterstärke und was er erlebt hat.“

-„Genau das war von vornherein die beste Mischung, um das gewünschte Ziel zu erreichen.“

-„Dann müssen Sie ja jetzt nur noch beweisen, dass ihre Kalkulation aufgeht.“ Freud setzte ein gespieltes Lächeln auf.

Fröhlich wusste, was das hieß: Fehler durfte er sich keine erlauben.


Kurz vor Mitternacht verließ Colin Fox das kleine Restaurant nahe der Plaza de Castilla und schritt energisch in Richtung Metro-Station. Als der Blick auf die beeindruckenden, schräg aufeinander zulaufenden Zwillingstürme des Puerta de Europa frei wurde und er mit dem Gedanken spielte, einen Moment innezuhalten, was er sofort wieder verwarf, vibrierte sein Handy. Er warf einen flüchtigen Blick auf das Display: Der nächste Auftrag also. Passenderweise befand sich das Ziel hier in Madrid. Zwei Haken hatte das Ganze aber: Die Zielperson hatte ein Zimmer im Hotel Ritz, was den Auftrag nicht gerade erleichterte, und er musste bereits am Vormittag erfolgreich ausgeführt sein. Dieses Mal konnte es schmutzig werden, das wusste er. Die Sporttasche hatte er mitsamt dem Scharfschützengewehr in einem vorab vereinbarten Schließfach am Bahnhof in Barcelona deponiert und den Schlüssel unter die Klappe eines Snackautomaten geklebt. Er musste die Mordwaffe nun also selbst wählen und es würde auf engstem Raum erledigt werden müssen.

An der Metrostation angekommen, stieg er schnell die Stufen hinab und hastete in eine einfahrende Bahn. Um in Ruhe planen zu können, musste er ins Hotel zurück. Ein paar Stunden Schlaf konnten ebenfalls nicht schaden.

Bevor er sein Hotel erreichte, entschied er sich anders. Fox schritt weiter durch das enge Straßengewirr Madrids, vorbei an der Oper und dem Palacio Real, bis er das neu gestaltete Ufer des Manzanares erreichte. Dort ließ er sich auf einer Bank nieder und starrte ausdruckslos auf die vom Mondlicht beschienene Oberfläche des Flusses. Was machte er hier eigentlich? Gerade erst war ihm der Gedanke an sein früheres Leben gekommen, dem er nachgehen und den er sich erklären wollte und gleichzeitig bereitete er hier einen weiteren Mord vor. Wie passte das zusammen? Fox merkte, wie sein Leben mehr und mehr aus dem Gleichgewicht geriet. Und er konnte nichts dagegen tun. Völlig hilflos saß er hier auf einer Bank mitten in Madrid und verzweifelte an seiner Lage. Auf der einen Seite zwang etwas in ihm seinen Verstand sich zu beruhigen und die Situation sachlich zu betrachten. Er hatte einen Auftrag und er musste seine Pflicht erfüllen – dafür war er hier. Aber auf der anderen Seite zerrte ein Gefühl ihn weg von der logischen Analyse, die durch sein Denkmuster vorgefertigt wurde. Er wollte nicht mehr töten. Es war ihm widerwärtig und er fragte sich, wie er überhaupt dazu gekommen war. Sicherlich, da war weiterhin diese Stimme, die ihm sagte, dass er alles für eine gute Sache tat, dass er sich selbst dafür entschieden hatte. Aber sobald er darüber nachdachte, kam ihm die vergangene Nacht in den Sinn, der verzweifelte Blick der jungen Frau, der ihn nach dem Warum zu fragen schien.

Fox schreckte aus seinen Gedanken, als er eine Gestalt hinter sich bemerkte. Seine Muskeln spannten sich, sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, um die Situation zu überblicken – sofort war er in Kampfbereitschaft. Als er sich langsam umdrehte, entfernte sich die wankende Gestalt eines betrunkenen Obdachlosen bereits in Richtung Calle Segovia. Fox entspannte sich wieder und versuchte, seinen letzten Gedanken aufzugreifen. Das Schlimme war, dass er selbst keine Antwort auf das Warum hatte. Es war ein Auftrag, seine Pflicht. Vermutlich hatten all die Menschen etwas Böses getan, anders konnte er sich nicht erklären, wie sie ins Visier des ESS geraten sein konnten. Aber war das wirklich so eindeutig? Konnte er sich sicher sein, dass das, was er aus Pflichtbewusstsein getan hatte, wirklich richtig war?

Eins war klar: Er würde dieser Frage nachgehen. Den neuen Auftrag würde er nicht so einfach fraglos hinter sich bringen. Er wollte wissen, was der Mann getan hatte, den er im Ritz umbringen sollte. Dass sich dabei ein weiteres Problem auftat, übersah er vorerst.

Leben ist kälter als der Tod

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