Читать книгу Leben ist kälter als der Tod - Callum M. Conan - Страница 9

1 Neue Wege

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Ein Jahr zuvor, am Montag, den 19.12., in Konstanz:

Ronald Freud war kein Mann, den man gerne warten ließ. Trotz seiner ziemlich kleinen, aber robusten Gestalt, konnte er auch den noch so stärksten Gegner einschüchtern, was vermutlich vor allem seiner absoluten Ruhe und Selbstsicherheit zuzuschreiben war. Der sechzig Jahre alte Interimschef des European Secret Service, kurz ESS, dem man sein Alter wenn überhaupt nur durch das deutlich zurückgehende und angegraute Haar ansah, stand vor dem großen Fenster, das den Blick auf den Seerhein freigab und zeigte keinerlei Regung, als Constantin Fröhlich an die Tür klopfte und dann eintrat. Draußen schipperte ein kleines Fischerboot vorbei und ein abschätziges Lächeln huschte über Freuds Miene. Einige Minuten verharrte er noch in dieser Position, dann drehte er sich langsam zu seinem Gast um, der immer noch vor dem großen Eichenschreibtisch stand. Wortlos wies er ihn an, Platz zu nehmen und verschwand dann auf dem Flur. Nach kurzer Zeit kam er wieder und setzte sich ebenfalls.

-„Ich hatte vor einer Viertelstunde meinen Tee bestellt und der ist immer noch nicht da. Offenbar muss man hier erst ein bisschen Druck machen, bis etwas passiert.“

Fröhlich lächelte ein unsicheres, zustimmendes Lächeln und wartete darauf, dass sein Chef fortfuhr.

„Na ja, fangen wir trotzdem mal an.“ Er nahm seine Brille von der breiten Nase und fuhr sich mit der Hand über das rundliche Gesicht. „Was macht Ihr Death-Panel?“

-„Alles läuft soweit nach Plan. So wie es aussieht, bekommen wir im neuen Jahr auch noch weitere Personen, die wir in das Programm einspannen können. Bislang haben wir ja nur zwei sehr unterschiedliche Testpersonen, die zwar für eine Überprüfung der Vorbereitung geeignet sind, aber nicht ausreichen, um das Panel erfolgreich in die Tat umzusetzen. Zumindest nicht in dem Maße, wie wir es zuletzt geplant hatten.“

-„Wie Sie Ihre Leute rekrutieren ist für mich zweitrangig. Der Erfolg des Programms ist wichtig. Wie sieht es mit Colin Fox aus?“

-„Ich hatte erwartet, dass Sie das fragen.“ So allmählich entspannte sich Fröhlich. Hier war er in seinem Element. Dass sein Chef unangenehme Fragen stellte und schroffe Kommentare abgab, war er gewohnt. Es ging am Ende nur darum, das, was er tat, erfolgreich zu verkaufen. Als Leiter einer völlig neuen Abteilung im Geheimdienst, von dem weder die federführende Europäische Union, noch die für die Gründung des ESS verantwortlichen Vereinten Nationen wussten, hatte er eine große Verantwortung, aber auch einiges an Spielraum. Das Death Panel, eine Unterabteilung, beschäftigte sich mit einem Gebiet, das schon immer in das Ressort der Geheimdienste gefallen war, niemals aber offiziell gebilligt wurde. So war es in den letzten Jahren zunehmend abgebaut und verändert worden, aber Fröhlich teilte die Auffassung Ronald Freuds, dass den Gefahren des neuen Jahrtausends nur mit großer Härte zu begegnen war und auch ein Feld in der Arbeit nicht vernachlässigt werden durfte: Das Feld der politischen Morde.

Er war noch nicht einmal zwei Wochen im Amt, aber zusammen mit einigen anderen einflussreichen Männern in unterschiedlichsten politischen und außerpolitischen Kreisen hatten er und sein Chef schon vor Monaten mit den Planungen begonnen. Als sich dann Ende November ankündigte, Freud würde in ein Gremium gehoben werden, das dem ESS so nahe stand, dass es möglich war, Einfluss zu nehmen, waren ihre Ideen erstmals konkreter geworden. Constantin Fröhlich hatte keine Ahnung, wie es zu den Veränderungen im Service und letztendlich zu der Einsetzung Ronald Freuds als Leiter des ESS gekommen war, aber es interessierte ihn im Grunde auch gar nicht. Sein Metier war die tägliche Arbeit am Programm, an der Beeinflussung und Ausbildung von Menschen. Es gab einiges zu tun, um einen Menschen zu dem zu machen, was er am Ende für das Death Panel sein sollte: ein Killer. Aber eben ein Killer, der für das Gute kämpfte. Es ging nicht darum, grundlos Menschen zu töten und Profite daraus zu schlagen. Es ging vielmehr um die Sicherheit der gesamten Weltbevölkerung. Was die Amerikaner sich vor Jahrzehnten auf die Fahnen geschrieben hatten, die Demokratie in alle Teile der Welt zu bringen und für die Sicherheit der Welt zu sorgen, war ein hehres Ziel. Darauf mussten sie heute aufbauen, wenn auch aus einer anderen Position heraus und mit weniger eindeutig politischen Absichten, als vielmehr aus sicherheitstechnischen Gründen. Die Maßnahmen, die dafür nötig waren, konnten auf den ersten Blick schockierend wirken, aber der Nutzen war das Entscheidende. Ein Satz, der Fröhlich jeden Morgen, bevor er zur Arbeit fuhr, wieder in den Sinn kam.

„Um Ihre Frage kurz zu beantworten: Es sieht durchaus erfolgsversprechend aus.“ Fröhlich lächelte bei dem Gedanken daran, dass dies die einzige Antwort war, die seinen Chef zufriedenstellte. „Offenbar haben die Umstände, unter denen Sie ihn mir vorgesetzt haben, seine psychische Verfassung stark beeinträchtigt. Man kann nicht wirklich von einer eindeutigen psychischen Diagnose sprechen, das haben mir auch unsere Experten bestätigt. Vielmehr scheint seine Welt vor kurzem auf den Kopf gestellt worden zu sein. Eine Art Schock oder Verwirrung verhindert, dass er sich unseren Maßnahmen dauerhaft widersetzt. Von Zeit zu Zeit kommt zwar eine gewisse Stärke in ihm zum Vorschein, aber da er offenbar keinen Anhaltspunkt hat, um die Frage nach richtig und falsch zu beantworten, ist es keine große Herausforderung für uns, das in den Griff zu bekommen.“

-„Ihnen sollte aber klar sein, dass er uns schwach und unberechenbar nichts nützt. Wenn wir ihn als Prototyp in das Death Panel einspannen, muss er funktionieren. Reibungslos und jederzeit.“

-„Das ist mir bewusst. Wissen Sie“, ein Hauch von Verunsicherung flog erneut durch sein Gesicht, „das Programm ist genau so angelegt, dass es anfänglich vonnöten ist, den Zustand einer psychischen Desillusionierung zu erreichen. Der Vorteil bei Colin Fox ist, dass er diesen Zustand bereits vor Eintritt in das Programm erlangt hat. Für einen eigentlich – wie die Tests gezeigt haben - geistig starken Dreiundzwanzigjährigen ist das durchaus bemerkenswert.“

-„Nach dem, was in Brüssel vorgefallen ist, erscheint mir das auch nicht gerade verwunderlich. Aber das haben Sie natürlich nicht vor Augen.“ Freud kostete diese Bemerkung aus. Fröhlich unter die Nase zu reiben, dass er nicht weiter in Dinge eingeweiht war, die von größter Wichtigkeit für das Gesamtsystem schienen, bereitete ihm offensichtlich eine gewisse Genugtuung.

-„Wie dem auch sei. Sie brauchen sich über das Fortkommen des DPs keine Sorgen zu machen.“

-„Wenn das so ist... Eine Frage habe ich allerdings noch, bevor ich die erste größere Sitzung unter meiner Leitung eröffne, an der Sie teilnehmen können, falls Sie das wünschen.“ Abwesend betrachtete Ronald Freud seine Brillengläser durch eine größere Distanz und entschied dann, dass sie sauber waren. „Wann wird er seinen ersten Auftrag ausführen können?“

-„Das sollte bereits zu Beginn des neuen Jahres möglich sein. Aber wir sollten vorsichtig anfangen, falls es zu Komplikationen kommt...“

-„... sind Sie natürlich dafür verantwortlich“, beendete Freud den Satz.

Fröhlich schluckte. Wie sollte es auch anders sein? Er hatte zwar große Freiräume, aber die Verantwortung lag am Ende doch auf seinen Schultern. Sein Boss sicherte sich natürlich großräumig ab. Doch er war sich dessen bewusst und hatte selbst seine Vorkehrungen getroffen. Um fahrlässig zu sein, kannte er Ronald Freud zu gut. Diesen Fehler würde er nicht machen.

-„So“, Freud erhob sich langsam aus seinem Bürosessel, „es ist gleich neun. Ich will die Sitzung schnell zu Ende bringen, also sollte ich nicht länger warten. Wollen Sie dabei sein?“

-„Ach, ich weiß nicht...“

-„Doch, ich denke, es wäre eine gute Gelegenheit, Ihre neuen Kollegen kennen zu lernen und unter die Lupe zu nehmen. Was wir absolut nicht gebrauchen können, ist zu großer Widerstand aus den eigenen Reihen.“

Im Flur kam ihnen ein Angestellter mit einer Tasse Tee entgegen.

-„Die ist dann wohl für mich“, bemerkte Freud leicht genervt. „Besser spät als nie.“

Der Angestellte wollte ihm die Tasse reichen.

-„Was soll ich jetzt damit? Stellen Sie sie in den Konferenzraum, ich werde dort erwartet.“

Der Mann wandte sich eingeschüchtert um und folgte den beiden anderen in den Konferenzraum, wo er die Tasse auf den Platz am Kopf des Tisches stellte und dann schnell verschwand. Freud schob den breiten Sessel zur Seite und begrüßte die bereits anwesenden Abteilungsleiter und führenden Angestellten des European Secret Service. Als er bemerkte, dass noch nicht alle Plätze besetzt waren, verzog er kurz die Miene und setzte sich dann in seinen Sessel. Fröhlich ließ sich auf dem Platz zu seiner Rechten nieder. Nach einem skeptischen Blick in die Runde begann Ronald Freud langsam mit einem kleinen Löffel in seinem Tee zu rühren.

-„Können wir die Anderen noch erwarten?“, fragte er mit leichter Verärgerung. Gerade als er zu einer wütenden Bemerkung ansetzen wollte, weil ihm niemand antwortete, traten weitere Männer ein, unter ihnen auch Orlando Gomez und Filip Ekholm, die Leiter der Abteilungen für operative Einsätze und Informationsbeschaffung.

-„Da wir nun vollzählig sind, können wir anfangen“, stellte Freud angesäuert fest, während die Neuankömmlinge sich mit betretener Miene auf ihren Plätzen niederließen. „Ich bin also der neue Opal Alpha. Ich denke, wirklich vorstellen müssen wir uns einander nicht. Wir werden in den nächsten Wochen Zeit genug haben, uns kennen zu lernen und im Grunde liegt mir auch mehr daran, Sie für Ihre Arbeit zu beurteilen und nicht für irgendwelche Nebensächlichkeiten, die Sie uns heute hier präsentieren. Mein Name ist Ronald Freud und ich wünsche auch weiterhin so angeredet zu werden, da mir, auch wenn ich nicht umhin komme, diesen Titel weiterzutragen, diese Opal-Bezeichnung etwas albern erscheint.“ Er warf einen Blick in die Runde und trank einen Schluck Tee. „Mir liegt viel an Effizienz und Erfolg und daher hoffe ich, dass wir diese Sitzung hier schnell hinter uns bringen, damit wir uns wieder dem Wesentlichen zuwenden zu können. Ich weiß, dass es einige organisatorische und verwaltungstechnische Angelegenheiten zu regeln gibt, also schlage ich vor, jemand von Ihnen präsentiert mir kurz ihre bisherige Struktur und anschließend teile ich Ihnen mit, was es von ganz Oben Neues gibt. Zwar ist mir ein theoretischer Einblick in die Organisation dieses Dienstes bereits gewährt worden, aber um sich näher damit vertraut zu machen, fehlte mir bislang leider die Zeit. Wenn ich also um eine Einführung bitten dürfte.“

-„Ich denke, das wäre dann wohl meine Aufgabe“, meldete sich ein Mann in den Dreißigern mit einem Hauch von französischem Akzent zu Wort. Ein aufgeweckter, drahtiger Typ, wie Freud missbilligend feststellte. Nicht gerade die Art von Mitarbeitern, die er schätzte. Stellte für gewöhnlich zu viele Fragen. Aber das blieb abzuwarten.

-„Bitte sehr.“

-„Ich bin Opal Sigma, Leiter der Verwaltungs- und Kommunikationsabteilung. Mein Name ist Rene Lecout. Um den allgemeinen Organisationsaufbau kurz zusammenzufassen: Bislang hatten wir eine pyramidale Grundstruktur, die sich in vier Hauptabteilungen aufteilte, denen die Geheimdienstleitung überstand und einige weitere Unterabteilungen unterstanden. Zum Führungsteam der vier Abteilungen gehören Joachim Bergmann für die Ausrüstungs- und Ausbildungsabteilung Gamma“, Bergmann erhob sich kurz und nickte Freud zu, „Filip Ekholm für die Informationsbeschaffungsabteilung Delta“, auch Ekholm erhob sich“, Orlando Gomez für die operative Abteilung Omega“, Gomez deutete ein salutieren an, blieb aber sitzen, „und zuletzt ich selbst. Uns unterstehen jeweils weitere Führungskräfte und eine Vielzahl von Angestellten.“

-„Wie dem auch sei“, unterbrach ihn Freud, „mich würde nun vordergründig die Aufteilung für die geheimdienstliche Arbeit interessieren. Wie erledigen Sie das tägliche Geschäft und die Vorgehensweise bei speziellen Einsätzen?“

-„Nun, ich schätze, da können Ihnen die jeweiligen Abteilungsleiter und ihre Führungskräfte detailliertere Informationen bereit stellen, aber ganz allgemein teilen wir die Arbeit bei uns derzeit in HUMINT und SIGINT. Während die Informationsbeschaffungsabteilung laufend Daten sammelt und stets mit den staatlichen Geheimdiensten sowie der Europäischen Union in Kontakt steht, werden operative Einsätze jeweils speziell geplant. Natürlich gibt es einige Einsatzgebiete, die dauerhaft von uns bearbeitet und überwacht werden, aber da wir eine sehr gute Zusammenarbeit mit den nationalen Institutionen pflegen, liegt die Präferenz auf speziellen Einsätzen, die wir von hier aus koordinieren.“

-„Und was genau sind das für Fälle?“

-„Im Grunde genommen geht es letztendlich immer um die Weltsicherheit. Die von den Vereinten Nationen unter einem Deckmantel gegründete World Security Intelligence Organisation, kurz WSIO, zu der wir ebenfalls gehören, soll letztendlich ergänzend zu den nationalen Geheimdiensten fungieren. Da wir aber offiziell eine an die EU angehängte Institution sind...“

-„...geht es vor Allem um europäische Angelegenheiten“, beendete Freud den Satz. „Ja, danke, das ist mir bereits bekannt. Man wird nicht an die Spitze eines so großen Geheimdienstes befördert, wenn man keine Ahnung hat, was der Dienst überhaupt tut und wie er aufgebaut ist. Sie werden also verzeihen, wenn ich Sie unterbreche, aber mir ging es lediglich um die Herangehensweise bei Einsätzen. Um eine Information von meiner Seite vorweg zu nehmen: Es wird bei den bislang bestehenden zwei Geheimdiensten unter der WSIO-Leitung nicht bleiben. Vielmehr sind einzelne kontinentale Vertretungen geplant. Der ESS wird aber der bedeutendste Dienst bleiben. Was die innerdienstliche Organisation angeht, wird es ebenfalls einige Änderungen geben. Ihnen allen liegt ein Dossier vor, das die für Sie relevanten Änderungen zusammenfasst. Zum Teil geht es darin um Bestimmungen, die uns von der Europäischen Union auferlegt worden sind, zum Teil aber um Neuerungen, die ich einführe. Ich hatte gehofft, dass durch meine kleine Einstiegsfrage deutlich wird, was ich als ein Problem der bisherigen Arbeit unter meiner Vorgängerin ansehe: Der ESS arbeitet progressiv, reagiert nur, statt zu agieren. Sie sprachen zwar gerade von einigen fortlaufenden Einsätzen, Lecout, aber im Grunde sind diese eindeutig zweitrangig. Solange nicht eine offensichtliche Gefahr vermittelt wird, überlassen wir die Arbeit den nationalen Kollegen. Das gedenke ich ab heute zu ändern.“ Freud ließ seinen kurzen Vortrag nachwirken und blickte in eine Reihe skeptischer Gesichter. Ihm war klar gewesen, dass er zu Beginn keine große Zustimmung ernten würde. Die Frage war nur, wie verblendet die Männer und Frauen in diesem Dienst von der Vorgehensweise seiner Vorgängerin waren. Sollte die Loyalität ihr gegenüber größer sein als gegenüber der Sache, konnte das zu einem Problem für ihn werden. Es würde aber ebenso schnell zum Ende der Karriere der jeweiligen Mitarbeiter führen. „Was also passieren wird“, fuhr Freud fort, „ist Folgendes: Ab jetzt werden wir agieren, werden den weltweiten Gefahren degressiv begegnen. Wir werden die Sicherheit gewährleisten, indem wir Probleme bekämpfen, bevor sie wirklich entstehen. Die Anschläge in Deutschland vor gut drei Wochen haben mal wieder gezeigt, dass der Terror die größte Gefahr weltweit ist. Ich schließe mich der Bundeskanzlerin und dem US-Präsidenten an, wenn ich sage, dass der Kampf gegen den Terror unseren größten Einsatz verdient.

Dazu wird es einige strukturelle Veränderungen in dieser Organisation geben. Zuallererst wird eine neue Abteilung ins Leben gerufen, die strikter Geheimhaltung unterworfen ist. Was Sie hier an diesem Tisch darüber wissen dürfen, wird Ihnen gleich der Leiter dieser Abteilung mit der Abkürzung DP, Constantin Fröhlich, erläutern. Sie wird vollkommen unabhängig von allen anderen Abteilungen sein und verwaltet werden. Lediglich eine Information geht indirekt auch Sie an.“ Freud wandte sich an Gomez. „Colin Fox hat sich bereit erklärt, der Abteilung beizutreten und wird Ihnen demnach ab sofort nicht mehr zu Verfügung stehen. Sollte es Möglichkeiten und Notwendigkeiten geben, Ihre Abteilung mit dem DP zu verknüpfen, werden Sie das zu gegebenem Zeitpunkt mit Herrn Fröhlich besprechen.“ Gomez nickte skeptisch. Etwas in seinem Blick gefiel Freud nicht, aber es war zu früh darüber zu urteilen. Bis zu diesem Punkt verlief alles zu seiner Zufriedenheit. Niemand stellte unnötige Fragen, und das, obwohl er selbst so wenige Informationen wie möglich über die neue Abteilung gegeben hatte. „Die Informationen zu den weiteren neuen Abteilungen, die durch die Anweisungen aus Brüssel und Straßburg eingesetzt wurden, entnehmen Sie bitte den Dossiers. Ich habe mir erlaubt, diese neuen Posten mit meinen eigenen Leuten zu besetzen, statt sie hier heute wählen zu lassen. Im Gegenzug wird vorerst jeder Einzelne von Ihnen seinen bisherigen Posten behalten.“ Mache Zugeständnisse und konfrontiere sie dann erst mit Neuem – so kannst du nur gewinnen. Wie es aussah, ging seine Taktik auf. Niemand wandte etwas ein. „So konnte ich auch gleich die nächste Auflage der EU erfüllen und die neuen Führungsplätze so mit Frauen besetzen, dass wir die Quote erfüllen. Wo wir gerade bei Frauen sind: Man hat mir bislang keine feste Sekretärin zugeteilt. Mit den bisherigen war ich nicht wirklich zufrieden. Ich denke, es wäre Ihre Aufgabe, Lecout, mir jemanden vorzuschlagen.“

Rene Lecout schaute etwas pikiert auf das Dossier vor ihm, das er bereits zu lesen begonnen hatte, und wandte sich dann seinem neuen Chef zu.

-„Da Sie uns gerade mitgeteilt haben, dass Colin Fox von seinem bisherigen Posten zurückgetreten ist, gehe ich davon aus, dass wir ihn in anderen Abteilungen nicht mehr einplanen müssen?“

-„Davon können Sie ausgehen. Allerdings ist mir zu Ohren gekommen, dass Sie alle ihre Einsatzagenten nach eingehender Besprechung nun mit einer Kennung versehen wollen. Wie lautet die für Colin Fox?“

-„Wir hätten ihm die Bezeichnung Omega 5 zugewiesen. Es wäre rein aus verwaltungstechnischen Gründen passiert.“

-„Die Idee finde ich trotzdem durchaus gut. Er wird diese Kennung auch in neuer Funktion behalten, berücksichtigen Sie das bitte. Aber zurück zu meiner Sekretärin...“

-„Fox hatte bislang eine Privatsekretärin, ich denke, die benötigt er in der neuen Funktion nicht mehr, wenn die Verwaltung der Abteilung ohnehin unabhängig organisiert ist. Also schlage ich vor, dass Sie Lisa Maytree übernehmen. Sie war zuvor schon Sekretärin Ihrer Vorgängerin.“

-„In Ordnung. Ich übernehme sie.“ Freud blickte auf seine Uhr. Das alles hier dauerte länger, als er geplant hatte. „Ich denke, ich werde Sie gleich allein lassen müssen. Ich habe noch zu tun.“

-„Eine Sache, der Sie zustimmen müssen, gäbe es da noch“, wandte Lecout ein. „Es existiert ein Rahmenvertrag mit der Firma Centrotherm und der Würth-Gruppe...“

-„Über diese Sache bin ich bereits informiert. Wir übernehmen das Centrotherm-Gebäude für unsere Zwecke, es wird der Abteilung Delta zugewiesen. Und was die Würth-Gruppe angeht, so brauchen Sie sich darum nicht weiter zu kümmern. Also, Gentlemen, bevor ich gehe:“, Freud hob herrschaftlich die Hand, „auf eine gute Zusammenarbeit.“ Dann verschwand er aus dem Konferenzraum und ließ einige sehr verunsicherte Gesichter zurück.


Joachim Bergmann und Orlando Gomez trafen sich zufällig zwei Stunden nach der Konferenz am Kaffeeautomaten im Aufenthaltsraum. Beide schwiegen erst eine ganze Weile, bis Bergmann etwas sagte.

-„Und was halten Sie vom neuen Opal Alpha?“

-„Ich weiß nicht.“ Gomez nahm die Tasse mit dem heißen Kaffee entgegen. „Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. Schlimm genug, dass er alles umkrempeln will, aber seine Herangehensweise wirkt so... bedrohlich.“

-„Vielleicht sind wir ja auch einfach nur ein bisschen eingerostet und nicht mehr so flexibel.“

-„Möglich, dass Sie recht haben. Gerade wo wir doch eigentlich besonders flexibel sein sollten.“

-„Eben.“ Bergmann schüttete sich einen halben Becher Zucker in den Kaffee.

-„Das ist aber nicht gerade gesund, was Sie da machen“, bemerkte Gomez lachend.

-„Ich beuge nur vor, falls Ihr Gefühl Sie doch nicht trügt. Zyankalikapseln haben wir ja leider keine hier.“

Beide mussten lachen.

-„Aber Spaß beiseite“, Gomez wurde wieder ernst. „Mir gefällt diese Sache mit der neuen Abteilung außerhalb des inneren Verwaltungsapparats nicht. Schlimm genug, dass Freud sich nicht näher zu den Veränderungen und neuen Abteilungen geäußert hat. Zumindest konnte er uns seine neuen Leute nicht vorstellen, weil die Neuerungen erst zum Jahreswechsel greifen. Aber was dieser Fröhlich über das Death Panel angedeutet hat, klingt sehr nach den alten Methoden, die wir als unabhängiger Geheimdienst gerade nicht mehr unterstützen wollten.“

-„Zumindest hat er uns ja ziemlich im Unklaren gelassen. Vielleicht sehen wir auch einfach nur Gespenster, weil wir eine so fantastische Chefin hatten.“

-„Mag sein...“ Gomez trank einen Schluck Kaffee und stellte dann fest, dass es Bergmanns Kaffee war. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schluckte er den Kaffee herunter.

-„Gut, nicht?“, witzelte Bergmann.

-„Süße Plörre!“ Er wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. „Wir sollten die Sache zumindest im Auge behalten. Dass er uns alle auf unseren Posten belassen hat, könnte durchaus Taktik sein. Wiege sie ihn Sicherheit, damit sie nicht merken, wie um sie herum alles zusammenbricht. Ein unheimliches Szenario.“

-„Wir werden sehen.“


Währenddessen hatten Constantin Fröhlich und Ronald Freud in dessen Büro gerade ein Gespräch beendet.

-„Gehen Sie also davon aus, dass der Komplex in Rorschach mitsamt dem riesigen Keller-Areal weiterhin für Sie nutzbar ist“, schloss Freud. „Die Würth-Gruppe wird keine Probleme machen. Wenn auch die Gründe und die Art unserer Nutzung nicht bekannt sind, so läuft trotzdem alles vertragliche über die EU. Ich denke, es wird uns einige Vorteile verschaffen, dass die Würth-Gruppe so vielfältige Unternehmungen betreibt. So können wir die Absolventen des Death-Panels mit sehr unterschiedlichen Legenden ausstatten. Aber das besprechen wir zu gegebenem Zeitpunkt.“

In diesem Moment trat Lisa Maytree nach einem kurzen Klopfen in das Büro. Sie blieb in einiger Distanz zum großen Schreibtisch von Freud im Raum stehen und warf einen abschätzigen Blick auf Constantin Fröhlich, der sie interessiert ansah.

-„Ah, Sie sind also Miss Maytree.“ Freud blickte gar nicht erst von seinen Unterlagen auf. „Ich denke, man hat Sie bereits informiert und eingewiesen. Ich habe auch sofort eine spezielle Aufgabe für Sie.“ Er reichte Fröhlich eine dicke Aktenmappe und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sie an die blonde Frau weiterzuleiten. „Es geht um eine Recherche, die den aktuellen Informationsstand der Öffentlichkeit über unseren Geheimdienst aufzeigen soll. Suchen Sie nach Medienberichten, Blogeinträgen, Forumsdiskussionen. Alles, was Sie über den European Secret Service finden. Mir reicht eine einfache Zusammenstellung mit inhaltlichen Überblicken. Im zweiten Schritt recherchieren Sie dann bitte noch eine Auswahl an Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Institutionen aus unserer Branche. Ich denke, dass dürfte innerhalb dieser Woche zu schaffen sein. Mehr brauche ich vorerst nicht.“

Ohne ein Wort zu sagen verschwand Lisa Maytree aus dem Büro. Fröhlich warf ihr einen lüsternen Blick hinterher.

-„Nettes Ding.“

-„Warten wir es ab.“ Freud suchte bereits eine weitere Aktenmappe auf seinem ungeordneten Schreibtisch. „Wenn Sie nicht herausragend gut ist, werde ich noch eine zweite Sekretärin brauchen.“

-„Ach, ich wäre mit ihr schon völlig zufrieden.“

Freud warf ihm einen bösen Blick zu.

-„Um so was geht es mir hier aber nicht, Sie Idiot. Und jetzt lassen Sie mich allein, ich habe noch einige Dinge zu klären. Viel Erfolg in Rorschach.“

Fröhlich verließ eingeschüchtert das Büro und ging in Richtung der Aufzüge.

Ronald Freud lehnte sich in seinem Sessel zurück und überlegte kurz. Dann griff er zum Hörer seines Telefons und tippte eine Nummer auf der Konsole ein. Sekunden später meldete sich Filip Ekholm. Freud wies ihn an, in sein Büro zu kommen und legte auf. So langsam kam alles ins Rollen. Schritt zwei war nun auch planmäßig verlaufen. Zwar würde sich zeigen, inwiefern es in naher Zukunft zu Komplikationen käme, aber er hatte zusammen mit seinen Vertrauten, unter ihnen auch Constantin Fröhlich, eine gute Vorarbeit geleistet und so setzten sich die Projekte in Gang.

Für einen Geheimdienst war der ESS wirklich gut organisiert, soweit Freud das nach seiner bisher kurzen Amtszeit beurteilen konnte. Wenn seine Prioritäten nun auch noch geachtet würden, sollte ihnen eine rosige Zukunft bevorstehen. Er fragte sich zwar, wo genau er sich zu gegebenem Zeitpunkt die Lorbeeren abholen sollte, aber das würde sich dann schon einrichten.

Ekholm erschien vor der Tür und Freud winkte ihn herein.

-„Läuft mit dem neuen Gebäudetrakt alles nach Plan?“

-„Ja, ich denke, der Umzug wird reibungslos verlaufen. Sollte alles kein Problem darstellen.“

-„Freut mich, das zu hören. Nachdem Sie meine Vorstellungen von der Ausrichtung des ESS gerade erst kennen gelernt haben, gibt es bereits den ersten Auftrag für Sie.“

-„Stress sind hier alle gewohnt...“ Ekholm unterbrach sich, als er den Blick seines neuen Chefs bemerkte. Seine Miene zu deuten war schwierig, aber irgendwas sagte ihm, dass es besser war, zu schweigen.

-„Es geht um Zusammenhänge zwischen hiesigen Finanzgeschäften und dem Drogenhandel in Südamerika. Unsere amerikanischen Freunde sind dem schon lange nicht mehr gewachsen. Auch unser Partnerdienst traut sich nicht, tiefer in die Todeskette einzudringen, die sich von Mexiko bis Kolumbien zieht. Nun sollen Sie dort nicht sofort einen Kampf gegen die Kartelle starten. Im Grunde wäre das ja auch gar nicht unsere Aufgabe. Aber es gibt Verknüpfungen nach Europa. Geldwäsche, Finanzmarktgeschäfte, Unternehmungen, mit denen die Kartelle ihre Gewinne verwalten und vervielfachen – alles das spielt sich auf dem Kontinent ab und niemandem ist das bislang so wirklich klar geworden. Drogen sind nicht unser Problem und die hiesigen Mafia-Clans versperren den nationalen Behörden die Sicht auf das Offensichtliche. Wir müssen da ansetzen. Vorerst geht es darum, Informationen zu sammeln. Wer ist beteiligt? Was wird getan? Kümmern Sie sich darum. Wir haben keine Namen, nur lose Anhaltspunkte. Die verfügbaren Informationen befinden sich in diesem Dossier.“ Freud reichte dem Schweden eine weitere Aktenmappe. „Durchforsten Sie alle Kanäle. Zeigen Sie mir, wie gut die Informationsbeschaffungsabteilung arbeitet. Vielleicht können wir schon zu Jahresbeginn daraus einige Einsätze aufbauen, die einen Schlag gegen die Kartelle und ihre Machenschaften bedeuten.“

-„Alles klar. Ich setze sofort einige Mitarbeiter darauf an.“

-„Denken Sie dran: Das hier hat für mich oberste Priorität. Ziehen Sie nicht gleich alle verfügbaren Leute ab, aber was nicht akut ist, muss warten. Verstanden?“

-„Ich denke schon.“ Ekholm runzelte die Stirn. Nicht gleich am ersten Tag des neuen Chefs bei ihm unbeliebt machen! Einfach Befehle befolgen! Es würde schon einen Sinn ergeben.

-„Gut. Das war es bis hierhin.“ Ohne noch einmal aufzusehen, widmete sich Freud wieder seinen Unterlagen. Ekholm wandte sich mit leichtem Unwohlsein zur Tür. Ging es nur ihm so, oder verursachte dieser Neue bei allen ein schlechtes Gefühl?

Leben ist kälter als der Tod

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