Читать книгу Leben ist kälter als der Tod - Callum M. Conan - Страница 11

3 Ein Name

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Früh am nächsten Morgen schlenderten Mareen Schuhmacher und eine noch sichtlich angeschlagene Lavinia Lichtsteiner am Seine-Ufer entlang, vorbei an der Île de la Cité mit den eindrucksvollen gotischen Türmen der Kathedrale von Notre-Dame, und unterhielten sich über belanglose Themen. Als sie die Pont Neuf erreichten, blieb Lavinia plötzlich abrupt stehen.

-„Was ist?“, fragte Mareen erschrocken.

-„Ach nichts Wichtiges.“ Lavinia ging bereits weiter und blickte gedankenverloren in den blauen Pariser Himmel. Von vorn kam ein Fahrradfahrer auf sie zu und Mareen konnte sie gerade noch zur Seite ziehen, um einen Zusammenstoß zu verhindern.

-„Ich hatte gedacht, ein Spaziergang durch Paris würde dich vielleicht ein wenig ablenken, aber stattdessen wirkst du noch abwesender und lässt dich beinahe überfahren. Also sag mir wenigstens, woran du gerade gedacht hast.“

-„Ach, eigentlich ist es wirklich nichts. Als du gerade von der Stadt geschwärmt hast, musste ich nur daran denken, dass Colin mich ziemlich oft gefragt hat, in welche Stadt ich am liebsten reisen würde.“ Lavinia schwieg eine Weile und sah unsicher auf den blauen Fluss hinab. Nach einer Weile fuhr sie fort: „Ich hab immer anders geantwortet.“

-„Natürlich, du hattest ja auch immer die unterschiedlichsten Vorstellungen.“ Mareen lächelte. „Ich kann mich noch erinnern, dass du mir mal vorgeschlagen hast, nach Riga zu fahren.“

-„Naja, ich bin ja auch gerne rumgereist. Aber als Colin mich das erste Mal danach gefragt hat, habe ich Paris gesagt. Sicher auch, weil ich die Stadt mag, aber er hat immer so von London geschwärmt und ich wollte etwas Vergleichbares dagegen setzen. Vermutlich einfach nur, um ihm nicht den Gefallen zu tun, dass er mir vorschlagen kann, dass wir gemeinsam hinfahren.“

-„Was er dann natürlich doch getan hat.“

-„Ja, natürlich.“

-„Wieso hast du’s denn dann nicht einfach gemacht? Wir haben da nie wirklich drüber gesprochen. Ich glaube, ich dachte einfach, dass ich dich damit zu sehr nerven würde, weil ich ja weiß, wie sehr er nerven kann und du oft genug genau das erwähnt hast. Außerdem hatte ich gerade was dieses Thema anging ja selbst genug Sorgen.“

-„Was du nicht sagst.“ Lavinia musste unwillkürlich lachen. Es war das erste Mal seit den furchtbaren Ereignissen an Heiligabend.

-„Ja, lach du nur“, spielte Mareen die Verärgerte, während sie sich innerlich jedoch beinahe überschwänglich freute, dass ihre beste Freundin wieder lachen konnte.

-„Ich weiß es nicht.“ Lavinia wurde wieder ernst.

-„Was weißt du nicht?“, fragte Mareen überrascht.

-„Deine Frage. Ich weiß nicht, warum ich nicht mit ihm weggefahren bin. Ich glaube, ich wollte einfach nicht.“

-„Hm.“ Mareen wollte ihre beste Freundin nicht weiter mit Fragen belasten, die sie an die vergangenen Ereignisse erinnerten, also sagte sie nichts. Allerdings fiel ihr auch keine gute Überleitung zu einem anderen Thema ein und so gingen sie weiter, ohne zu überlegen, wohin sie ihr Weg eigentlich führte. Auf dem Place du Carrousel vor dem Louvre angekommen, blieben sie stehen.

-„Ich wollte ihm vor allem keine Hoffnungen machen. Du weißt selbst, wie anhänglich er war und es war offensichtlich, dass er alle anderen Mädchen übersehen hat. Es gab doch bessere für ihn als mich...“

-„Meinst du nicht, du machst es dir damit ein bisschen zu einfach? Es ging doch letztendlich nicht um ihn. Du hast ihn nicht geliebt und wusstest nicht, wie du damit umgehen sollst, dass er seine Gefühle so offensiv gezeigt hat.“

-„Kann schon sein, dass du Recht hast...“

-„Lavi, du weißt doch, das hab ich häufiger als dir lieb ist.“

Beide lachten.

-„Hast du eigentlich noch Kontakt zu ihm gehabt?“

-„Zu wem? Zu Colin? Nein, nicht seit meinem Auslandsjahr. Beziehungsweise“, sie musste lachen, „seit meinem ersten Auslandsjahr. Das hier ist ja auch nicht Deutschland.“

-„Wie kannst du das nur vergessen?“ Auch Lavinia lachte, kehrte aber schnell zu ihrer nachdenklichen Miene zurück. „Dann musstest du dir also nicht anhören, dass ich ihn vermutlich verrückt gemacht habe?“

-„Das hast du sowieso schon immer, verrückt vor Liebe.“

-„Mhm. Aber es war bestimmt auch keine gute Idee, ihm immer mal wieder ein Date zu versprechen und dann doch abzusagen oder ihm zu erklären, dass da nichts ist.“

-„Dir fehlte in der Zeit einfach mein guter Einfluss.“

-„Und dann dieser Kuss im Sommer vor zwei Jahren... Ich hab ihn in Sydney getroffen. Er hat sich vollkommen komisch benommen, gar nicht so wie sonst, bis auf die üblich nervigen Sprüche und das ganze Getue, aber dann hab ich ihn einfach geküsst.“

-„Nein.“ Mareen tat geschockt.

-„Ey, ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist, aber ich hab es halt einfach getan.“

-„Oh Mann...“ Mareen lachte, verstummte aber sofort, als sie die Tränen in den Augen ihrer Freundin erkannte. „Oh, Lavi, nein, entschuldige...“

-„Und jetzt hat er Àlex umgebracht.“ Lavinia begann zu schluchzen. „Wie kann er das tun? Wie kann er einen Menschen töten? Er hat ihm einfach in den Kopf geschossen und ich lag direkt daneben.“ Mareen umarmte sie tröstend. „Was für ein Mensch tut so etwas und warum?“ Sie weinte bittere Tränen und einen Moment blieben sie einfach so stehen, sich gegenseitig umarmend, ohne die Blicke der Passanten zu beachten, die in Richtung Museumseingang oder in den Tulpengarten spazierten. „So war er doch nicht, Mareen. Er war schon immer irgendwie bescheuert, aber so war doch nicht.“

-„Nein, da hast du Recht, so war er nicht.“


In Madrid begann der zweite Weihnachtsfeiertag wolkenverhangen. Fox hatte keinen Moment geschlafen, sondern sich das Hirn zermartert, bei der Suche nach einem passenden Plan, wie er in das Hotel Ritz eindringen und den Mann zur Rede stellen konnte, den er laut Auftrag töten sollte. Nun stand er neben dem Museo del Prado, im Anzug und mit Pistole im Schulterhalfter, aber ohne weitere Ausrüstung, und betrachtete die rückseitige Fassade des Ritz. Bei seinem Vorhaben für die nächste Stunde taten sich einige Probleme auf. Das erste bestand darin, überhaupt in das Hotel gelassen zu werden und das Zimmer mit dem hoffentlich anwesenden Mann – oder war es eine Frau? – den er ausschalten sollte, zu finden. Zumindest Letzteres würde ihm nicht allzu große Schwierigkeiten bereiten, denn anstelle eines Namens oder eines Bildes hatte man ihm in der Nachricht nur die Zimmernummer übermittelt. Warum nur? Wie konnten die Verantwortlichen beim European Secret Service wissen, dass sich niemand anderes im Zimmer aufhielt?

Fox schloss sein Jackett und schlenderte um den Gebäudekomplex herum zum Eingang des Hotels. Wie selbstverständlich begrüßte er den Portier mit einem freundlichen „buenos días“ und spazierte durch die Lobby, vorbei am Empfang. Er wusste, dass er damit zwar die lässigste Möglichkeit gewählt, aber zu gleich auch mindestens einen großen Fehler begangen hatte. Sollte etwas schief laufen, so würde man sich an ihn erinnern. Er musste also dafür sorgen, dass sein weiterer Plan aufging.

Als er aus dem Blickfeld des Empfangs verschwunden war, verlangsamte er seinen Schritt und schlich langsam über die mit Teppich bezogenen Stufen. Das Ziel lag im zweiten Stock. Dort angekommen warf er einen Blick auf den Wegweiser mit den Zimmernummern. Es handelte sich um eine Suite auf der anderen Seite des Gebäudekomplexes, der sich um einen Innenhof zog. Während er über den breiten Flur schritt, durchdachte er seine weitere Vorgehensweise. Von Anfang an hatte er voll auf Spontaneität gesetzt. Sollte er einfach klopfen und mit dem Gast reden, sich eventuell als Hotelangestellter ausgeben? Aber irgendeinen Grund musste es ja geben, dass der ESS ihn damit beauftragt hatte, diese Person auszuschalten, also konnte er nicht davon ausgehen, dass alles reibungslos klappen würde. Immerhin hatte er seine Waffe. Seine Grundidee fand er trotzdem nicht schlecht. Bei Zimmer 242 angekommen, vergewisserte sich Fox, dass ihm niemand gefolgt und auch sonst kein Gast oder Angestellter auf dem Flur unterwegs war. Er lud seine Waffe durch, ohne sie zu entsichern und steckte sie in den Hosenbund, um sie schneller greifen zu können. Dann klopfte er zweimal kurz hintereinander an die Tür.

-„Servicio de habitaciones“, fügte er mit seinem besten Spanisch hinzu. Zimmerservice

Einen Moment stand er nur so da, bereit, seine Waffe aus dem Hosenbund zu reißen und zu entsichern. Nichts tat sich. Er klopfte noch einmal, diesmal ohne die Worte. Als sich nach einer Minute immer noch nichts getan hatte, drückte er die Türklinke herunter. Die Tür sprang auf und gab den Blick auf ein unordentliches Zimmer frei, mit einem Bett, auf dem sich Berge von Kleidungsstücken türmten. Offenbar hatte der Zimmerservice hier schon seit längerer Zeit nicht vorbei geschaut. Ansonsten war die Suite eher klein, was Fox überraschte. An beiden Seiten befand sich eine Tür, die erste war nur angelehnt; er öffnete sie und warf einen Blick in den Raum dahinter. Es war das Badezimmer, ähnlich unaufgeräumt wie die Suite selbst. Fox nahm seine Waffe aus dem Hosenbund und bahnte sich durch mehrere Koffer, Bettlaken und Jacken einen Weg zum Fenster. Draußen erblickte er den eindrucksvollen Bau des Museo del Prado unter einem düsteren Himmel. Ein paar Tropfen klatschten an das Fenster und auf der Straße unter ihm spannten die wenigen Passanten ihre Regenschirme auf.

Ein Geräusch ließ ihn herum fahren. Niemand war ins Zimmer gekommen, aber er entdeckte einen weiteren Fehler: Die Zimmertür war nur angelehnt, was nicht zuletzt die echten Hotelangestellten misstrauisch machen konnte. Schnell schlich er zurück und schloss lautlos die Tür, durch die er hereingekommen war.

Warum so unkonzentriert?

Das Geräusch war wieder da. Fox meinte eine Männerstimme erkannt zu haben. Sein Verdacht bestätigte sich, als er an der zweiten Tür lauschte. Auf der anderen Seite musste sich der eigentliche Wohnbereich der Suite befinden. Es war immer die gleiche Stimme, in unregelmäßigen Abständen erklang sie verärgert und gedämpft durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Zwei mögliche Vorgehensweisen schossen ihm durch den Kopf und er entschied sich schnell für die aus seiner Sicht weniger riskante.

Fox wiederholte die Prozedur, die er auf dem Hotelflur schon einmal durchgegangen war: Er klopfte zweimal kurz hintereinander und fügte sein „Servicio de habitaciones“ hinzu. Es dauerte einen kurzen Moment, dann hörte er die Stimme des Mannes noch etwas lauter als zuvor. Ein lautes Scheppern folgte, dann wurde die Tür aufgerissen.

-„Seid ihr bescheuerten Spanier nicht in der Lage, mich in Ruhe zu lassen?“, brüllte ein großer, aber leicht dicklicher Mann mit hellem Teint in amerikanischem Englisch, während er bereits vor Schreck die Augen aufriss. „Ich habe doch gesagt…“, seine Lippen bewegten sich noch, dann verstummte er, als er die Pistole an seinem Hals bemerkte.

-„So und jetzt solltest du deine Lautstärke mal etwas drosseln und mir zuhören.“ Fox Stimme durchschnitt die plötzliche Stille, obwohl er ganz leise sprach. „Ich bin zwar nicht der Zimmerservice, aber ich habe nicht vor, dir etwas zu tun.“

-„Wozu dann die Waffe?“, blaffte der Amerikaner.

Fox drückte die Walther noch tiefer in seinen Hals.

-„Sprechen nur wenn ich das erlaube, alles klar?“

Der Amerikaner nickte widerwillig.

Fox lockerte den Druck seiner Waffe ein wenig. Dann schob er den Mann langsam zu einem Sessel in der hinteren Ecke des Raumes.

-„Zuerst einmal will ich wissen, wer du bist.“

-„Willst du mich verarschen, Alter? Wenn du das nicht wüsstest, wärst du hier ja sicherlich nicht mit einer Waffe im Anschlag reingekommen.“

Fox versetzte ihm einen Schlag mit der freien Hand.

-„Tu besser nichts, das mich aus der Fassung bringt, okay?“

Fox schubste sein Gegenüber in den Sessel und entfernt sich selbst einen Schritt, um sich ihm gegenüber zu setzen. In diesem Moment machte er zwei weitere verhängnisvolle Fehler: Der erste bestand in der Tatsache, dass er den Amerikaner aufgrund einer ersten optischen Musterung falsch einschätzte. Was seine körperliche Konstitution anging, und ebenso seine Handlungsschnelligkeit. Der zweite wurde ihm zum Verhängnis, denn in einem weiteren Moment der Unkonzentriertheit ließ er seinen Gegner für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen, um sich nicht neben den Sessel zu setzen. In diesem Moment schnellte das Bein des Amerikaners nach oben und trat Fox die Waffe aus der Hand. Gerade als er seinen Fehler bemerkte, schwang sich der andere aus dem Sessel und setzte einen gekonnten Tritt, um Fox aus dem Gleichgewicht und zu Fall zu bringen. Er stürzte und rappelte sich sofort auf. Fox wollte aufstehen, doch der Mann war plötzlich über ihm und zog ein Messer von irgendwoher. Dem ersten Hieb konnte Fox ausweichen, dem zweiten auch. Der dritte aber drang schräg oberhalb seiner Hüfte ins Fleisch ein. Nicht tief, aber es reichte, um sein Hemd rot zu färben. Fox schnappte nach Luft. Es sah nicht gut aus. Irgendwie musste er wieder die Kontrolle über die Situation gewinnen. Blitzschnell drehte er sich um die eigene Achse, verpasste seinem Gegner einen gekonnten Schlag ins Gesicht und verschaffte sich damit die nötigen Sekunden, um einen Blick durch das Zimmer zu werfen. Seine Waffe lag nicht weit entfernt auf dem Teppichboden. Aus dem Augenwinkel bemerkte Fox, dass der Amerikaner sich wieder berappelte und nun ebenfalls ein Auge auf seine Walther geworfen hatte. Fox machte einen Satz und erreichte die Waffe gerade in dem Moment, als der andere mit einem lauten Schrei aufsprang und mit dem Messer in einer weit ausholenden Bewegung auf ihn zusteuerte. Das Gesicht war von Hass gezeichnet. Fox drehte sich gekonnt zur Seite, zielte und schoss.

Der Amerikaner wurde in der Bewegung zurückgerissen und knallte zu Boden. Das Messer fiel ihm aus der Hand, er war sofort tot.

Fox atmete tief durch. Alles war anders gelaufen, als er geplant hatte. Und das nur wegen einer einzigen Unkonzentriertheit. Was war nur mit ihm los? Von draußen hörte er laute Stimmen. Natürlich! Man hatte den Schuss offensichtlich gehört. Er musste schleunigst von hier verschwinden. Er blickte sich im Zimmer um. Es gab keinen Ausweg, vom Flur drangen bereits aufgeregte Stimmen herein und einen anderen Ausgang gab es nicht. Nur das Fenster.

Hektisch tastete er seine unmittelbare Umgebung ab. Irgendwo hier musste das Handy liegen, mit dem der Mann vor seinem Auftauchen telefoniert hatte. Fox steckte seine Pistole zurück ins Halfter und stand auf. Wo war dieses verdammte Gerät? Er drehte die Leiche des Mannes zur Seite, aber auch unter ihm lag es nicht. Mit dem Fuß stocherte er in den Kleidungsstücken, die auch in diesem Zimmer auf dem Boden verstreut waren. Da fiel sein Blick auf einige Glassplitter in einer Ecke des Raumes. Unter ihnen erkannte er auch ein älteres Modell aus der Sony-Ericsson-Familie. Er hob es auf und steckte es in eine Jacketttasche. Etwas schnitt ihm in die Hand. Als er die Handfläche öffnete, erkannte er, dass es einer der Splitter war, den er versehentlich mit aufgehoben hatte. Die Splitter allerdings stammten nicht von einer Flasche oder einem Glas, sondern aus einem zerbrochenen Spiegel. Bringt also doch Unglück, dachte er mit einem beinahe mitleidigen Blick auf die Leiche des Amerikaners. Dann hechtete er zum Fenster, öffnete es und blickte nach unten. Auf der Straße war niemand zu sehen, lediglich ein Reisebus fuhr auf der Calle Felipe IV an der Rückseite des Hotel Ritz vorbei. Jemand hämmerte von außen gegen die Zimmertür. Fox überlegte kurz und schwang sich dann aus dem Fenster. Draußen hing er an der Fassade, seine Finger krampften sich um die Fensterbank. Unter sich erkannte er den Sims einer Balustrade. Er ließ sich fallen und landete auf der weißen Stuckverzierung. Plötzlich brach das Gestein und Fox krachte durch eine Glasplatte, die brach und seinen Fall nach unten freigab. Er spürte die Fliehkraft und ruderte mit den Armen. Bevor er auf den Boden aufschlagen konnte, verfing er sich im Stoff des gespannten Baldachins über dem Lieferanteneingang und knallte dann auf den Bürgersteig. Durch den Stoff wurde sein Fall etwas abgebremst, aber seine Knochen schmerzten trotzdem höllisch, als er sich aus dem zerknüllten Baldachin befreite und aufstand. In einiger Entfernung hörte er bereits das Heulen von Polizeisirenen. Es wurde Zeit, dass er hier wegkam. Leicht humpelnd lief er über die Straße und in den kleinen Park des Museo del Prado.


Wenig später saß Fox nachdenklich auf derselben Bank im Parque del Buen Retiro, auf der er am Tag zuvor wieder zu Bewusstsein gekommen war. Er hatte das Gesicht in den Händen vergraben und warf nur hin und wieder einen Blick durch die gespreizten Finger, um Veränderungen in seiner Umgebung zu registrieren. Nach der Aktion im Hotel Ritz konnte es gut sein, dass die Stadt von der örtlichen Polizei bereits nach ihm durchsucht wurde und er wollte unter allen Umständen vermeiden, dass es zu einer Festnahme kam. Allerdings schien es, als wären die Beamten vorläufig mehr mit der Untersuchung des Tatorts befasst, denn noch hatte sich nichts Auffälliges getan.

Was Fox aktuell viel mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass er sein Ziel klar verfehlt hatte. Anstatt etwas aus dem Amerikaner herauszubekommen und zu erfahren, warum er überhaupt liquidiert werden sollte, hatte er nur einen weiteren Mord begangen. Wieder ein toter Mensch, den er auf dem Gewissen hatte; wieder ein Kreuz mehr auf seinem Konto. Auch der Umstand, dass es in diesem Fall vielmehr Notwehr als Mord war, konnte ihn nicht beruhigen. Warum nur schien sich ein Todeskreis um ihn zu ziehen, der alles ins Verderben riss? Allmählich wurden seine Gewissensbisse zur echten Belastung. Diese ganze Arbeit war nicht das, was er sich vorstellte, was ihn zufriedenstellte. Ihm fehlte der Teil in seiner Erinnerung, wie es dazu gekommen war, aber er wusste, dass die letzten Monate bewusste Entscheidungen waren. So war ihm auch klar, dass er das hier nicht einfach so beenden konnte, zumal ihn die zahlreichen Fragen quälten. Alles musste irgendwie einen Sinn ergeben, so war es früher immer gewesen. Wenn nicht, so hatte es ihn über elend lange Zeiträume gequält. Warum war das alles im letzten Jahr ausgeschaltet? Warum begannen erst jetzt die Gesichter der Menschen, die er auf dem Gewissen hatte, ihn zu verfolgen? Er wusste es nicht und genau das machte ihm zu schaffen. Zumindest waren die letzten Stunden nicht völlig ohne Fortschritt geblieben. Fox nahm das ramponierte Handy des Amerikaners aus der Tasche. Die Anzeige leuchtete, also schien es noch funktionsfähig zu sein. Viele Informationen würde es allerdings nicht über seinen verstorbenen Besitzer preisgeben, bei dieser Generation der Ericsson-Modelle war es noch lediglich um das Telefonieren gegangen, das heute übliche Smartphone-Zubehör suchte man vergeblich.

Fox öffnete das Menü. Einstellungen. Wecker. Kontaktliste. Letzte Anrufe. Was er gesucht hatte: Ihn interessierte, mit wem der Mann gesprochen hatte, bevor er selbst ihn so abrupt unterbrochen hatte. Die Anzeige blinkte rot. Fox erkannte, dass der Akku zur Neige ging. Schnell öffnete er die Liste der letzten Anrufe. An oberster Stelle stand eine einfache Nummer, kein Kontakteintrag. Fox nahm sein iPhone heraus und photographierte die Nummer. Er ging die Liste weiter nach unten durch. Nach der letztgewählten Nummer stand mehrfach der Name einer Frau: Marcy. Fox suchte gar nicht erst nach weiteren Informationen. Als die Anzeige bereits nur noch schwach leuchtete und kaum noch etwas zu erkennen war, erreichte er das Ende der Liste. Ein Name stand da, der ihn zusammenfahren ließ. Die Nummer war vor über einer Woche gewählt worden. Er versuchte noch, den Kontakt zu öffnen, um etwaige gespeicherte Zusatzinformationen zu lesen, aber der Akku gab den Geist auf, die Anzeige wurde schwarz. Fox atmete hörbar aus. Nach einem kurzen Moment steckte er das Handy wieder in seine Jacketttasche. Es war dieser Name, der seinen Puls beschleunigte. Der Name, mit dem er nicht nur eine schlechte Erinnerung verband, der ihm aber einen Satz des Mannes ins Gedächtnis rief, der ihn zusammenfahren ließ: „Sie dürfen leben, so wie ich es darf – aber Sie werden es in Schande tun.“ Der Name des Mannes war William St.John-Smith.

Leben ist kälter als der Tod

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