Читать книгу Leben ist kälter als der Tod - Callum M. Conan - Страница 13

5 Der Reporter

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Fox starrte auf den Bildschirm. Jetzt hatte er eine Verbindung. Dieser Mann in Barcelona würde ihm nicht mehr helfen können, mehr über die Identität des Amerikaners zu erfahren. Trotz seines Ablebens verriet er ihm aber schon jetzt eine ganze Menge mehr, als er geahnt hatte. Wenn der Mann, den er in Barcelona ermordet hatte, ein Fondsmanager war, der mit einem Amerikaner zu tun hatte, den er ebenfalls für den ESS aus dem Weg räumen sollte, so war klar, dass eine kriminelle Verbindung zwischen den Beiden bestehen musste. Fox merkte, wie sich ein großes Netz vor ihm auftat, dessen Geflecht zu durchschauen eine ganze Zeit in Anspruch nehmen würde. Bislang hatte er nie gewusst, warum er Mordaufträge des ESS bekam, die Personen waren anonyme Ziele gewesen. Wenn nun aber ein Zusammenhang zwischen ihnen deutlich wurde und auch William St.John-Smith mit ihnen in Verbindung stand, so ergab sich eine völlig neue Ausgangslage.

Natürlich konnte die Verbindung zwischen den beiden Männern vollkommen unabhängig von der Banco B sein. Immerhin deutete auf den ersten Blick nichts auf eine unseriöse Funktion der Bank hin. Auch wenn heutzutage natürlich jedes Finanzinstitut irgendwie argwöhnisch betrachtet wurde, besonders wenn es ein spanisches war.

Fox sortierte die Informationen, die sich ihm boten. Viel hatte er nicht, lediglich die Tatsache, dass er da einer größeren Sache auf der Spur war. Sein Ziel aber war nach wie vor William St.John-Smith. Den kriminellen Machenschaften der Leute, auf die er angesetzt war, galt nicht sein primäres Interesse, auch wenn sie sich nutzen ließen, um an ihn heranzukommen. Um einen Schritt weiter zu gelangen war es also sicher keine schlechte Idee, der Banco B einen Besuch abzustatten. Auch, wenn sie wirklich nichts mit der Verbindung zwischen dem Amerikaner und Nogales zu tun hatte, so war es doch eine Möglichkeit, mehr über den Spanier herauszufinden, das ihm vielleicht half, einen Schritt in die richtige Richtung zu machen.


Sechs Monate zuvor:

-„Bislang ist alles nahezu perfekt gelaufen. Er hat nun dreizehn Aufträge zur vollsten Zufriedenheit erledigt und nichts deutet auf ihn, geschweige denn unsere Organisation hin. Trotzdem plädiere ich dafür, dass wir die Dosis der eingesetzten Stoffe bei ihm noch erhöhen.“ Constantin Fröhlich saß hinter seinem Schreibtisch im Würth-Gebäude in Rorschach und kostete die Situation aus. Es war zwar nicht das erste Mal, dass sein Chef ihn hier konsultierte, doch der Umstand, dass sie sich auf seinem Territorium befanden und Ronald Freud sich hier sichtlich unwohl fühlte, verschaffte ihm eine gewisse Genugtuung. Durch den Ortswechsel tauschten sie die Rollen. Eine tolle Vorstellung. Nur übermütig durfte er nicht werden. Immerhin saß ihm gegenüber immer noch der mächtige Leiter des European Secret Service – sein Vorgesetzter.

-„Wieso glauben Sie, dass das notwendig ist?“ Freud war dafür bekannt, Dinge nicht einfach so durchzuwinken. Zumindest wenn es auf ihn zurückgeführt werden konnte.

-„Inwiefern diese Maßnahme psychisch und biologisch notwendig ist, kann ich Ihnen zum gegebenen Zeitpunkt leider nicht beantworten. Unsere Wissenschaftler und Ärzte haben mir aber versichert, dass es sinnvoll ist, an der Zusammensetzung der Barbiturate, der Neuropeptide und anderer Stoffe, wie einer Weiterentwicklung des Scopolamins, zu arbeiten. Wir wollen schließlich nicht, dass Colin Fox außer Kontrolle gerät. Zum einen müssen wir dafür sorgen, dass er nach wie vor nicht darüber nachdenkt, was er tut, wofür die emotionshemmenden Stoffe notwendig sind. Zum anderen hat er aber bereits so herausragende Fähigkeiten auf seinem Einsatzgebiet entwickelt, dass wir ebenso der Gefahr von Fehlern bei der Zielsuche vorbeugen müssen. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn er sich einmal gegen uns richten würde. Natürlich gehören diese beiden Dinge zusammen. Hinzu kommt aber der Umstand, dass es des Öfteren notwendig erscheint, seine Erinnerungen zu beeinflussen – deshalb die Weiterentwicklung des Scopolamins. Ich bin kein Experte auf diesem Fachgebiet, aber ich kann mir vorstellen, was die Abteilung da unten meint, wenn sie auf die Notwendigkeit dieser Maßnahmen hinweist.“

-„Hm“, brummte Freud. Das Ganze schien ihm nicht zu gefallen, zumal er nun schon sehr tief in die Sache involviert war, von der er eigentlich gar keine Details wissen wollte. Fröhlich hatte sich in den letzten Monaten sehr geschickt bei dem Versuch angestellt, Freud in das Death Panel mit einzubeziehen. Eine Alleinverantwortung war nie eine gute Sache. „Wenn Sie also meinen, alles hat seinen Zweck und seine Richtigkeit, dann machen Sie meinetwegen damit weiter. Aber wehe dem, uns fliegt das alles später um die Ohren. Es läuft bislang zu gut, als dass wir uns ein Scheitern noch leisten können.“ Freud begann seine Brille zu putzen. „Eigentlich bin ich aber wegen einer ganz anderen Angelegenheit hier. Und wo bleibt mein Tee?“

-„Der kommt sofort.“ Dass Fröhlich die Bestellung seines Chefs mit Absicht vergessen hatte, verschwieg er. Eine kleine Machtdemonstration.

Als der Tee kam, nickte Freud zufrieden. In diesem Glaskasten direkt am Bodenseeufer fühlte er sich nie ganz wohl. Architektonisch bestand im Grunde gar kein so großer Unterschied zu der ESS-Zentrale in Konstanz. Aber es war nun mal nicht sein Revier und das schmeckte ihm nicht. Zumal er es bislang nicht geschafft hatte, seine wiederholten Besuche in Fröhlichs Reich als eine Art Inspektion zu verkaufen, vor der sich sein Vertrauter fürchten sollte.

-„Weshalb ich aber eigentlich gekommen bin“, begann Freud erneut. „Es geht um diesen Reporter.“ Seit er das erste Mal von ihm gelesen hatte, waren nun schon vier Monate vergangen, aber in der Zeit hatte es viel Anderes zu tun gegeben und eine echte Gefahr schien der Mann damals auch noch nicht darzustellen.

-„Entschuldigen Sie die Frage, aber um welchen Reporter?“

-„Ach ja, Sie wissen noch gar nichts von ihm. Ich glaube, ich habe bei einem meiner Besuche aber kurz etwas von der Medienrecherche erwähnt, die ich damals gerade in Auftrag gab..“ Freud beobachtete sein Gegenüber. Offenbar gefiel es Fröhlich nicht, dass er ihn dabei ertappte, etwas vergessen zu haben. „Wie dem auch sei. Ich habe bei Miss Maytree gleich nach meinem Dienstantritt eine Medienrecherche in Auftrag gegeben, bei der sie ermitteln sollte, wie weit das öffentliche Interesse an unserem Geheimdienst geht, beziehungsweise inwieweit die Öffentlichkeit über den ESS informiert ist und die Medien an Informationen interessiert sind. Die Ergebnisse waren zum damaligen Zeitpunkt sehr zufriedenstellend.“

-„Das ist doch eine gute Sache.“

-„Ja, das wäre es“, bestätigte Freud leicht verärgert. „Die Situation hat sich aber verändert. Zum damaligen Zeitpunkt existierte genau ein ausführlicher Artikel über unseren Dienst. Mehr eine grobe Beschreibung inklusive einer Einschätzung zur Zukunft, getroffen kurz nach der Gründung des ESS. Der Autor dieses Berichts war zum damaligen Zeitpunkt noch mit seiner Ausbildung beschäftigt, kein Hinweis also auf zukünftige Probleme, die diese Arbeit verursachen könnte. Jetzt arbeitet er allerdings beim Spiegel, dem Blatt also, das für seine guten Recherchen und das Aufdecken politischer Skandale bekannt ist.“

-„Vielleicht sollten Sie das alles nicht so ernst nehmen. Der Mann ist jetzt Journalist bei einem großen Magazin, na und?“ Sofort merkte Fröhlich, dass er einen Fehler gemacht hatte. Der Gesichtsausdruck seines Chefs veränderte sich schlagartig.

-„Denken Sie, ich wäre zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen zu sprechen, nur weil der Mann jetzt beim Spiegel arbeitet?“ Freud schrie beinahe. „Sind Sie noch ganz richtig?“

Freud konnte beobachten, wie Fröhlich den Raum nach etwas absuchte, das ihm half, aber da war offensichtlich nichts. Er wartete einen Moment, zufrieden, dass er endlich die Hoheit wiedergewonnen hatte. Nun lief ihr Treffen wieder nach Plan. Er erhob sich und trat an die übergroße Fensterfront, die den Blick auf die Uferpromenade und den Bodensee freigab. Eine große Radgruppe fuhr vor dem Gebäude vorbei und auf dem sonnenbeschienenen Wasser näherte sich ein Ausflugsschiff. Langsam drehte Freud sich zum Leiter des Death Panels um. „Ihnen wird nun also hoffentlich klar geworden sein“, fuhr er fort, „dass noch etwas Anderes passiert ist.“ Er beobachtete, wie Fröhlich schluckte. „Im Spiegel ist letzte Woche ein Artikel über den ESS erschienen. Inhaltlich vorerst nicht gravierend, weil es viel mehr um den Zusammenhang zur NSA-Affäre ging und wir, zumindest was das angeht, da ja nicht sonderlich schlecht dastehen sollten. Das Besondere an diesem Artikel aber war, neben einer durchaus kritischen Stellungnahme und dem Hinweis auf folgende Enthüllungen, die Tatsache, dass er Informationen enthielt, die definitiv nicht recherchiert werden können, wenn man niemanden hat, der einem Interna verrät. Und nicht nur das: Heute Morgen bekam ich einen Anruf, vermutlich von besagtem Reporter, in dem man mich auf ein Programm mit der Bezeichnung DP ansprach. Offensichtlich hatte der Anrufer keine genauen Informationen, aber allein, dass er auf das Death Panel aufmerksam geworden ist, deutet auf eine zu erwartende Katastrophe hin.“

Fröhlich war mit einem Mal blass geworden.

-„Was… was… was heißt das für meine Abteilung?“, stammelte er sichtlich schockiert.

-„Das heißt vor allem erstmal, dass Sie verdammt wachsam sein müssen. Die Geheimhaltungsmaßnahmen sollten noch einmal verstärkt werden. Genau genommen haben wir jetzt zwei große Probleme: Der Artikel aus der letzten Woche bestätigt, dass wir ein Leck haben. Der Mann muss einen Kontakt direkt im Service haben. Das andere Problem ist mindestens genauso schwerwiegend: Man interessiert sich für uns, für den ESS. Und man ist auf Ihr Programm aufmerksam geworden. Eine sehr schlechte Perspektive.“

-„Aber das Programm soll wie geplant weiterlaufen?“

-„Solange nichts Außergewöhnliches passiert, ja.“

-„Gut.“ Fröhlich nickte langsam.

-„Aber Ihnen sollte klar sein, dass wir verdammt vorsichtig sein müssen. Ich habe bereits veranlasst, diesen Reporter unter Beobachtung zu stellen. Wir können ihm das Schreiben nicht verbieten, also müssen wir irgendwie versuchen, die Kontrolle zu behalten und wenigstens vorbereitet zu sein, wenn eine weitere Enthüllung auf uns zukommt.“

-„Meinen Sie nicht, wir könnten das Death Panel nutzen, um…?“

Freud hielt in der Bewegung inne und starrte Fröhlich erst irritiert, dann mit einem Blick an, der hätte töten können.

-„Verlieren Sie jetzt nicht die Nerven, mein Freund, verlieren Sie nicht die Nerven! Was meinen Sie, was das für Folgen hätte, wenn dieser Reporter jetzt unter mysteriösen Umständen zu Tode käme? Das ganze öffentliche Klima ist im Moment doch darauf ausgerichtet, Verschwörungen zu wittern. Wir können es uns nicht leisten, so einen Fehler zu machen. Dafür war das Death Panel im Übrigen nie gedacht. Wir sollten unsere eigenen Prinzipien jetzt nicht über Bord werfen.“ Er wandte sich zur Tür. „Habe ich mich also klar genug ausgedrückt? Keine Alleingänge!“ Fröhlich nickte eingeschüchtert. „Dem Reporter darf vorerst nichts zustoßen. Wir müssen das Problem anders lösen. Die Überwachung ist angeordnet und ich hoffe, das bringt einige Erkenntnisse.“

-„Was ist mit dem Kontakt im ESS?“

-„Den hoffe ich so auch entlarven zu können. Aber deshalb wollte ich ebenfalls mit Ihnen sprechen. Ich brauche jemanden, dem wir rückhaltlos vertrauen können. Derjenige sollte eine interne Ermittlung einleiten und sich unauffällig umhören, damit wir dem Leck auf die Schliche kommen. Das können wir beide nicht tun, dafür stehen wir zu weit oben, zu isoliert von unseren Mitarbeitern. Zumal ich ohnehin nicht davon ausgehe, dass das Leck in Ihrer Abteilung zu finden ist. Dann hätte man bereits mehr in der Hand.“

-„Habe ich bis morgen Zeit, darüber nachzudenken?“

-„Maximal vierundzwanzig Stunden. Dann möchte ich einen Vorschlag von Ihnen, wer die Untersuchung leiten soll. Aber kein Wort zu niemandem! Die Sache muss unter uns bleiben, bis wir Anhaltspunkte haben. Sprechen Sie auch nicht mit Ihren Leuten darüber, selbst wenn Sie mir morgen einen von denen vorschlagen wollen. Nichts ohne mein Okay, verstanden?“

-„Ja, alles klar.“

-„Gut. Ich habe noch zu tun. Bis morgen.“

Damit verschwand Ronald Freud aus Fröhlichs Büro und begab sich zu den Aufzügen, um zu seinem Wagen zu gelangen. Wirklich beruhigt war er nicht. Hoffentlich drehte Fröhlich nicht durch. Das war das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.


Fox erreichte Barcelona am frühen Vormittag des siebenundzwanzigsten Dezember. Der AVE-Hochgeschwindigkeitszug war erstaunlich pünktlich und so hatte er die Hoffnung, beim Hauptsitz der Banco B vor Beginn der offiziellen Geschäftszeiten anzukommen. Vom Bahnhof nahm er ein Taxi in Richtung Torre Agbar und stieg an der Plaça de les Glòries Catalanes aus. Um kurz vor halb neun stand er vor dem modernen Geschäftsgebäude, in dem sich der Hauptsitz der Banco B befand. Durch die breite Glasfront konnte Fox bereits einige Mitarbeiter der Bank beobachten, die geschäftig durch die Lobby liefen. Auch der Empfang war bereits besetzt. Offensichtlich gab es hier keine richtige Schalterhalle, denn abgesehen von einem einzelnen Geldautomaten in einer Nische unter der Treppe, die in neunzig-Grad-Winkeln in die oberen Etagen führte, deutete nichts auf eine Geldausgabe hin.

Eine hübsche Spanierin mit schwarzen Haaren und in modernem Kostüm kam auf den Haupteingang zu und lächelte ihn an. Nachdem sie mehrere Schlösser im Inneren geöffnet hatte, zog sie eine der Türen zu sich heran.

-„Adelante!“

-„Gracias.“ Fox trat ein und wartete, bis die Spanierin neben ihn getreten war. „Ich würde gerne mit Sr. Nogales sprechen, wäre das möglich?“

-„Für Sie ist hier alles möglich“, sagte sie in perfektem Englisch. Ihr Lächeln hatte ihr vermutlich diesen Job verschafft, überlegte Fox. „Warten Sie doch bitte einen Moment, ich spreche kurz mit einer Kollegin.“

Die hübsche Spanierin verschwand und kam kurz darauf mit einer etwas älteren Kollegin in den Dreißigern zurück.

-„Sra. Espinosa wird Ihnen bestimmt weiterhelfen können.“ Dann verschwand sie und ließ ihn mit ihrer Kollegin allein. Sie standen etwas abseits des Eingangs nahe einer großen Palme.

-„Meine Kollegin sagte mir schon, dass Sie Sr. Nogales sprechen wollen. Es tut mir leid, da muss ich sie wohl enttäuschen. Sr. Nogales ist heute nicht zur Arbeit erschienen. Natürlich kann er noch kommen, aber normalerweise ist er immer pünktlich.“

-„Meinen Sie, es lohnt sich, auf ihn zu warten?“

-„Sie können es zumindest versuchen. Er hat ein Zweitbüro in Mexico-City, deshalb ist er ohnehin nicht oft im Haus. Durch seine Tätigkeit als Fondsmanager ist das auch gar nicht nötig. Diese Woche sollte er allerdings zumindest kurzzeitig vorbeischauen.“

-„Dann werde ich die Wartezeit wohl in Kauf nehmen.“

-„In Ordnung. Wollen Sie oben in der Etage seines Büros auf ihn warten? Dort gibt es einen Aufenthaltsbereich mit einem Kaffeeautomaten.“

-„Ja, sehr freundlich.“

Fox folgte der Frau zu den Aufzügen. Sie drückte die drei.

-„Darf ich fragen, um was für ein Anliegen es sich handelt, das Sie mit Sr. Nogales besprechen wollen?“

-„Es geht lediglich um ein Investment. Eine kurze Beratung zu einer Angelegenheit, die wir kürzlich besprachen.“

Der Aufzug hielt und die Spanierin führte ihn über einen langen Flur zu einer kleinen Sitzecke mit tiefen Ledersesseln und einem Snack-, sowie einem Kaffeeautomaten.

-„So, machen Sie es sich bequem, ich werde Ihnen dann mitteilen, wenn Sr. Nogales erscheint. Allerdings hat er sich seit drei Tagen nicht mehr bei uns gemeldet, aber über die Weihnachtsfeiertage ist das vermutlich nichts Ungewöhnliches. Ich möchte nur nicht, dass Sie vergeblich warten.“

-„Nein, ist schon okay.“

Die Frau lächelte und verschwand in einem der Büros. Fox sah sich auf dem Gang um. Weit und breit niemand zu sehen, nur das Surren der Elektronik und ab und zu Stimmen oder Tastengeklapper aus den Büros. Neben der Tür, die direkt an die Sitzecke angrenzte, war ein Schild mit der Aufschrift A. Nogales – Gestor del Fondo angebracht worden. Wenn er jetzt noch irgendwie unbemerkt in das Büro kam, hatte sein Plan funktioniert.

Noch einmal blickte er sich um, dann nahm er einen Dietrich aus der Tasche, den er vor einiger Zeit von der Abteilung Gamma erhalten hatte. Man konnte nie sicher sein, dass ein Werkzeug zu dem Schloss passte, das man öffnen wollte, aber diese Weiterentwicklung erhöhte zumindest die Wahrscheinlichkeit. Fox kniete sich vor die Tür und begann, sich an dem Schloss zu schaffen zu machen. Ein erstes Klicken stimmte ihn optimistisch. Vielleicht noch ein paar Drehungen…

Ein Widerstand machte den Optimismus schnell zunichte. Er drehte und zog, doch offenbar konnte der Dietrich nicht weiterhelfen. Fox befahl sich ruhig zu bleiben. Mit einem Ohr hörte er, wie in einiger Entfernung eine Bürotür geöffnet wurde. Sofort wurden seine Bewegungen hektischer. Er durfte sich hier nicht erwischen lassen. Seine Hand begann zu zittern, aber das Schloss wollte sich nicht öffnen lassen. Schritte kamen näher. Fox schätzte, dass er schon bald bemerkt werden würde. Noch einmal drehte er das Werkzeug.

KLACK.

Der Widerstand hatte sich gelöst. Fox drückte die Klinke hinunter und öffnete die Tür. Mit einem Satz sprang er in das Büro und schloss die Tür hinter sich. Er wartete einen Moment, bis die Schritte auf dem Flur wieder verklangen, dann sah er sich in dem Raum um. Schon auf den ersten Blick wurde deutlich, was die Mitarbeiterin der Bank bereits erwähnt hatte: Der Besitzer dieses Büros hielt sich die meiste Zeit an einem anderen Ort auf. Abgesehen von einer verwelkten Blume in einer kleinen Vase war das Büro makellos sauber und aufgeräumt. Ein Schreibtisch, davor zwei Stühle, ein Computer, ein Eckschrank – das war alles. Fox zog an einer der Schranktüren – verschlossen. In den Schreibtischschubladen befanden sich lediglich einige Schreibutensilien. Sein Blick fiel auf ein modernes Fax-Gerät, das er bislang nicht bemerkt hatte. Ein Blatt Papier lag auf der Auslage. Offenbar hatte Sr. Nogales seine letzte Nachricht nicht empfangen. Fox nahm das Blatt aus dem Gerät und begann zu lesen. Der Absender war ein gewisser Jack Nolte von Union Import Export Ltd., einer amerikanischen Handelsgesellschaft. Er überflog die Nachricht und stellte fest, dass er nichts Interessantes aus den Zeilen entnehmen konnte. Lediglich die Tatsache, dass dieser Nolte auf eine Zweigstelle in Mexico-City hinwies, ließ ihn stutzig werden. Aber in einer globalisierten Welt war es natürlich nicht ungewöhnlich, dass ein internationales Unternehmen und eine Bank in derselben ausländischen Metropole vertreten waren. Vermutlich nur eine einfache Geschäftsbeziehung. Er drehte und wendete das Blatt. Da fiel ihm plötzlich die Fußzeile ins Auge. Er hatte das Kleingedruckte für die üblichen Kontaktdaten gehalten, aber wie es schien, handelte es sich vielmehr um ein Post Scriptum. Fox musste sich anstrengen, die kleinen Buchstaben zu entziffern, aber letztendlich gelang es ihm.

Bin über die Feiertage in Madrid. Sollten uns treffen. Jack

Wenn er die Zeile richtig interpretierte, sagte das eine ganze Menge aus. Die Verbindung zwischen dem Amerikaner und Àlex Nogales bestand in einer Zusammenarbeit zwischen den Fonds-Geschäften des Spaniers und der Anstellung des Amerikaners bei einer internationalen Handelsgesellschaft. Beide hatten eine Vertretung in Mexico-City. Wenn das kein Hinweis war… Eine weitere Information, die dieses Fax enthielt, konnte sich als ebenso nützlich erweisen: Der Name des toten Amerikaners war Jack Nolte.

Fox überlegte einen Moment. Im Grunde waren das schon mehr Informationen, als er erhofft hatte. Sollte er dennoch die Schränke untersuchen und den Computer kontrollieren? Ein Geräusch auf dem Flur nahm ihm die Entscheidung ab. Für einen Moment hatte er Angst, Àlex Nogales könnte doch erscheinen und ihn hier überraschen, aber schnell fiel ihm wieder ein, dass er selbst vor drei Tagen dafür gesorgt hatte, dass das definitiv nicht passieren konnte.

Die Geräusche auf dem Flur wurden leiser und er öffnete einen Spalt breit die Tür um hinauszusehen. Zwei Mitarbeiter der Bank betraten gerade den Aufzug. Schnell trat er aus dem Büro und schloss die Tür leise hinter sich. In dem kleinen Aufenthaltsbereich holte er sich noch einen Kaffee aus dem Automaten und setzte sich in einen der Sessel.

Er war dem Ziel wieder einen Schritt näher gekommen, wenn auch noch keine direkte Verbindung zu St.John-Smith offensichtlich wurde. Irgendetwas sagte ihm aber, dass das Ziel auf der anderen Seite des Atlantiks die richtige Richtung war. Immerhin wiesen alle Anzeichen auf Mexico-City.

In Gedanken ging Fox noch einmal alle Informationen durch, die er bislang hatte. Sein Ziel war William St.John-Smith, der Mann, mit dem er alles Schlechte in seinem Leben verband und den er vernichten wollte. Außer einer Telefonnummer, deren Anschluss nicht mehr existierte, gab es aber keinerlei Hinweise auf dessen derzeitigen Aufenthaltsort. Er hatte nur zwei Männer, zwischen denen eine Verbindung bestand, die er beide in den letzten Tagen umgebracht hatte, weil er vom European Secret Service damit beauftragt worden war. Der erste war Àlex Nogales, ein Spanier, der vor dem vierundzwanzigsten Dezember mit einer Yacht über das Mittelmeer nach Barcelona gekommen war und der als Fondsmanager für die Banco B gearbeitet hatte. Diese hatte ein Zweitbüro in Mexico-City und unterhielt geschäftliche Verbindungen zu einer internationalen Import-Export-Gesellschaft, die ihren Hauptsitz in den USA hatte und ebenfalls eine Zweigstelle in Mexico-City besaß. Der Verbindungsmann war Jack Nolte, ein Amerikaner, der eine direkte Verbindung zu St.John-Smith darstellte und Nogales unter dem Codenamen Marcy gespeichert hatte.

Alles, was er wusste nützte nichts, solange die Verbindungen keinen Sinn ergaben, und darüber konnte er bislang nur spekulieren.

Fox trank seinen Kaffee aus, warf den Pappbecher in einen Mülleimer, ging zu den Aufzügen und fuhr zurück in die Lobby. Die Frau, die ihn mit Sra. Espinosa bekannt gemacht hatte, kam geradewegs auf ihn zu.

-„Na, haben Sie Sr. Nogales sprechen können?“, fragte sie mit ihrem schönsten Lächeln.

-„Nein, er ist leider nicht da und es sieht so aus, als käme er heute auch nicht mehr.“

-„Das tut mir sehr leid. War die Angelegenheit denn sehr wichtig?“

-„Sagen wir, es gibt einen alternativen Weg.“

-„Gut. Es wäre doch eine Schande, wenn Ihnen dadurch ein Geschäft misslingt.“

-„Das wird es nicht. Auf Wiedersehen, Señorita.“

-„Hoffentlich.“

Aber dieses letzte Wort hörte Fox schon gar nicht mehr, weil er völlig in Gedanken bereits aus dem Gebäude getreten war und nach einem Taxi Ausschau hielt. Er musste schleunigst zum Flughafen. Einen Flug nach Mexico-City zu bekommen, würde vermutlich schwieriger werden als ihm lieb war, also durfte er keine Zeit verlieren.

Etwas war ihm mittlerweile wieder in den Sinn gekommen, das er bislang erfolgreich verdrängt hatte. Bei all den Verbindungen, die es zwischen den Personen zu berücksichtigen gab, die für ihn einen Schritt auf dem Weg zu St.John-Smith darstellten, hatte er eine Verbindung vergessen, die vermutlich nichts mit dem Netz zu tun hatte, das sich vor ihm aufspannte, die aber viel zu wichtig war, als als dass er sie auf Dauer außer Acht lassen konnte. Àlex Nogales war in der Stunde seines Todes mit einer Frau zusammen gewesen. Mit der einen Frau: Lavinia.


Mareen Schuhmacher lag auf dem Sofa ihrer Studentenwohnung und blätterte in einer Zeitung. Nach einer Weile warf sie das Blatt auf den kleinen Beistelltisch und widmete sich wieder ihrer aktuellen Lektüre. Im Zimmer herrschte eine angenehme Ruhe. Ab und zu drang leiser Verkehrslärm von der Straße herauf, ansonsten war nur das Geplätscher der Dusche zu vernehmen, unter der Lavinia seit geraumer Zeit stand. Mareen versuchte, tiefer in die Geschichte ihres Romans einzutauchen, Oscar Wildes Worte näher an sich heran zu lassen, aber es gelang ihr nicht wirklich. Kaum hatte sie mal eine Seite gelesen, musste sie sofort wieder an ihre beste Freundin denken. Resignierend legte sie das Bildnis des Dorian Gray zur Seite.

Es ging Lavinia mittlerweile wieder etwas besser, ein Umstand, der Mareen freute. Aber wirklich glücklich wirkte sie nicht, wie sollte sie auch? Zwar ließ sie sich im Gegensatz zu den ersten Tagen nach ihrer Ankunft nun von anderen Dingen ablenken, aber irgendwie kamen ihre Gedanken doch immer wieder zu den schrecklichen Ereignissen in Barcelona zurück. Meistens sagte sie gar nichts, aber Mareen konnte es in ihrem Blick sehen, wie sie unwillkürlich zuckte oder ihr Tränen in die Augen stiegen, die sie dann zu unterdrücken versuchte oder einfach wegwischte, als sei nichts gewesen. Sie hielt es für besser, ihrer besten Freundin die Freiheit zu gestatten, selbst zu wählen, wann sie reden wollte. Aber trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie etwas unternehmen musste. Reden hatte bei ihnen beiden immer geholfen. Es waren meist nicht einmal die Ratschläge oder Kommentare der Anderen gewesen, einfach, dass sie wussten, dass sie füreinander da waren, dass da jemand zuhörte. Ein Grund für ihre Freundschaft, die seit der Grundschule bestand und seitdem nie abgerissen war.

Lavinia kam plötzlich in das kleine Wohnzimmer gelaufen. Mareen fuhr herum, als sie sie bemerkte.

-„Mein Gott, hast du mich erschreckt! Ich dachte, du stehst noch unter der Dusche.“

-„Damit bin ich doch schon seit Stunden fertig.“ Lavinia lachte, was Mareen sofort ein Lächeln ins Gesicht zauberte. „Aber kannst du mir mal verraten, seit wann du so was hier liest?“

Mareen warf einen Blick auf das Magazin, das ihre beste Freundin in der Hand hielt: eine Ausgabe des Spiegel.

-„Ach das.“ Sie verdrehte die Augen. „Das lese ich doch gar nicht.“

-„Wie kommt das dann in deine Wohnung?“

-„Sagen wir einfach, es hat jemand mitgebracht.“

-„Soso, gibt es in Paris also deutsche Männer, die interessant genug sind, um sie mit nach Hause zu nehmen?“ Lavinia blickte ihre beste Freundin herausfordernd an.

-„Nein, gibt es nicht. Oder zumindest habe ich die noch nicht kennen gelernt. Aber offenbar meinen französische Studenten, sie könnten eine deutsche Frau damit beeindrucken. Ich glaube, es gibt bessere Geschenke.“

-„Aber sieh dir das an.“ Lavinia schlug eine Seite des Magazins auf. Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass sie nicht weiter nachbohrte, was diesen Franzosen anging, den Mareen erwähnt hatte. Aber irgendwie war diese auch froh darum.

Lavinia deutete auf die fette Überschrift eines langen Artikels.

-„Das Abhören war erst der Anfang“, las Mareen. „Toll, und worum geht es da jetzt?“

-„Treadstone und Co. nicht länger ein Hollywood-Hirngespinst: Geheimdienste rufen Programme für gezielte Tötungen ins Leben. Und es geht noch weiter, das war ja nur der Titel. Eigentlich hätte mich das gar nicht sonderlich interessiert, aber dieses Bild hier“, sie deutete auf ein Foto, das einen Mann in dunkler Tarnkleidung und mit einer Waffe auf einen am Boden liegenden Menschen zielend, zeigte. „Das hat mich an Barcelona erinnert.“ Mareen bemerkte sofort, dass Lavinia bei diesen Worten unwillkürlich schluckte. Es dauerte einen Moment, bis sie weitersprach. „Ich bin mit dem Artikel noch längst nicht durch, der ist ja auch elend lang, aber richtig toll geschrieben.“

-„Willst du Colin jetzt etwa umbringen lassen?“ Mareen wusste nicht so recht, worauf ihre Freundin hinaus wollte.

-„Nein, natürlich nicht. Verstehst du denn nicht? Das hier könnte die Erklärung für alles sein, die Erklärung für Barcelona. Warte“, sie suchte eine Stelle im Text, „ah, hier:

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen gemütlich mit Ihrem Freund beim Abendessen, und plötzlich hören Sie einen Luftzug und Ihr Freund bricht zusammen. Tot. Natürlich wollen Sie sich das nicht vorstellen und natürlich ist Ihr Freund kein international gesuchter Verbrecher und steht auch mit keinem in Kontakt. Aber wer weiß schon, nach welchen Kriterien ein Geheimdienst potenzielle Ziele aussucht? Wenn erst einmal die Möglichkeit besteht, eine Gefahr zu eliminieren, wird vermutlich nicht lange gefragt. Wer garantiert uns, dass Generäle, die Aufträge zum Abhören eines ganzen Staates in Auftrag geben, nicht auch auf Verdacht einen Mord in Auftrag geben, wenn sie die Möglichkeiten dazu haben?

Und so weiter. Du solltest dir den ganzen Artikel mal durchlesen.“

-„Und du findest jetzt, der ist so gut geschrieben? Ich fand das ein bisschen zu dramatisch.“

-„Lies dir einfach alles durch, aber mir geht es ja auch gar nicht um den ganzen politischen Kram – nimm nur diesen ersten Satz mit dem zusammen Essen und dem tot Zusammenbrechen des Freundes. Barcelona war doch so ähnlich. Wenn Colin jetzt den Auftrag hatte…“

Mareen überlegte einen Moment. Abgesehen davon, dass sie den Teil des Artikels, den sie jetzt kannte, für wenig glaubwürdig hielt, fiel ihr bei ihrer besten Freundin ein Enthusiasmus auf, der eindeutig übertrieben war. Sozialpädagogik war vielleicht das falsche Studienfach, um das aus psychologischer Sicht zu beurteilen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass Lavinia in dem Artikel mehr sah, als es zu sehen gab und vor allem eine Verbindung herstellte, die es nicht gab. Bislang hatte Mareen vielmehr Zeit damit verbracht, zu überlegen, wie sie ihr helfen konnte und weniger, was in Barcelona wirklich passiert war und was die Ursache dafür war. Aber wenn sie überhaupt darüber nachdachte, so schien ihr eine Tat aus Eifersucht immer noch plausibler als die Geschichte, die sich Lavinia da gerade zusammenreimte.

-„Ich will dich ja nicht enttäuschen, Lavi, aber meinst du wirklich, dass das passt? Denk doch mal nach: Was da geschrieben steht, klingt nicht gerade realistisch…“

-„Aber es steht doch im Spiegel“, unterbrach Lavinia sie, „nicht in irgendeinem blöden Boulevardblatt.“

-„Okay, da hast du vielleicht Recht. Ich weiß es auch nicht, ich kann dir nicht sagen, was da passiert ist. Ich war nicht dabei, und selbst wenn, hätte ich vermutlich keine Ahnung. Aber nach dem, was du in Barcelona durchgemacht hast, halte ich es für völlig normal, dass du eine Erklärung suchst und dabei auch einiges übersiehst.“

Lavinia warf das Magazin zur Seite, Tränen kullerten erneut über ihre Wangen.

-„Ich glaube, du hast Recht“, schluchzte sie. „Ich will einfach, dass es einen Grund dafür gibt. Nur irgendeinen…“

-„Den gibt es sicher auch.“ Mareen umarmte ihre beste Freundin. Hatte sie gerade das Richtige getan?

-„Aber was soll der Grund gewesen sein?“

-„Keine Ahnung, ich weiß es nicht.“

-„Meinst du, er war einfach eifersüchtig? Aber dann so kaltblütig?“ Sie schluchzte noch lauter.

-„Ich weiß es einfach nicht, Lavi, tut mir leid.“

-„Zumindest hätte diese Geheimdienst-Geschichte doch sehr gut zu ihm gepasst, mit seinem ganzen James-Bond-Kram früher und so…“

-„Da hast du sicher Recht.“ Mareen musste schmunzeln.

Lavinia beruhigte sich ein wenig.

-„Danke. Danke, dass du immer für mich da bist“, flüsterte sie.

-„Ach, das ist doch selbstverständlich.“

-„Nein, das ist es sicher nicht.“

Lavinia löste sich aus Mareens Umarmung, wischte sich die Tränen von den Wangen und lächelte. Einen Moment verharrten sie so und lächelten sich an, dann setzten sie sich auf das Sofa.

-„Es tut mir leid, wenn ich mit solchen blöden Ideen ankomme, an denen wahrscheinlich nichts dran ist. Aber ich muss einfach irgendwas tun und ich will mich nicht nur ablenken. Bevor ich nicht weiß, warum, kann ich mich auf nichts mehr richtig konzentrieren… Das mit Àlex war einfach alles so außergewöhnlich. Schon wie wir uns kennen gelernt haben, die romantischen Abendessen, unsere erste Nacht…“

-„Meinst du, der Autor dieses Artikels weiß wirklich, wovon er spricht?“

-„Ja, ich denke schon. Wie gesagt: Ich habe den Artikel noch nicht komplett gelesen, aber auf mich wirkt das alles sehr gut recherchiert. Warum fragst du? Übrigens, der Autor ist gar nicht so viel älter als wir. Ich meine in der Beschreibung hätte gestanden, dass er achtundzwanzig ist.

Mareen war diese Idee einfach so gekommen. Sie wusste auch nicht, ob sie jetzt das Richtige tat, aber es schien ihr im Moment so zu sein.

-„Dann setz dich mit ihm in Verbindung.“

-„Was?“

-„Ja, setz dich mit dem Autor in Verbindung. Wenn auch nur irgendeine entfernte Möglichkeit besteht, dass du mit deiner Idee Recht hast, dass Colin wirklich etwas mit diesem Programm zu tun hat, dann wird dieser Journalist dir vielleicht helfen können. Und immerhin tust du dann etwas.“

-„Meinst du echt, das sollte ich tun?“

-„Es ist doch zumindest eine Möglichkeit.“

-„Wie soll ich an ihn denn rankommen?“

-„Wie heißt er noch mal?“

-„Moment.“ Lavinia hob das Magazin vom Boden auf und blätterte zu der Seite mit der Reportage. „Hier steht es: Mathis Lehmann, 28, seit etwas mehr als einem halben Jahr beim Spiegel, Experte für sicherheits- und wirtschaftspolitische Themenfelder.“

-„Na also. Du hast seinen Namen und weißt, wo er arbeitet. Wenn du seine Kontaktdaten nicht direkt im Internet findest, kannst du immer noch beim Spiegel anrufen und so versuchen, ihn zu kontaktieren.“

Lavinia nahm ihr Smartphone vom Tisch.

-„Wenn ich dich nicht hätte, Mareen…“


Mathis Lehmann trat aus seiner Wohnung am Sandtorkai in der Hafencity von Hamburg. Er warf einen kurzen Blick nach links und erkannte seine Bewacher. Unwillkürlich musste er lächeln. Seit beinahe einem halben Jahr wurde er nun schon beschattet und es war nicht schwierig gewesen, die Männer auszumachen, die mit dieser Aufgabe offenbar ihren Lebensunterhalt verdienten. Vielleicht wurde er auch bereits länger überwacht, aber er vermutete, dass diese besondere Aufmerksamkeit nicht der Tatsache zu verdanken war, dass er nun seit etwas über einem halben Jahr für das renommierte Spiegel-Magazin arbeitete, sondern vielmehr seinem ersten großen Artikel über die europäische Geheimdienstwelt.

Natürlich war er beunruhigt gewesen, als ihm die Beschatter das erste Mal aufgefallen waren. Er konnte nicht wissen, was genau sie für einen Auftrag hatten und auch nicht, wer sie schickte. Offensichtlich stellten sie allerdings keine größere Gefahr für ihn dar. In den nun fast sechs Monaten hatten sie sich ihm nie auf weniger als fünfzehn Meter genähert und in seiner unmittelbaren Umgebung waren in diesem Zeitraum auch nie Schüsse gefallen oder andere Waffen benutzt worden – soweit er es mitbekommen hatte. Vielleicht lag das zum Teil auch an seinem persönlichen Bewacher, den der Verlag ihm zur Verfügung gestellt hatte. Er wirkte deutlich unauffälliger und war selten so direkt auszumachen wie die Männer, die seiner Vermutung nach von einem europäischen Geheimdienst auf ihn angesetzt worden waren. Trotzdem wusste Lehmann immer, dass er da war. Ein dezentes Nicken, wenn er aus dem Haus kam oder ein Lächeln in der Menge waren meist die einzigen Anzeichen für die Anwesenheit seines persönlichen Leibwächters, der des Öfteren die Gestalt wechselte und sogar einmal für mehrere Tage eine Frau gewesen war. Sein Verlagsleiter hatte offenbar eine kompetente Sicherheitsfirma damit beauftragt, ihn zu beschützen.

Das Gespräch mit ihm war Lehmann anfangs unangenehm gewesen. Vor allem, weil er keine Ahnung hatte, wie sein Chef reagieren würde. Natürlich hatte er zuallererst mit seinem direkten Vorgesetzten, dem Chefredakteur in seiner Abteilung gesprochen, aber der hatte ihn sofort nach oben weitergeschickt. Statt, wie er kurzzeitig befürchtet hatte, beurlaubt zu werden, machte man ihm das Angebot des privaten Beschützers. Was er dankend annahm. Seit der Spiegel-Affäre sorgte man sich offenbar besonders um das Wohlergehen der eigenen Redakteure. Immerhin bewies das Interesse der Geheimdienste – wenn denn seine Vermutung zutraf – dass er mit seinem Artikel genau ins Schwarze getroffen hatte. Solange sich niemand in seine Recherchen einmischte, sollte ihm diese Dauer-Überwachung egal sein.

Trotzdem bemerkte er in den letzten Tagen eine verstärkte Aktivität der Männer, die ihn beschatteten. Wenn sie wirklich vom European Secret Service kamen, war das auch nicht weiter verwunderlich. Sein Artikel in der letzten Ausgabe hatte großes Aufsehen erregt. Immerhin war es das erste Mal, dass er konkrete Anschuldigungen erhob, für die er sich zwar abgesichert hatte, aber dennoch mit einigen Konsequenzen rechnen musste. Innerhalb der Redaktion waren nicht alle auf seiner Seite gewesen, aber die Verlagsleitung schätzte seine Arbeit außerordentlich und so hatte er die Reportage über das Killer-Programm veröffentlichen dürfen. Wenn auch mit einigen Auflagen, was die Formulierungen und persönlichen Schlussfolgerungen anging.

Mit seinem persönlichen Leibwächter und – wenn er richtig gezählt hatte – drei Agenten aus dem Überwachungs-Team im Schlepp schlenderte Mathis Lehmann langsam den Sandtorkai entlang, der nach einer Weile in den Brooktorkai übergeht. Von seiner Wohnung bis zum Verlagshaus der Spiegel-Gruppe waren es nur rund fünfhundert Meter. Die Luft war kalt, aber die Sonne strahlte vom Himmel und so hatte er beschlossen, den kurzen Weg zur Ericusspitze zu Fuß zurückzulegen.

Als er wenig später die Empfangshalle des Verlagshauses betrat, hatten sich bereits einige Wolken vor die Sonne geschoben. Das Gebäude war erst vor drei Jahren bezogen worden und hatte noch den Glanz des Neuen an sich. Durch die einem Atriumhaus ähnelnde Architektur mit etlichen Verbindungsbrücken im Inneren hatte man eine kommunikative Atmosphäre schaffen wollen, was, soweit Lehmann das beurteilen konnte, auch durchaus gelungen war. Dass das Gebäude damit architektonisch auch sehr stark dem Hauptquartier genau jenes Geheimdienstes ähnelte, über den Lehmann seine Reportagen verfasste, konnte er zum jetzigen Zeitpunkt nicht wissen.

Er schritt am Empfang vorbei und warf der jungen Frau hinter dem Tresen ein Lächeln zu. Auch heute wurde er das Gefühl nicht los, dass das von ihr erwiderte Lächeln nie das Strahlen erreichte, das er ihr schenkte. Lehmann trat in den Aufzug und betätigte die Etagentaste. Während er noch über die junge Empfangsdame und ihr Lächeln nachsann, ertönte ein Pling und der Aufzug kam zum Stehen. Auf dem Flur wandte er sich nach rechts und erreichte bald sein Büro im neunten Stock. Er öffnete die Tür und warf sein Jackett auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Für einen kurzen Moment genoss er den Ausblick, der über den Ericusgraben und die Baulandschaft der Hafencity bis zur Elbe und dem dahinterliegenden Containerhafen reichte. Zumindest hier an seinem Arbeitsplatz hatte er Ruhe vor seinen Bewachern.

Ein Klopfen an der Tür und die Stimme eines Kollegen rissen ihn aus seinen Gedanken. Ohne seine Antwort abzuwarten trat der junge Mann in Lehmanns Büro.

-„Guten Morgen Herr Schulte“, begrüßte Lehmann ihn amüsiert.

-„Guten Morgen Mathis. Ich soll dir ausrichten, dass vorhin jemand für dich angerufen hat. Eine junge Frau, sehr angenehme Stimme. Hat von einem Handy aus angerufen. Ich hab die Nummer notiert und gesagt, du würdest dich bestimmt melden.“ Er reichte ihm einen beschriebenen Zettel.

-„Sind junge Frauen mit schöner Stimme hier nicht eher dein Fachgebiet?“

-„Klar.“ Der junge Mann grinste anzüglich.

-„Aber danke fürs Bescheid sagen“, rief ihm Lehmann hinterher, als der schon wieder das Büro verließ.

Lehmann setzte sich hinter seinen Schreibtisch und startete den Computer. Erst ausschlafen und dann als ersten Auftrag des Arbeitstages ein Gespräch mit einer netten jungen Frau – so konnte dieser Mittwoch doch weitergehen.

Leben ist kälter als der Tod

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