Читать книгу Leben ist kälter als der Tod - Callum M. Conan - Страница 14

6 Mexico-City

Оглавление

Mathis Lehmann nahm den Hörer seines Telefons ab und wählte die Nummer, die sein Kollege ihm auf dem Zettel notiert hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Verbindung aufgebaut hatte, aber dann erklang ein Freizeichen und nach dem dritten wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen.

-„Hallo?“ Lehmann musste unwillkürlich lächeln. Diese Stimme war wirklich angenehm.

-„Guten Tag, mein Name ist Lehmann. Ich arbeite für den Spiegel-Verlag in Hamburg. Wie ich hörte, haben Sie versucht, mich zu erreichen.“

-„Oh, Sie sind das?“ Er meinte eine gewisse Verunsicherung in ihrer Stimme zu hören. Offenbar hatte sie mit seinem Anruf nicht gerechnet. „Einen Moment, bitte.“

Am anderen Ende der Leitung stürzte Lavinia Lichtsteiner aufgeregt aus dem Gästezimmer in Mareens Wohnung und ins Wohnzimmer, wo Mareen sich unterdessen wieder ihrem Oscar-Wilde-Roman gewidmet hatte. „Er ist es!“, hauchte sie ihrer besten Freundin zu, die sofort das Buch zur Seite legte.

„So, da bin ich wieder. Tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen.“

-„Ach, das ist kein Problem. Wenn Sie mir jetzt noch sagen, wer Sie sind und warum Sie mich kontaktiert haben, ist alles in bester Ordnung.“

-„Oh, natürlich. Sorry. Ich bin Lavinia Lichtsteiner, was Ihnen jetzt vermutlich gar nichts sagt, aber das muss es ja auch nicht. Ich rufe an wegen Ihres Artikels in der letzten Ausgabe des Spiegels.“

Lehmann setzte sich aufrecht in seinen Bürosessel. In gewisser Weise war er ein wenig enttäuscht. Es ging also um seine Arbeit. Aber was hatte er auch anderes erwarten können?

-„Ist Ihnen beim Lesen ein Fehler aufgefallen? Das tut mir dann schrecklich leid.“

-„Nein, im Gegenteil. Ich finde ihn klasse. Sie schreiben wirklich toll.“ Immer noch war die Aufregung aus ihrer Stimme zu entnehmen.

-„Worum geht es dann?“

-„Also, die Sache ist die: Ich kann das jetzt nur sehr schwer erklären. Im Grunde ist das auch gar nicht wirklich zu erklären. Aber in gewisser Weise sind Sie meine letzte Hoffnung.“

Lehmann musste lachen.

-„Ich bin Ihre letzte Hoffnung? Na, das hört man doch gerne.“

Auch vom anderen Ende der Leitung erklang ein unsicheres Lachen.

-„ Könnten Sie mir denn helfen?“

-„Wenn ich schon Ihre letzte Hoffnung bin, würde ich Sie natürlich ungern enttäuschen. Aber damit ich Ihnen helfen kann, sollten Sie mir vielleicht erst einmal sagen, was Sie von mir erwarten.“

-„Das weiß ich ja selbst nicht so genau. Ich glaube, es würde mir schon weiterhelfen, wenn Sie bestätigen könnten, dass Ihr Artikel der Wahrheit entspricht.“

-„Also da kann ich Sie beruhigen: Wenn das eine ausgedachte Geschichte gewesen wäre, hätte ich sie in einem Roman verarbeitet und definitiv nicht in unserem Magazin drucken dürfen.“

-„Gibt es dieses Killer-Programm also mit Sicherheit?“

-„Natürlich kann ich Ihnen nicht jede Einzelheit nennen, immerhin bin ich Journalist und kein Angehöriger des genannten Geheimdienstes, aber Sie können mir glauben, dass jedes Detail in meinem Artikel genauestens recherchiert und über Quellen abgesichert ist. Lediglich die dramatische Beschreibung des Ganzen gibt der Geschichte vielleicht einen gewissen Touch von Fiktion. Das bezieht sich aber nur auf meine Kommentare und Beschreibungen, niemals auf die Fakten. Die stimmen definitiv.“

-„Und Sie meinen, da könnte jeder Mensch einfach so reinkommen? Auch wenn er vorher ein völlig friedlicher Junge war?“

-„Aha, es geht also um einen Jungen? Ist ihr Bruder verschwunden und Sie wollen jetzt wissen, ob er eine Anstellung bei diesem Geheimdienst angenommen haben könnte?“

-„Sie interpretieren aber eine ganze Menge in meine Fragen!“ Allmählich schien sich die Anruferin zu entspannen. Wie war noch gleich ihr Name? Lavinia, genau. Die schöne Lavinia aus Shakespeares Titus Andronicus. Lehmann schüttelte lächelnd den Kopf. Er las einfach zu viel.

-„Das ist ja in gewisser Weise auch meine Aufgabe.“

-„Okay, da haben Sie vielleicht Recht.“

-„ Wo sind Sie eigentlich gerade, wenn ich fragen darf?“

-„In Paris.“

-„Ein Auslandsgespräch demnach. Mein Chef wird mich umbringen!“ Lehmann lachte. „Nein, natürlich nicht. Aber dann wird das natürlich schwierig mit meinem Vorschlag.“

-„Welchem Vorschlag?“

-„Ich wollte Sie einladen, sich mit mir zu treffen. Dann hätten wir uns ausführlicher über das Programm aus meinem Artikel unterhalten können.“ Dass er vor allem wissen wollte, welches schöne Mädchen hinter dieser angenehmen Stimme steckte, verschwieg er dabei.

-„Nein, das ist überhaupt kein Problem. Wir können uns treffen.“

-„Ist das für Sie nicht ein bisschen zu aufwändig?“

-„Überhaupt nicht. Ich will unbedingt mehr darüber erfahren. Ich kann auf jeden Fall nach Hamburg kommen.“

-„Gut. Wann könnten Sie das denn einrichten?“

-„So schnell wie möglich. Ich habe noch keine Fahrkarte, aber mit dem Zug sollte ich es bis morgen schaffen. Wenn Sie denn auch Zeit für mich haben.“ Sie schien in ihrer Aufregung allmählich zu realisieren, was sie da gerade anberaumte. „Oh, es tut mir so leid, ich denke gar nicht daran, dass Sie auch noch andere Dinge zu erledigen haben, als sich mit mir zu treffen.“

-„Das macht doch nichts. Wenn Ihnen das Gespräch so wichtig ist, können wir das auf jeden Fall einrichten. Immerhin gehört das ja auch in gewisser Weise zu meiner Arbeit.“

-„Danke, Sie sind toll.“

-„Sagen Sie das nicht zu früh, ich weiß ja gar nicht, ob ich Ihnen wirklich weiterhelfen kann. Offenbar gibt es ja einen konkreten Grund für Ihr Interesse.“

-„Vielleicht.“

-„Ich habe noch einen anderen Vorschlag: Wie wäre es, wenn ich Ihnen für morgen früh einen Flug über unseren Verlag reservieren lassen würde? Sie müssten sich dann nicht durch den Schienendschungel kämpfen, denn ich vermute, im Thalys wird so schnell kein Platz zur Verfügung stehen.“

-„Das kann ich doch nicht annehmen.“

-„Doch, das können Sie. Morgen früh ab zehn von Orly – gehen Sie einfach zum Informationsschalter und fragen Sie nach dem nächsten Flug nach Hamburg. Ich reserviere den Platz auf Ihren Namen. Lavinia Lichtsteiner, richtig?“

-„Richtig.“

-„Dann bis morgen, Lavinia Lichtsteiner.“

Noch bevor sie protestieren konnte, hatte Lehmann aufgelegt. Er wusste zwar noch nicht so richtig, wie er das mit dem Flugticket seinem Chef erklären sollte, aber irgendwie würde es schon funktionieren. Wie er schon Lavinia gegenüber gesagt hatte: Immerhin ging es ja in gewisser Weise um seine Arbeit. Wenn auch nur ansatzweise.


Die Boeing 787 vom Typ Dreamliner wurde schon auf dem Rollfeld bereit gestellt, als Colin Fox am Nachmittag den Madrider Flughafen erreichte. Bei sich trug er nur den einen Koffer, den er seit seiner Ankunft in Spanien dabei hatte, mit einem Spezialfach für seine Walther PPQ, das ein Entdecken durch die Metalldetektoren verhinderte. Ihm war allerdings nur ein einziges letztes Magazin geblieben. Vielleicht gab es in Mexico-City ja die Möglichkeit, seinen Vorrat etwas aufzustocken.

Er wandte sich zum Ticketschalter in der Verteilerhalle. Noch von Barcelona aus hatte er ein sündhaft teures Ticket für den letzten Direktflug des Tages mit Aeromexico gebucht. Nach Einrechnung der Zeitverschiebung würde er gegen neun Uhr Ortszeit in der lateinamerikanischen Metropole ankommen. Beinahe ein halber Tag nur im Flieger. Schon jetzt bemerkte er ein leichtes Unwohlsein. Aber anders ging es nicht und er durfte keine Zeit verlieren.

Die Frau hinter dem Schalter händigte ihm sein Ticket aus und wies ihn darauf hin, dass er nur noch wenige Minuten für den Check-In hatte. Trotzdem ließ er sich Zeit, zur Passkontrolle zu gehen. In Gedanken plante er bereits seine nächsten Schritte auf der anderen Seite des Atlantiks. Viele Anhaltspunkte hatte er nach wie vor nicht, aber ein Abstecher zur dortigen Filiale der Banco B und dem Büro von Àlex Nogales konnte weitere aufschlussreiche Informationen ergeben. Hoffte er zumindest. Ansonsten blieb ihm nur die Suche nach der Niederlassung der US-amerikanischen Handelsgesellschaft für die Jack Nolte, der Mann aus dem Ritz, gearbeitet hatte. Vielleicht musste er sogar auf den einen oder anderen Zufall hoffen, aber in den nächsten zwölf Stunden würde er ohnehin noch genug Zeit haben, einen Plan für die nächsten Schritte auszuarbeiten.


Constantin Fröhlich war immer noch in heller Aufregung, als er den kleinen Konferenzraum des ESS-Headquarters in Konstanz betrat, in dem Ronald Freud bereits auf ihn wartete. Der Leiter des European Secret Service hielt inne, bis Fröhlich sich gesetzt hatte und blickte erst dann von seinen Unterlagen auf. Fröhlich erwartete eine Ansprache, aber Freud starrte ihn einfach nur an. Nach nicht einmal einer vollen Minute hielt er es nicht mehr aus.

-„Gibt es was Neues? Haben wir endlich Anhaltspunkte? Kriegen wir die Sache in den Griff?“ Er wirkte beinahe panisch.

Freud lächelte trocken.

-„Natürlich bekommen wir die Sache in den Griff, bleiben Sie ganz ruhig.“ Das Lächeln verschwand. „Aber wir haben eine Reihe von Problemen, das lässt sich nicht leugnen. Da wäre zum einen die Tatsache, dass wir nicht schnell genug waren, was die Ermittlung des Lecks in diesem Laden angeht. Vor einem halben Jahr sprachen wir darüber, einen internen Ermittler einzusetzen und auf Ihren Vorschlag hin, habe ich einen Mann aus Ihrer Abteilung gewählt. Das Ergebnis ist durchweg enttäuschend. Nicht nur, dass Ihr Mann nichts und niemanden fand, nein, wir haben es nun mit dem schlimmsten anzunehmenden Fall zu tun: Es sind weitere Informationen nach außen gesickert und über die Medien veröffentlicht worden. Ihr Programm ist nicht länger geheim. Sie stehen gegenwärtig unter Beobachtung. Unser einziges Glück ist, dass niemand konkrete Informationen hat. Offenbar kommt der Maulwurf also wirklich nicht aus Ihrer Abteilung. Eine Tatsache, die Sie aber keineswegs beruhigen sollte.“

-„Das tut sie auch nicht.“ Fröhlich hatte sich immer noch nicht entspannt.

-„Gut. Aber bevor wir weiter über diese Sache sprechen, haben Sie ja offenbar auch noch etwas auf dem Herzen. Ich hoffe, dabei handelt es sich wenigstens um gute Nachrichten.“

Fröhlich schloss für einen Moment die Augen und amtete tief durch. Diese Situation gefiel ihm nicht und er fürchtete sich vor den Konsequenzen. Freud war für harte Entscheidungen bekannt.

-„Es gibt da noch ein weiteres Problem mit dem Death Panel.“

-„Wie bitte?“

-„Es gibt noch ein weiteres Problem.“

-„Ja, das habe ich schon verstanden. Ich will wissen, worum es sich handelt, verdammt noch mal!“

-„Es könnte sein, dass wir einen Agenten verloren haben.“

-„Sind Sie sich sicher? Was genau ist passiert?“

-„Der Mann hatte zwei Aufträge, den ersten hat er zur vollsten Zufriedenheit erledigt. Daraufhin bekam er einen zweiten, der direkt an seinem Aufenthaltsort ausgeführt werden sollte. Wie mir einer unserer Verbindungsleute mitteilte, ist auch dieser Auftrag ausgeführt worden, zwar mit einigen Komplikationen, aber unser Mann ist nicht gefasst worden.“

-„Was ist dann bitte das Problem? Dass nicht jeder Auftrag ohne Komplikationen läuft, dürfte Ihnen doch klar gewesen sein.“

-„Ja, natürlich. Aber unser Mann hat sich nach dem Auftrag nicht gemeldet. Er hat die Ausführung nicht bestätigt und er ist seitdem auch nicht mehr zu erreichen.“

-„Wie lange ist das her?“

-„Bereits über sechsunddreißig Stunden.“

-„Meinen Sie, es besteht schon großer Anlass zur Sorge?“

-„Wenn nicht, wäre ich nicht deshalb zu Ihnen gekommen. Wir können noch weitere achtundvierzig Stunden abwarten, aber da unser Mann in diesem Zeitraum für seine regelmäßige Untersuchung eingetragen war, müssen wir uns auf das Schlimmste vorbereiten.“

Freud atmete deutlich hörbar aus. Er strich sich mit der faltigen Hand über die Stirn.

-„Wer ist es?“

-„Colin Fox.“

Es dauerte einen Moment bis Freud diese Information verarbeitet hatte. Dann nahm er seine Brille ab und begann sie zu putzen.

-„Das hat uns gerade noch gefehlt.“ Fröhlich schwieg. Es gab keine geeignete Antwort darauf. „Gehen Sie davon aus, dass er außer Kontrolle ist?“

-„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er sollte im Verlauf des morgigen Tages die neuen Substanzen bekommen, aber da wir bei den letzten beiden Untersuchungen eine so hohe Dosis angesetzt haben, mussten die Ärzte die Abstände zwischen den Behandlungen vergrößern. Wenn er sich die Substanzen nicht selbständig als Tabletten oder per Spritze verabreicht, könnte die Wirkung bereits stark nachgelassen haben.“

-„Er ist also wieder bei vollem Bewusstsein?“

-„Wenn Sie es so nennen wollen – medizinisch gesehen war er das ohnehin die ganze Zeit. Aber jetzt kommt die psychische Seite hinzu.“

Freud überlegte einen Moment.

-„Uns darf die Sache jetzt nicht außer Kontrolle geraten. Wir warten bis morgen ab, ob er sich nicht doch noch meldet oder sogar bei Ihnen erscheint, aber Sie sollten einen Mann bereit halten, den wir notfalls auf ihn ansetzen können. Alles klar?“

-„Alles klar!“

-„Gut. Zurück zu der Sache mit dem Leck. Ich schlage vor, wir nehmen uns jeden einzelnen hier im Service selbst vor. Überprüfen jeden Angestellten auf Herz und Nieren. Wenn auch nur eine kleine Ungereimtheit zu finden ist, knöpfen wir uns denjenigen vor. Ich habe bereits die Überwachung des Reporters verstärkt. Aber aus naheliegenden Gründen können wir an dieser Front natürlich nichts unternehmen.“

-„Natürlich.“

-„Also beginnen wir mit unserer Suche. Ich habe noch zwei wichtige Termine, aber wenn wir morgen die Sache mit Colin Fox geklärt haben, sollten wir anfangen können.“

Fröhlich nickte.

-„Wie Sie wünschen.“

-„Ich schlage vor, wir arbeiten uns von oben nach unten durch. Das hieße wir beginnen mit den Opal-Namensträgern. Die heimliche Führung in diesem Laden.“


Als der Flieger zur Landung ansetzte war es bereits dunkel. Fox warf einen Blick aus dem Fenster. Unter ihnen funkelte das Lichtermeer von Mexico-City. Sein iPhone zeigte kurz nach neun Uhr Ortszeit. Den Besuch der hiesigen Filiale der Banco B würde er auf morgen verschieben müssen. Aber diese Tatsache war ihm bereits vor Flugantritt klar gewesen. Was ihn aktuell mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass er einen Haufen Geld bei sich trug, den er zumindest sicher bis zu einem Hotel bringen musste. Für die zahlreichen Aufträge im Namen des European Secret Service hatte man ihm Anfang des Jahres ein spezielles Konto zugewiesen, über das er beliebig verfügen konnte. Wenn er sich richtig erinnerte, war die Einweisung zu diesem Konto der erste und bislang einzige Moment gewesen, in dem er den Leiter der speziellen Abteilung, zu der er seit einem Jahr gehörte, zu Gesicht bekommen hatte. Noch immer konnte er sich nicht an den Grund und die Umstände erinnern, die zu dieser Anstellung geführt hatten. Der Gedanke quälte ihn. Fehlende Informationen waren ihm schon immer ein Ärgernis gewesen. Das sagte ihm zumindest der Teil seiner Erinnerungen, der funktionierte.

Die Sache mit dem Geld konnte sich noch als größeres Problem erweisen. Eben weil er so frei über das Konto des ESS verfügen konnte, war er sich sicher, dass seine Vorgesetzten eine Möglichkeit hatten, die Kontobewegungen zu verfolgen und er wollte unter allen Umständen verhindern, dass man ihm so auf die Schliche kam. Die SIM-Karte seines iPhones hatte er in Barcelona aus dem Handy genommen und so war die einzige Verbindung zu ihm, die für den ESS existierte, die Bezahlung des Flugtickets. Er musste also damit rechnen, dass zumindest seine Reise nach Mexico-City bemerkt werden würde. Um aber jeden weiteren Hinweis auf seinen Aufenthaltsort zu vermeiden hatte er in Madrid eine große Menge Bargeld von seinem ESS-Konto abgehoben. Damit würde er hoffentlich eine Weile auskommen. Er durfte nur kein Risiko eingehen. Bei Überfällen in der Stadt war schon so manches Vermögen abhanden gekommen.

Aus diesem Grund hielt er sich am Flughafen nicht länger auf und beschloss, ein Taxi statt der Metro in die Innenstadt zu nehmen. Fox wählte ein für Mexico-City typisches grünes VW-Käfer-Taxi mit einem A in der Kennung, das ihm verriet, dass der Fahrer eine Lizenz hatte. Eine Fahrt mit unlizenzierten Taxis konnte böse Folgen haben. Auch dabei war die Wahrscheinlichkeit eines Überfalls groß.

Die Fahrt ins Stadtzentrum dauerte keine zwanzig Minuten. Der Fahrer empfahl das Le Meridien, und Fox zeigte sich einverstanden, als sie vor dem Hauptportal vorfuhren. Er zahlte ein großzügiges Trinkgeld und betrat die Lobby des Hotels. Es bereitete ihm keine größeren Schwierigkeiten, das Zimmer für eine ganze Woche im Voraus zu bezahlen und so konnte er schnell alle Formalitäten erledigen und sich auf sein Zimmer begeben. Wenn es die Situation erfordern sollte, wollte er flexibel sein und Mexico-City schnellstmöglich verlassen können.

Nachdem er sich in seinem Zimmer eingerichtet und die größte Menge des Bargelds in einem Safe verstaut hatte, verließ er das Hotel für einen ersten Streifzug durch die Metropole. Es konnte nie schaden, sich ein Bild der aktuellen Situation einer Stadt zu machen. Schon gar nicht, wenn man sich auf einige gefährliche Momente einstellen musste.

Sein Hotel lag an der Paseo de la Reforma, einer der Hauptschlagadern der Stadt, was sich auch zu dieser späten Tageszeit deutlich bemerkbar machte. Der Verkehr war für halb elf am Abend ziemlich dicht und auf den Bürgersteigen tummelten sich viele Menschen, die zum Teil bereits ziemlich angetrunken wirkten. Fox wandte sich nach links und bog in eine größere Nebenstraße ein, die ihn in Richtung historisches Stadtzentrum führen sollte. Schon nach wenigen hundert Metern wurde die schachbrettartige Struktur der Straßen in Mexico-City deutlich. Nur die breiteren Boulevards nach europäischem Vorbild boten Anhaltspunkte, um den aktuellen Standort im Straßennetz zu lokalisieren. Als er am Ende einer Querstraße die barocke Kathedrale der Stadt erkannte, wandte er sich nach links und hielt auf das eindrucksvolle Gebäude aus rötlichem Vulkanstein zu. Durch die künstliche Beleuchtung wirkte der Sakralbau beinahe noch eindrucksvoller als am Tag. Zwischen den Gebäuden der Stadtregierung hindurch schritt er auf den Zócalo. Im Vergleich zum belebten Boulevard vor seinem Hotel wirkte der Platz der Verfassung beinahe wie ausgestorben. Fox hatte gehofft, nach seinem bereits mehr als zwanzigminütigen Fußmarsch eine Bar oder ein Restaurant zu finden, aber außer dem Nationalpalast zu seiner Rechten und der Kathedrale direkt vor ihm gab es hier nur die Gebäude der Stadtregierung. Also schlenderte er weiter über den Platz. Die große Landesflagge inmitten des Platzes wehte majestätisch im leichten Abendwind. Fox blickte sich noch einmal um. Eindrucksvoll war dieser Platz allemal.

Während er an der großen Kathedrale vorüber schritt, erinnerte er sich daran, gelesen zu haben, dass auch der Sakralbau, wie viele andere Gebäude der Stadt, langsam im sumpfigen Boden verschwindet. Er schüttelte den Kopf. Eigentlich schade drum.

Sein Weg führte ihn weiter nach Norden, in das Marktviertel Tepito. Weil er auch nach weiteren zwanzig Minuten keine einladende Gastronomie gefunden hatte, beschloss er, mit der Metro zurück zum Hotel zu fahren und dort einen Nachtimbiss einzunehmen. Sein Problem war nur, die nächste U-Bahn-Station zu finden. In dem Gewirr der Straßen hatte er mittlerweile Schwierigkeiten, die Orientierung zu behalten. Er wusste zwar, woher er gekommen war und auch in welcher Richtung die Paseo de la Reforma lag, aber in seiner Erinnerung musste sich hier in der Nähe eine Station befinden, die er bislang nicht gefunden hatte.

Nachdenklich bog er in eine kleine Gasse ein. Wenn er das Straßengewirr richtig im Kopf hatte, musste er in dieser Richtung auf eine andere Straße kommen, die ihn zur Metro-Station führte. Die Atmosphäre in dieser engen Gasse war bedrückend. Nur ganz leise vernahm er die Stadtgeräusche, die weit entfernt schienen, obwohl nicht einmal zweihundert Meter weiter eine der Hauptstraßen der Stadt verlief. Einige schwache Lampen erhellten die Gasse, aber auch so konnte Fox lediglich die Umrisse der Gebäude erkennen. Ein muffiger Geruch stieg ihm in die Nase. Dies war kein Ort, wo man sich gerne aufhielt. Ein lautes Scheppern in seinem Rücken ließ ihn augenblicklich herumfahren. Er glaubte eine umgestürzte Mülltonne zu erkennen. Konzentriert suchte er die Gasse ab. An den Häuserfassaden waren keine Bewegungen zu erkennen. Nachdem er einen Moment völlig reglos die Szenerie hinter sich betrachtet hatte, sprang eine Katze aus einer Nische, in deren Nähe auch die umgestürzte Mülltonne lag. Fox entspannte sich wieder. Langsam ging er weiter. Seine Schritte hallten durch die Gasse. Niemand kam ihm entgegen, niemand zeigte sich. Mexico-City schien hier wie ausgestorben. Aber Fox wusste, dass dem nicht so war. Als er glaubte, das Ende der Gasse zu erkennen, beschleunigte er seine Schritte. Rechts abbiegen, dann sofort wieder links – dort vermutete er sein Ziel.

Kurz bevor er die Nebenstraße erreichte, die das Ende der Gasse bildete, hörte er plötzlich einen erstickten Schrei. Fox runzelte die Stirn und beschleunigte nochmals seinen Schritt. Hinter der Häuserecke blieb er stehen. In Richtung Norden erkannte er von seinem Standort aus die Leuchtreklame eines billigen Hotels. Vorsichtig drehte er den Kopf und lugte in die Richtung, in die er weitergehen wollte. Aus dem Augenwinkel erkannte er zwei Gestalten, die in einem Hauseingang verschwanden. Wieder ertönte ein Schrei, diesmal unterdrückt. Dann war es plötzlich wieder still.

Fox wartete einen Augenblick und ging dann langsam weiter die Straße hinunter, wie er es geplant hatte. Etwa dreihundert Meter vor sich erkannte er bereits die Straße, an der die Metro-Station lag. Zu seiner Rechten vernahm er ein Poltern, dann ein Wimmern. Er ging gerade an dem Hauseingang vorüber, in dem vor wenigen Augenblicken die zwei Menschen verschwunden waren. Fox blieb erneut stehen und wartete. Das Wimmern verklang und kehrte dann in Form eines weiteren unterdrückten Schreis zurück. Er überlegte einen Augenblick, dann nahm er die Walther aus seinem Schulterhalfter und entsicherte sie. Vorsichtig drückte er die Klinke der Tür hinunter. Sie ließ sich problemlos öffnen. Vor ihm erstreckte sich ein langer, enger Flur, von dem eine Treppe nach oben abging. Außerdem befand sich links hinten eine Tür, die über zwei nach unten führende Stufen zu erreichen war.

Lautlos bewegte er sich vorwärts, genau darauf achtend, die Hand mit der Waffe immer oben zu halten. Er fragte sich, wie er überhaupt auf die Idee gekommen war, hier hineinzugehen. Es gab keinen logischen Grund. Als er gerade die Waffe wegstecken und das Haus wieder verlassen wollte, erklang erneut ein gedämpfter Schrei. Das Geräusch kam eindeutig aus dem Raum hinter der Tür an der linken Seite. Fox atmete tief ein. Er ging die drei Schritte bis zu der Tür und warf sich mit voller Wucht dagegen. Die hölzerne Leichtbautür zersplitterte und er fand sich in einem abgedunkelten Zimmer wieder. Als er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah er sich um. Ein einzelner Lichtschein kam aus einem Raum, dessen Tür nur angelehnt war. Fox ging entschlossen darauf zu. Als er die Tür aufstieß, erkannte er einen muskulösen Mexikaner im Unterhemd, der sich über eine wild zappelnde Frau beugte, die offenbar keine Chance hatte, sich aus seiner Umklammerung zu lösen und der ein Stofftuch im Mund steckte. Ihre Kleider waren zerrissen, sie blutete aus einigen kleineren Verletzungen.

Als der Mexikaner erkannte, dass ein Eindringling in der Tür stand, ließ er einen Moment von ihr ab, achtete aber weiterhin darauf, dass sie sich zwischen seinen Beinen nicht bewegen konnte. Sie schluchzte laut auf.

Fox zielte auf den Mann, der ihm einen wütenden Blick zuwarf, aber offenbar so langsam realisierte, in was für einer Lage er sich befand. Einen Augenblick passierte gar nichts. Fox stand reglos da, die Waffe auf den Mexikaner gerichtet. Er hatte nach wie vor keine Ahnung, was er hier eigentlich tat. Dieser Mann hatte offenbar die Frau, die nun unter ihm lag, überfallen und war gerade dabei, sie hier zu vergewaltigen. Was hatte er damit zu tun? Noch vor wenigen Stunden hatte er sich vorgenommen, die gefährlichen Viertel der Stadt zu meiden, um nicht selbst Opfer eines Überfalls zu werden und jetzt mischte er sich in diese Sache, die ihn nichts anging und die auch für ihn gefährlich werden konnte.

Verschwinde, solange du noch kannst!

Aber das hier musste er jetzt zu Ende bringen. Er machte einen Schritt auf den Mexikaner zu, dessen Wut sich langsam in pure Angst wandelte. Er stieß pausenlos unverständliche Worte auf Spanisch aus und machte abwehrende Gesten. Das Stofftuch nahm er der Frau aus dem Mund, die daraufhin noch lauter zu schluchzen begann. Während der Mexikaner sich von ihr herunter wälzte, konnte Fox ihre nackten Brüste erkennen, die sie sofort umklammerte, als ihre Hände frei waren. In ihrem angsterfüllten Gesicht sammelten sich Tränen. Sie schien Europäerin zu sein, ihrem Aussehen nach zu urteilen. Durchaus hübsch, wie Fox bemerkte. Was hatte sie hier zu suchen gehabt?

Der Mann entfernte sich vom Bett und hob vorsichtig die Hände. Fox warf der Frau seine Jacke zu.

-„Ah, ahora tú la coges?”, fragte der Mexikaner mit einem hässlichen Grinsen.

Fox explodierte. Er wusste selbst nicht genau warum, aber er sprang auf den Mexikaner zu, packte ihn am Hals, zog ihn zum Bett und drehte ihn so, dass er die Frau ansehen musste. Dann setzte er die Pistole an und schoss. Der Mann sackte sofort zusammen. Die Frau sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Neue Angst schien sich in ihr auszubreiten. Als Fox eine Bewegung machte, mit der er sie aufforderte zu gehen, sprang sie aus dem Bett, zog seine Jacke über und rannte aus der kleinen Wohnung.

Fox atmete tief ein und aus. Was hatte er hier gerade eigentlich getan? Langsam sah er sich im Zimmer um und verließ es dann wie in Trance. Erst auf der Straße steckte er die Waffe wieder in sein Schulterhalfter, das nun offen zu sehen war. Ohne darüber nachzudenken ging er zur Metro-Station, stieg in eine fast völlig leere Bahn, fuhr zwei Stationen, stieg dann um und an der Station nahe seinem Hotel wieder aus. Ein paar Passanten gingen an ihm vorüber und musterten ihn argwöhnisch. Im Hotel angekommen, hatte er Glück, dass der Portier gerade mit einem anderen Gast in eine Diskussion vertieft war und ihn so übersah. Fox stieg in den Aufzug, drückte die Taste für seine Etage, fuhr nach oben, stieg aus, ging zu seinem Hotelzimmer, schloss es auf und betrat es. Drinnen legte er sich sofort ins Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.

Leben ist kälter als der Tod

Подняться наверх