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Unverdrossener
Stammgast – die Fliege

Es war märchenhaft: Alle schliefen, auch die Fliegen an der Wand – aber nur bei Dornröschen. In Wirklichkeit schläft die Fliege viel zu kurz, denn ab Tagesanbruch summt sie durchs Zimmer, brummt um unsere Köpfe, landet auf der Nase und widersteht jedem unserer Versuche, sie im Halbschlaf mit einem gezielten Schlag zu eliminieren. Wenn uns die kitzelnden Fliegenfüßchen wecken, können wir nie sicher sein, wo sie vor ihrem Anflug zuletzt gelandet sind. War es die Obstschale in der Küche, der Komposthaufen im Garten oder die Hinterlassenschaft eines Hundes vorm Haus? Die vielfältigen Landeplätze der Fliegen decken aus Menschensicht das gesamte Spektrum von appetitlich bis abscheulich. Das macht unermüdliche Landeanflüge auf Marmeladenglas und Milchkännchen umso bedenklicher. Und so verwundert es nicht, dass die Fliege bereits in der Hieroglyphenschrift der Alten Ägypter für Unverschämtheit stand – auch wenn die Fliege selbst das vielleicht gar nicht so sieht.

Fühlende Füße

Es geht ihr eigentlich nicht ums Nerven, sondern um Nahrung. Um diese aus größerer Distanz anzupeilen, setzen die meist schillernd gefärbten Schmeißfliegen ihre sensiblen Geruchsorgane auf den Fühlern ein, mit denen sie die Luft nach verheißungsvollen Duftstoffen durchkämmen. Durch die winzigen Öffnungen der röhrenförmigen Borsten treten Duftstoffe ein und reizen im Innern eine Nervenzelle. Der Geruchssinn der Großen und Kleinen Stubenfliege hingegen ist um den Faktor zehn schwächer ausgebildet.

Dafür haben Fliegen im wahrsten Sinne des Wortes jede Menge Geschmack: Tapsen sie bei Patrouillen auf Esstisch oder Arbeitsplatte auf Kuchenkrümel oder Soßenkleckse, können die Tiere zum einen mit Sensoren an den Mundwerkzeugen winzigste Mengen Zucker und Salz ausfindig machen. Zum anderen nutzen sie zum Schmecken die Füße. Mit insgesamt sechs Stück funktioniert das Ganze auch an mehreren Stellen gleichzeitig – Multitasking nach Fliegen-Manier.

Fliegen sind ziemlich haarig. Die Haare dienen je nach Lage als Geschmacks- und Bewegungsmelder. Damit sie verlässlich arbeiten können, muss die Fliege stets dafür sorgen, dass sie sauber sind. Der Putzfimmel der Fliegen ist also durchaus sinnvoll.

Deckenläufer

Kopfüber an die Decke? Kein Problem für Fliegen. Sie nähern sich dem luftigen Landeplatz in einem steilen Winkel, setzen mit den Vorderbeinen zuerst auf und bringen dann mit einem halben Purzelbaum die restlichen Beine an die Decke. Die Fliegenfüße tragen neben Krallen schwammartige Fußballen, die mit feinen Haaren übersät sind. Jedes einzelne endet in einem Haftläppchen, durch das die Fliege selbst an Glasscheiben nicht abrutscht. In der Mitte der Beine wird eine Flüssigkeit produziert, die an den Haftläppchen tröpfchenweise abgegeben wird und die Haftung noch verstärkt.

Spucken und Speien

Fliegen haben Mundwerkzeuge, die zum Lecken und Saugen geeignet sind. Bei genauerem Hinsehen kann man sie sogar mit bloßem Auge gut erkennen. Am Vorderende trägt die Fliege ein rüsselförmiges Gebilde, das einem Miniaturstaubsauger ähnelt. Diesen tupft das Tier immer wieder auf den Untergrund. Dabei wird Futter mit abgesondertem Speichel verflüssigt und dann aufgesaugt. Der Brei landet zunächst im Kropf. Um zur weiteren Verdauung in den Mitteldarm zu gelangen, muss die Fliege ihn ähnlich wie eine Kuh wieder hervorwürgen. Teile davon erreichen oft das Ende des Rüssels. Daher rühren die kleinen, hellen und undurchsichtigen Pünktchen, die sich deutlich von den braunen Kotflecken an Fenstern und Lampenschirmen unterscheiden.


Futternde Fliege

Fliegenfracht

Wer ständig zwischen Ekelerregendem und Essbarem pendelt, kann Krankheiten übertragen. So reisten über 400 verschiedene Erreger, wie beispielsweise die für Typhus, Ruhr, Cholera und Milzbrand, jahrhundertelang unentdeckt mit den Fliegen und brachten viel Unheil. Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist dieser Zusammenhang bekannt. Zum einen kleben – allen Putzeinsätzen der Fliege zum Trotz – jede Menge ungebetener Erreger an den behaarten Beinchen und sonstigen Körperhaaren sowie dem klebrigen Haftsekret an den Fliegenfüßen. Zum anderen tummeln sich Krankheitserreger im Speichel. Die erbrochene Nahrung tut ein Übriges. Zudem gilt das fliegende Volk als Milben-Taxi. Die Wandernymphen von Milben klammern sich an Fliegen fest und verbreiten sich so auf dem Luftweg.

Made als Medizinerin

Ursprünglich dachte man, Fliegenlarven entstünden spontan im Fleisch. Erst seit dem 17. Jahrhundert ist klar, dass dem Gewusel der Besuch eines Fliegenweibchens und eine Eiablage vorangehen. Das Weibchen der Großen Stubenfliege legt in seinem maximal sechs Wochen langen Leben bis zu 1000 perlmuttfarben glänzende, längliche Eier ab. Bei sommerlichen Temperaturen kann bereits nach acht Stunden eine hungrige Larvenschar schlüpfen. Der Weg vom Ei bis zur fertigen Fliege ist dann innerhalb von nur zehn Tagen abgeschlossen. Die Larven werden als Maden bezeichnet, sie haben keine Beine und tragen am Vorderende Mundhaken, mit denen sie sich durch die nahrhafte Umgebung futtern. In der Medizin macht man sich die äußerste Präzision der Mundwerkzeuge bestimmter Schmeißfliegenlarven zunutze. Sie können Kollagen, den Haupteiweißbestandteil im Bindegewebe, verdauen. Da die Larven lediglich das abgestorbene Fleisch vertilgen, setzt man sie zur Wundreinigung ein und beschleunigt damit den Heilungsprozess.

Tausende Tönnchen

In einem Kilogramm Schweinemist können sich bis zu 15.000 Larven der Großen Stubenfliege finden. Fliegenmaden verpuppen sich in der letzten Larvenhaut, die eine Art Tönnchen bildet. Kurz vor dem Schlupf schwillt am Kopf der fast fertigen Fliege mithilfe von Luft eine Stirnblase an. Diese Blase sprengt eine Seite der Puppenhülle wie den Deckel eines winzigen Fasses ab und macht den Weg frei für das Leben in den Lüften. Am Kopf der Fliege bleibt eine bogenförmige Naht zurück, die Stirn und Gesicht voneinander trennt.

Fliegen-Forensik

Für viele Fliegen sind Tote ein gefundenes Fressen und für den Forensiker sind Fliegen ein verlässlicher Zeiger, um beispielsweise die Liegezeit einer Leiche zu bestimmen. Ein ganzes Fliegenheer, darunter Schmeiß-, Stuben-, Buckel-, Dung- und Fleischfliegen, sind sogenannte Zeigerorganismen. Bereits im 13. Jahrhundert konnte in China nachweislich ein Mord geklärt werden, der mit einer Sichel begangen worden war. Fliegen setzten sich auf das Mordinstrument und überführten ihren Besitzer als den Mörder. Selbst wenn von einer Leiche kaum etwas übrig bleibt, kann anhand von Giftstoffen oder Drogen in den Vertilgern die mögliche Todesursache ermittelt werden.

Zeitlupe

Es ist kein Wunder, dass Fliegen der Hand oder Klatsche so oft entkommen. Ihre aus Tausenden Einzelteilen zusammengesetzten Komplexaugen sind zwar keine Wunderwerke in puncto Sehschärfe, haben aber eine viel höhere Auflösung als unsere Augen.


Aufmerksame Augen

Während Menschen lediglich 20 Einzelbilder pro Sekunde wahrnehmen können, sind es bei Fliegen bis zu 250. Ein Kinofilm mit 24 Bildern pro Sekunde ist für Fliegen eine Aneinanderreihung von Einzelbildern, ebenso wie sie die herabsausende Hand gleichsam in Zeitlupe sehen und ihre Flucht vorbereiten können. Die zwei mal 4000 Einzelaugen der Großen Stubenfliege sind groß, gewölbt und rot, und sie verraten, ob uns gerade eine männliche oder weibliche Fliege heimsucht. Denn bei den Männchen ist der Augenabstand geringer als bei den Weibchen.

Zwei weniger ist mehr

Fliegen gehören zoologisch zu den Zweiflüglern. Diese Bezeichnung ist Programm: Bei Fliegen wie auch bei Mücken sind nur die beiden vorderen Flügel ausgebildet, während die hinteren zu sogenannten Schwingkölbchen umgewandelt sind. Diese ähneln winzigen Trommelschlegeln, sind auf den ersten Blick unscheinbar, haben es aber buchstäblich in sich. Denn sie enthalten sensible Steuerungssensoren und agieren wie zwei stabilisierende Kreisel. Durch sie kann eine Fliege Loopings und enge Kurven fliegen, Haken schlagen und sich senkrecht in die Tiefe fallen lassen. Eine Fliege fliegt, indem sie mit Muskelkraft ihren Brustkorb zusammenzieht und diesen in Schwingung versetzt, was sich wiederum auf die Flügel überträgt. Dadurch werden über 300 Flügelschläge pro Sekunde erreicht. Stubenfliegen bringen es auf Geschwindigkeiten von über sechs Stundenkilometern, während Schmeißfliegen fast das Doppelte erreichen.


Mach die Fliege!

Anfang des 20. Jahrhunderts errechnete ein amerikanischer Forscher, dass die Zahl der Nachkommen einer einzigen Stubenfliege von Jahresbeginn bis Mitte September mehr als fünf Milliarden betragen könnte. Das entspräche einer 15 Meter dicken Fliegenschicht rund um den Globus. Dass es zu dieser Zeit intensive Ausrottungsversuche in den Vereinigten Staaten gab, ist von daher nicht verwunderlich. Doch Stubenfliegen sind wahre Resistenzkünstler und sie wurden innerhalb weniger Jahre gegen vermeintliche Wunderwaffen wie die Insektizide DDT und Lindan immun. Bedingt durch die hohe Nachkommenzahl und die schnelle Generationenfolge tauchten rasch Nachkommen auf, die gegen die Mittel gewappnet waren und diese Eigenschaft weitergaben. Das Bild vom globalen Fliegenteppich irrlichtert zwar bis heute durch die Literatur, wurde aber bereits in den 1960er-Jahren revidiert. Am Ende würde eine 15 Meter hohe Fliegenschicht lediglich die Fläche der alten Bundesrepublik Deutschland bedecken, wären da nicht ein ganzes Heer an tierischen Fliegenfängern, wie beispielsweise Spinnen, sowie der Rückgang wichtiger Brutstätten. Auch die Ausbreitung des Autos trug über den Rückgang an Pferdeäpfeln, einer bedeutenden Fliegen-Kinderstube, zur Verringerung des Fliegenvolks bei.

Stadt- und Stadtrandfliegen

Heutzutage sind die Große und die Kleine Stubenfliege in den Innenstädten seltener vertreten. Das liegt daran, dass sie ihre Kinderstuben bevorzugt in Kot anlegen, den sie beispielsweise in landwirtschaftlichen Betrieben finden können. Schmeiß- und Fleischfliegen, die kräftigen, laut brummenden Verwandten, hingegen kommen in der Großstadt bestens zurecht. Sie legen ihre Eier in faulendes tierisches, aber auch pflanzliches Substrat. Auf der Suche nach einem geeigneten trockenen Verpuppungsort wandern ihre Larven oftmals in langen und ins Auge fallenden Zügen.

Angenehm distanziert ist hingegen die Fliege am Himmel: als Sternbild Fliege (Musca) nahe dem Kreuz des Südens.

C. H.

Unbekannte Mitbewohner

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