Читать книгу In Maracaibo 71% Luftfeuchtigkeit... - Carl Cullas S. - Страница 4
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Mein Vater, Francisco Alberto Rivera Castro, „Paco“ wie er sich selbst zu nennen pflegte, ist auf Teneriffa geboren. Der jüngste von seinen Geschwistern, wanderte er mit 24 nach Deutschland aus. Er wollte eigentlich nach Hamburg, zu einer Hafenstadt und damit zum Meer, das ihm so vertraut war, aber das Schicksal entschied anders: in seinem Jahresvertrag stand Köln, wo er an einem Mittwoch im Frühling 1966 am Bahnhof Köln-Deutz mit Hunderten von anderen spanischen Gastarbeitern aus dem Zug ausgestiegen war. Erst schuftete er als Bauarbeiter, bis er eines Tages seine wahre Begabung unerwartet entfalten konnte. Es war wieder das Schicksal gewesen: an einem Wochenende war er mit seinen Freunden in einer Kneipe und stellte zum Bier die von ihm selbst gemachten Tapas auf den Tisch. Der Kneipenbesitzer wollte die kleinen Häppchen probieren und war von deren Geschmack so begeistert, dass er Paco anbot, bei ihm in der Küche zu arbeiten und das exotische Essen für die Gäste zuzubereiten. Die Gelegenheit kam im richtigen Moment: der Vertrag bei der Baufirma, bei der mein Vater verpflichtet war, ein Jahr zu arbeiten, um danach seine Aufenthaltserlaubnis verlängert zu bekommen, lief in Kürze ab, und er konnte sich dann einen anderen Arbeitgeber aussuchen. Das tat er. Allmählich gewannen die spanischen Spezialitäten mehr und mehr Platz in der Speisekarte und das Lokal in der Südstadt wurde innerhalb der spanischen Kolonie schnell bekannt. Da es unweit des „Odeon“ lag, wo sonntags spanische Filme gezeigt wurden, wurde es für viele zur Tradition, nach der Vorführung „zu Paco“ zu gehen.
Siebzehn Jahre später kaufte mein Vater dem alten Besitzer mit einem Partner das Restaurant ab und verwandelte es in reine spanische Wirtschaft. Ich war damals 6 Jahre alt und kann mich perfekt an den Tag erinnern, an dem mein Vater zum stolzen Restaurantbesitzer wurde: er leuchtete mit so einer starken Zufriedenheit, dass sie den tristen und grauen Winterhimmel über der Südstadt aufzuhellen schien... Sogar auf den Fotos erschien die Umgebung um ihn herum überbelichtet!
Meine Mutter, Carmen María, die meinen Vater Mitte der Siebziger Jahre heiratete, kündigte ihre Stelle bei einem Lebensmittelladen und wechselte zum Betrieb ihres Mannes, hinter die Theke, wo sie über 20 Jahre lang blieb. Schmal und ruhig, verkörperte sie das Gegenteil meines Vaters, der im Laufe der Jahre immer dicker und lauter wurde. Kleinster Sohn einer armen Familie, mit einem kaum zum Lesen von Zeitungen und einfachen Büchern ausreichenden Schulabschluss, arbeitete er sich in einem fremden Land, das nie zu seiner wirklichen Heimat wurde, vom Maurer zum Betriebsbesitzer hoch. Die Erinnerungen an seiner Kindheit und Jugend, geprägt von Knappheit und kaum zu verbergender Armut, ließen ihn seine Errungenschaften stärker genießen und vor seinen Freunden oder gelegentlichen Restaurantgästen laut schwärmen. Oft wiederholte er seinen Lieblingssatz, den er im Freundeskreis an einem vollen Tisch zu sagen pflegte: „Wie kann ich meinem Sohn die Bedeutung von Knappheit erklären, wenn er nur den Wohlstand erlebt?!“ Ich konnte ihn verstehen, mit der Zeit aber wurde mir seine Haltung immer peinlicher. Nicht, dass ich ihn nicht liebte – er war immer sehr zärtlich zu mir und versuchte stets, alle meine Wünsche zu erfüllen, sogar diejenige, die ich überhaupt nicht hatte. Die Wahrheit, die ich mir irgendwann eingestehen musste, war, dass ich mich für ihn schämte. Seine Simplizität und lockerer Umgang mit den Menschen, die ihn dazu brachten, allen die es brauchten, zu helfen, sei es mit Geld oder Ratschlägen, und die ich bei ihm so mochte und schätzte, verwandelten sich bei ihm unter bestimmten Umständen in Vulgarität und neureichen Snobismus.
Ich war froh, als ich mit 19 in eine WG auszog. Dann kam meine Uni-Zeit. Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich sie wirklich genoss. Nicht das Studium an sich, sondern diese wunderbare Lebensspanne, in der man noch wirklich frei ist und sich kaum um etwas kümmert. Ich jobbte, bekam dazu monatlich ein paar Hundert D-Mark von meinen Eltern und war glücklich. Nach sieben Jahren bekam ich das Diplom als „Regionalwissenschaftler Lateinamerikas“ und plötzlich stellte sich die Frage: Was jetzt? In jenem Jahr wurde mein Vater 62 geworden und gab seinem alten Traum nach: er verkaufte seinen Anteil am Restaurant und zog sich mit meiner Mutter nach Spanien zurück. Nach kurzem Überlegen entschieden sie sich für Huelva – eine kleine Stadt in Extremadura, fast an der Grenze mit Portugal, wo meine Mutter herkam. Sie wollten mich mitnehmen, aber ich zögerte.
Nicht dass ich Spanien nicht mochte. Oft waren wir in den Ferien auf Teneriffa oder in Huelva gewesen, ich fühlte mich wohl dort, genoss die Sonne, die Strände, den entspannten Lebensstil, mein Zuhause war aber in Köln. Ich kannte mich in der Stadt aus, hier war ich in meinem Element und vielleicht, wollte ich nicht das gleiche Schicksal wie das meiner Eltern erleben: ein ganzes Leben woanders zu sein, wo ich nicht hingehöre. Ich blieb also auf der linken Rheinseite, wo ich alle meine Jahre verbracht habe. Meine Alten halfen mir, eine Einzimmerwohnung zu mieten, schenkten mir ihr altes Fahrzeug und wir verabschiedeten uns am Flughafen. Dann wurde mir plötzlich klar, dass man dem Schicksal nicht aus dem Weg gehen kann: letztlich hatte die Trennung, die sich wie ein roter Faden durch die ganze Familiengeschichte zog, auch mich erreicht. Die Geschichte wiederholte sich.
Der ältere Bruder meines Vaters, José Antonio Rivera Castro, hatte viel früher sein Heim verlassen, zog aber das warme und ferne Lateinamerika vor. Für die Ausreise brauchte er damals den Ausreisepass, der allerdings nur nach dem obligatorischen Wehrdienst zu bekommen war. Das Alter für die Wehrdienstpflicht war 21 Jahre, man konnte sich aber bereits mit 18 Jahren freiwillig beim Militär melden. Genau das machte José Antonio. Mit 20 Jahren war er mit dem Dienst fertig, bekam das ersehnte Dokument und bestieg 1952 das Schiff, das ihn nach Maracaibo brachte. Mein Vater erzählte, dass die Briefe von José Antonio in den ersten Jahren regelmäßig kamen, mit der Zeit aber wurden sie seltener. Man wusste, dass José Antonio sich der Ganadería – Viehzucht - widmete und dass es ihm gut ging. Zumindest waren seine Briefe voll von solchen Behauptungen und begeisterten Erzählungen von weiten und wilden Landschaften, wo er seine Kühe und Bullen züchtete. Er rief seine Schwester Beatriz und meinen Vater zu sich, aber für die beiden war Venezuela zu weit und zu fremd. Letztendlich blieb meine Tante für immer auf Teneriffa, und mein Vater landete in Köln.
Seinen Bruder hatte er nie wieder gesehen. José Antonio kam ein paar Mal auf die Insel, mein Vater schaffte es aber nie zu solchen Familientreffen zu kommen. Irgendwann wurde José Antonio bei uns zu einem Familiengespenst, von dem man weiß, dass er existiert, das aber nie gesichtet wird. Er heiratete eine Venezolanerin, bekam einen Sohn. Zu seinem 65. Geburtstag wollte er seine ganze Familie zu sich einladen, die Tickets wurden bereits bestellt, die Koffer gepackt. Dann kam die schwarze Nachricht: sein Sohn samt seiner ganzen Familie starben bei einem Autounfall. Die Reise wurde von meinem Onkel storniert. Mein Vater und meine Tante, die zu ihm trotzdem fliegen wollten, bekamen eine kurze aber unmissverständliche Absage: er wolle niemanden sehen. Seitdem war die Verbindung endgültig abgebrochen. Er antwortete nicht auf die Post, wechselte die Telefonnummern. Und jetzt, mehr als zehn Jahre später, saß ich in meiner Wohnung mit dem Brief von meinem Onkel in der Hand.