Читать книгу In Maracaibo 71% Luftfeuchtigkeit... - Carl Cullas S. - Страница 5
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Mein Weg nach Caracas begann an einem Julimittwoch mit 35 Minuten Verspätung. Als die Iberia-Maschine endlich abhob und das Anschnallsignal erlosch, stand ich kurz auf und guckte um mich um. Ich hielt nach jemandem Ausschau: nach einer jungen Frau, die ich bereits in der Warteschlange am Check-in-Schalter gesichtet hatte. Obwohl wir gerade nach Madrid flogen, wo ich den Flieger wechseln musste, war ich mir sicher, dass ihr Endziel auch Venezuela war.
Begleitet wurde sie von einem riesigen abgenutzten Rucksack, der eher einem Folterinstrument ähnelte, und den sie lässig mit yetifußmäßigen Wanderschuhen vor sich herschob. Ich muss gestehen: Schon immer wunderte ich mich über das Ausmaß des Masochismus der Menschen, die zuerst ihren Schultern so etwas antun, dann kilometerlang wandern, hadernd und mit Schweiß überströmt, und dies am Ende noch Urlaub nennen! Etwas muss aber dran sein. Etwas, das mir entgeht und mir wahrscheinlich für immer verschleiert bleiben wird.
Nun, mit so einem Rucksack kann man sicher auch in Spanien seine Freizeit verbringen. Das ausschlaggebende Argument für meine Hypothese war der Reiseführer, den sie aus ihrem Backpack rausgefischt hatte, bevor sie ihn beim Einchecken abgab, denn er taugte kaum als Wegweiser für die Iberische Halbinsel: auf der Titelseite stand dick geschrieben „Venezuela“.
Es waren aber nicht nur der Rucksack und das Outfit der Frau, die mich auf sie aufmerksam machten. Es war ihr Pferdeschwanz. Ich habe eine Schwäche für kurze rothaarige Pferdeschwänze. Nicht für die, die am Nacken gebunden sind und kraftlos nach unten fallen – die finde ich zu brav. Ich mag die Pferdeschwänze, die direkt am Hinterkopf gezähmt sind und ein bisschen nach oben ragen. Und wenn dazu noch eine feine spitze Nase mit Sommersprossen gehört, dann kapitulieren meine Abwehrkräfte bedingungslos und mein ganzes Sein sehnt sich sofort nach deren Inhaberin. Diese Frau hatte beides! Also, war mein Verstand im Nu vernebelt, während der Adrenalinstoß meine Adern durchlief.
Dass ich zufällig einen Platz neben ihr bekommen würde, glaubte ich nicht. Erstens, weil so viel Glück einfach nicht dazu gehört, in meinem Falle sowieso nicht. Zweitens, weil ich diesmal zum ersten Mal in meinem Leben in der Business-Class flog, während sie in der Economy untergebracht wurde. Vor diese Tatsache wurde ich von dem jungen Anwalt gestellt, als er mir vor seiner Abreise die Tickets übergab. Ohne meine Frage abzuwarten, erklärte er, alle Reisekosten seien mit der Summe gedeckt, die mein Onkel für die Suche nach mir gelassen habe. Ich müsse mich um nichts kümmern. Daraufhin drückte er mir einen Scheck in die Hand: dies müsse genügen, bis ich Besitz von meinem Erbe ergreife. Ein kurzer Blick auf die gedruckte Zahl genügte, um zu verstehen, dass die Menge mir locker für vier Monate sorglosen Lebens in Köln reichen würde. Wir verabschiedeten uns mit dem Versprechen, uns bei meinem Rückflug in Madrid zu treffen. Mittlerweile gefiel er mir recht gut: Wir hatten einen ganzen Abend im Biergarten im Volkspark verbracht und nach literweise Kölsch klappte es mit der Völkerverständigung viel besser.
Am nächsten Morgen rief ich meinen Vater an und erzählte ihm die ganze unglaubliche Geschichte. Er nahm alles mit erstaunlicher Gelassenheit auf und fragte nur, ob wir uns treffen sollten. Meine Abreise wurde für zwei Tage später geplant, ich musste aber noch einiges in der Stadt erledigen. Und in Madrid hätte ich nur knapp zweieinhalb Stunden bis zum nächsten Flug. Ich bot ihm an, meinen Abflug auf den darauffolgenden Tag zu verlegen, so dass ich in der Stadt übernachten und wir uns sehen konnten. Er fand die Idee gut, und so verblieben wir.
Jetzt aber bereute ich unsere Abmachung ein bisschen. Denn beim Umsteigen in Barajas hätte ich vielleicht das Mädchen mit dem Pferdeschwanz wiedersehen können und mit einer gewissen Geschicklichkeit hätte sich etwas einfädeln lassen können. Aber das Leben hatte anders entschieden. Ich kehrte zu meinem Sitz zurück und bestellte ein Glas Rioja. Alle drei Reihen der Business-Class waren leer, ich war der einzige Passagier und genoss daher die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der zwei Stewardessen. Zwar fand ich blöd, für einen zweieinhalbstündigen Flug so ein Heidengeld zu bezahlen, irgendwo in meinem tiefsten Inneren breitete sich aber eine warme Welle der Zufriedenheit aus. Die fetten Jahre standen mir bevor und ich begann mich an diesen plötzlich erworbenen Platz an der Sonne zu gewöhnen.
Nicht, dass mir in meinem Leben groß etwas fehlte. Finanziell hatte ich nie ein gravierendes Problem gehabt: ich war ein typisches Mittelstandskind, vielleicht sogar ein bisschen mehr, denn das Geschäft meines Vaters lief immer gut. Wir haben zwei Mal pro Jahr Urlaub gemacht, später an der Uni unterstützten mich meine Eltern mit etwas Taschengeld, ich jobbte und konnte mir meine gewissen Wünsche durchaus erfüllen. Auch jetzt lief bei mir eigentlich alles gut. Zwar arbeitete ich nicht in meinem Beruf, aber das war mir schon während des Studiums klar gewesen. Ein Bericht da, eine Reportage dort… Dank meines Spanisch machte ich gelegentlich Synchronisationen von Filmen oder Werbespots, und das brachte wirklich gutes Geld. Am Ende des Monats standen also keine roten Zahlen auf meinem Kontoauszug. Und trotzdem: das Gefühl sich praktisch alles leisten zu können, im Restaurant beim Lesen der Speisekarte nicht zuerst nach rechts schauen und beim Einkaufen nicht zuerst gespart haben zu müssen, kurz gesagt - wirklich reich geworden zu sein, - dieses Gefühl war für mich etwas Neues, etwas Prickelndes. Ja, es erfüllte mich sogar mit Stolz. Geld braucht man, um daran nicht zu denken – an dem Spruch war doch etwas Wahres! Ich stellte mir vor, was ich mit diesen Millionen machen könnte: eine eigene Wohnung, gar ein Haus, einen anderen Wagen, vielleicht ein Kabrio, Reisen nach Australien, Neuseeland, Südafrika, wohin auch immer, ohne Einschränkungen, ohne beim Buchen nach dem niedrigsten Flugpreis zu suchen oder bei de Wahl des Hotels die Preise vergleichen zu müssen… Und dann die Arbeit. Ich hatte nicht vor, etwas Eigenes zu beginnen. Erstens, was? Ein Restaurant? Einen Laden? Ich hatte keine Ahnung davon, ich war kein Geschäftsmann. Und dann: wozu?
Ich streckte mich in meinem Sessel aus und nahm ein neues Glas Wein entgegen. Vier Millionen Dollar! Vier-Millionen-Dollar!!! Die Summe, das Wort klangen unglaublich. OK, davon muss man die Erbschaftssteuer abziehen, der Anwalt sagte aber, dass ihre Partner in Venezuela sich darum gekümmert hatten. Nehmen wir an, ein Viertel. Dann bleiben noch 3 Millionen. Ein Drittel geht, sagen wir, für die Wohnung, das Auto, etc. Oder nicht. Wozu brauche ich die Wohnung? Einfach weiter mieten? Rechnen wir mal: angenommen, ich werde noch 50 Jahre leben. Drei Millionen durch 50 macht 60 Tausend. Pro Jahr. Plus Zinsen. Wie hoch sind die jetzt? Sagen wir, 3%. 3% von 3 Millionen macht… 90 Tausend pro Jahr! Mein Gott! Da kann man nur von Zinsen leben! Und am Ende bleibt noch was übrig! Mir wurde plötzlich schwindelig.
Dann meldete sich ein kleines Würmchen Namens Gewissen aus irgendeinem Eckchen meiner Seele: sollte ich nicht eine Spende machen? Oder eine Stiftung gründen? So etwas ziemt sich bei so einem Batzen Geld. Ja, das wäre was! Eine Stiftung. Genau. Zum Beispiel für ein Kinderprojekt in Venezuela. Was braucht man eigentlich für die Gründung einer Stiftung? Ich beschloss, mit einem Experten darüber zu reden. Die Entscheidung stellte meine soziale Empfindlichkeit zufrieden, das Würmlein verschwand, beruhigt, und meine Gedanken flossen weiter, zurück zu den ursprünglichen angenehmen Träumen.
Ich wurde von der delikaten Berührung der Flugbegleiterin geweckt. Ich solle, bitte schön, meinen Sitz in die aufrechte Position zurückbringen und mich anschnallen, wir würden bald landen.
Beim Gepäckabholen am Flughafen hielt ich nach dem Pferdeschwanz Ausschau, aber sie war nicht zu sehen. Ich seufzte und ging Richtung Ausgang, zum Taxi.