Читать книгу In Maracaibo 71% Luftfeuchtigkeit... - Carl Cullas S. - Страница 7
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- Ja, ohne weiteres kann man sagen, dass Ihrer Onkel zur richtigen Zeit am richtigen Ort war: Knapp drei Tausend Hektar Weideland und über viertausend Rinder... So was konnte man damals schaffen. Wir vertraten ihn seit Mitte der Sechziger, als er sich selbstständig gemacht hatte. Mein Vater war mit ihm sehr befreundet – zufälligerweise stammte auch er von den Kanarischen Inseln, aus Gran Canaria. Neunzehnhundertsechsunddreißig kam er nach Maracaibo. Ohne Schulabschluss, ohne Studium hat sich zum Leiter einer Filiale der Banco de Maracaibo nach oben gearbeitet. Ihr Onkel kam mal zu ihm und bat um einen Kredit. Er wollte Land und Vieh kaufen. Sein eigenes Kapital war fast gleich Null. Er brauchte um Dreizehntausend Dollar – damals eine riesige Summe. Mein Vater hat ihm den Kredit auf seine persönliche Verantwortung bewilligt. Und er hat es nicht bereut: Ihr Onkel hat das Geld gut verwendet! Binnen zehn Jahren verdreifachte er seinen Rinderbestand und seinen Landbesitz. Und es ging weiter.
Doktor José Ignacio Rodríguez Prada zog an seiner Zigarette und blies nachdenklich den Rauch aus dem Mundwinkel. Ich nippte an meinem Kaffee und versuchte, unauffällig auf meine Armbanduhr zu schauen. Seit anderthalb Stunden, die ich in diesem Büro in Caracas verbrachte, wurde mir ein Vortrag über die Geschichte Venezuelas der letzten 50 Jahren gehalten; ich wurde mit Namen von Präsidenten, Ministern und allerlei Alt- und Neureichen traktiert; ich erfuhr, wer mit wem verwandt, verfeindet oder zusammen im Bett gewesen war, und wer, wie und über wie viele Millionen durch Korruption, Geschick oder Erbschaft (die ihrerseits durch Korruption oder Geschick entstanden war) reicher geworden ist. Nach jedem Beispiel kam der rhetorische Satz: „So was kann nur in diesem Land passieren!“, wobei ich mir nicht sicher war, ob dieses Urteil missbilligend oder von Faszination erfüllt war.
- Ja, Ihr Onkel war ein guter Geschäftsmann! Das Glück hatte er fuderweise, was das Geschäftliche anbelangte. Nur in seinem Privatleben hat ihm Gott nicht beiseite gestanden: zuerst den Sohn samt Enkelkindern und Schwiegertochter, dann auch die Frau zu verlieren... Ich kannte sie alle. Doña Patricia, was für eine Frau, welche Manieren!.. Krebs. Hat sie binnen weniger Monate zerfressen. Was kann man dazu sagen? Schrecklich! Nach einem Jahr folgte er ihr dann auch. Ich bin auf seiner Beerdigung gewesen – als Freund und Anwalt. Der Priester hat seine Grabrede nicht mal zu Ende gehalten, da kamen plötzlich aufgetauchte Verwandte mit Fragen, Bitten, Drohungen zu mir. Menschen, von denen der Verstorbene - da bin ich todsicher! - nie gehört hatte. Oder nicht wissen wollte. Aber bleiben Sie ruhig, Señor Rivera: das Testament ist wasserdicht und unanfechtbar! Da können die Raben herumfliegen und krächzen so viel wie sie wollen – sie bekommen nichts! Nur eines werde ich Ihnen raten: erledigen Sie schnell all Ihre Angelegenheiten und kehren sie zurück nach Europa.
- Ich will unbedingt sein Grab besuchen. Und dann auch den Grundbesitz. Ich möchte sehen, wo er gelebt hatte, – sagte ich.
Ich war bereits im Bilde, dass mein Onkel den Großteil des Landes und seinen kompletten Rinderbestand vor Jahren verkauft hatte. Ich wusste aber auch, dass er noch ein paar Hektar behielt, wo auch sein Landhaus – die Finca - stand. Genau das weckte mein Interesse. Nicht für mich, aber vielleicht für meine Eltern – einen Urlaubsort als Geschenk zu bekommen, würde sie bestimmt freuen. Genau das erklärte ich Herrn Doktor Rodríguez Prada.
- Vergessen Sie es! – Schnitt er mir umgehend das Wort ab. - Ihre werten Eltern werden dort kaum ein Tag ertragen. Sie kennen nicht das dortige Klima. Die Natur ist unbestritten wunderschön. Aber Sie müssen sich dazu 35 Grad Hitze und Feuchtigkeit vorstellen! Weit von der Zivilisation, eine stundenlange Fahrt von Maracaibo entfernt. Und dazu – vergessen Sie es nicht – kommt noch die Sicherheitslage. Entführungen von reichen Rinderzüchtern und Landbesitzern, um danach großes Lösegeld für sie zu fordern, gibt es permanent. Daran sind kolumbianische Guerilleros, Drogenbanden oder übliche Kriminelle beteiligt, wobei es heutzutage kaum möglich ist, zwischen ihnen zu unterscheiden. Ihre Eltern würden dort ständig auf Wachpersonal angewiesen sein. Und sogar das ist keine Garantie. Wollen Sie ihnen wirklich so etwas antun?!
Ich überlegte es mir. Vieles, wovon der Anwalt sprach, war mir bekannt. Gerade heute Morgen hatte ich beim Frühstuck in einer lokalen Zeitung die Nachricht über eine neue Verschleppung in der Region gelesen. Dennoch war ich mir nicht sicher, ob der alte Mann nicht ein bisschen übertrieb und die Lage zu düster schilderte. Die Vorliebe der Einheimischen, alles in dunkleren Farben darzustellen, war mir bekannt - schließlich hatte ich in Köln viele lateinamerikanische Freunde oder Bekannte. Nach ihren Geschichten zu urteilen, befanden sich all ihre Länder ständig in Bergabbewegung, von Heulenbach runter direkt ins Jammertal, aus der schärfsten Krise einer Katastrophe entgegen.
Nach weiteren 20 Minuten verabschiedete ich mich endlich von dem Anwalt. Wir hatten vereinbart, dass ich am Sonntag, also zwei Tage später, nach Maracaibo fliegen würde, wo ich von einem Mitarbeiter der dortigen Partnerkanzlei in Empfang genommen würde. Am Montag sollte das Testament offiziell verlesen werden und danach würde ich zum Millionär gekürt. Doktor Rodríguez Prada empfahl auch, dass ich bei meinem eventuellen Besuch des Landhauses meines Onkels von einer Begleitperson eskortiert werde. Ich versicherte ihn, dass ich diese Möglichkeit in Erwägung ziehen würde und nach einem Handschlag verließ ich den Raum.
Auf der Straße, neben dem Büroturm Torre Humboldt in Prados del Este, hielt ich nach einem Taxi Ausschau. Bevor ich mit meiner Hand richtig gewinkt hatte, stand bereits ein Wagen vor mir. Ich plumpste in die riesige Kabine eines aus der Mitte der Achtziger stammenden Fords hinein und nannte dem Fahrer die Adresse meines Hotels. Während das Auto Anlauf nahm, öffnete ich die Mappe, die mir die Sekretärin des Anwalts beim Abschied gegeben hatte. Darin fand ich ein Blatt mit der Adresse der Kanzlei in Maracaibo und dem Namen des dortigen Partneranwalts, einen Stadtplan und eine Karte, auf der der Standort des Landbesitzes eingezeichnet war. Ich betrachtete die Landkarte und versuchte, mir die für mich unvorstellbaren 3000 Hektar vorzustellen, die mein Onkel besaß. Es waren fast so viel wie das gesamte Kölner Stadtgebiet Nippes! Dann versuchte ich mir vorzustellen, allein mit 4000 Kühen in Nippes zu leben und mir wurde schwindelig…
Plötzlich wurde mir bewusst, dass wir nicht den Weg nahmen, auf dem ich auf meiner Hinreise gefahren wurde – eine Art Stadtautobahn, die sich durch Caracas zog. Stattdessen fuhr der Wagen durch ein mit schönen Eigentumshäusern und prächtigen Villas bebautes Gebiet.
- Es gibt einen großen Stau auf der Autobahn, Señor, – erklärte mir der Taxifahrer. – Ich fahre Sie lieber durch diese Hügel – Colinas de Bello Monte - und so gelangen wir viel schneller zu Ihrem Hotel. Der Preis bleibt der gleiche, Señor, - beruhigte er mich.
In der Tat, der Weg ging bereits nach oben. Ich schloss die Mappe und steckte sie in meinen Rucksack, da die ständigen Kurven und häufigen Löcher im Asphalt das Lesen zu einem unmöglichen Unterfangen machten. Meine Gedanken flossen Richtung Maracaibo, dann zum Landbesitz und schließlich zu dem Vermögen, das bald in meine Hände gelangen würde. Ich stellte mir zum X-ten Mal vor, was ich alles damit machen würde. Zum Beispiel...
- ...Gib mir sofort deinen Rucksack! Und beweg dich langsam!
Der Lauf einer Pistole war auf mich gerichtet. Der Wagen stand still.
- Bist du taub? Schnell her mit dem Rucksack! Und dann auch deine Geldbörse! Schnell, verdammt noch mal!
Ganz langsam registrierte mein Gehirn, dass es hier um einen Überfall ging. In dem Rucksack hatte ich nichts Wichtiges, außer einem Päckchen Taschentücher, einem Reiseführer und der Mappe des Anwalts. Meinen Pass hatte ich in der Brustasche, im Portemonnaie steckten etwa 100 Euro umgetauscht in lokale Währung. Damit also hatte ich wenig Probleme. Aber die Kreditkarte! Ich war versucht, eine Verhandlung einzuleiten, nahm aber von der Versuchung Abschied als ich wieder in die Waffe blickte.
In der Rubrik „Reiseinformationen“ meines Reiseführers im Kapitel „Kriminalität“ rieten die Autoren, im Falle eines Überfalls dem einheimischen Angreifer alles zu übergeben, keinen Widerstand zu leisten und stets freundlich zu blicken, da die bösen Blicke weitgehende gesundheitsschädliche Konsequenzen haben könnten. Also versuchte ich, beim Überreichen meines Rucksacks den Fahrer freundlich anzuschauen und als Zugabe schenkten meine Lippen ein kleines freundliches Lächeln. Aber entweder war mein in Deutschland gelernter freundlicher Blick nicht freundlich genug, oder der Fahrer war kein Einheimischer.
- Was lachst du da so blöde, Arschloch?! – Schnauzte er mich an. - Gib mir jetzt deine Geldbörse und steig aus! Guck in die andere Richtung. Wenn ich sehe, dass du versuchst dir das Kennzeichen zu merken, knalle ich dich ab! Also los!
Als ich ausstieg, fuhr der Wagen sofort ab. Die Warnung des Taxifahrers, ihm nicht nachzugucken, erwies sich als überflüssig, denn ich hatte sofort etwas Besseres zu tun: hinter dem Gebüsch, das den Wegrand säumte, erblickte ich ein so fantastisches Panorama, dass es mir den Atem verschlug. Momente später wurde mir klar, dass es nicht der Blick war, der mir den Atem verschlug, sondern die schwarzen Dieselabgase des Taxis. Aber das Stadtpanorama war trotzdem fantastisch: Vor einer Kulisse grüner Bergen, überwölbt von einem makellos blauen Himmel, auf dem nur ein kleines Wölkchen zu sehen war, das an der Spitze des höchsten Bergs der Bergreihe festgehalten wurde, lag vor mir die Stadt in ihrer fast ganzen Länge und Breite. Später erfuhr ich, dass es die beste Uhrzeit war, um Caracas von oben zu beobachten – zwischen 5 und 6 Uhr Nachmittags. In dem Moment wusste ich es nicht, was nichts zu Sache tat: ich genoss den Blick.
Die überwiegend hell gebaute Stadt färbte sich unter den Strahlen der sich bereits zum Horizont neigenden Sonne in goldfarbenen Tönen, die grünen Flecken der Parks wirkten noch saftiger in ihrer Grünheit, genau wie die baumgesäumten Straßen, die sich wie von den umliegenden Bergen gekommene grüne Schlangen den Weg durch das Steinlabyrinth bahnten. Eine leichte Brise wehte mir ins Gesicht, so dass ich den Eindruck bekam, ich überflöge diese Stadt. Plötzlich wurde mir klar, dass ich mir all diese Pracht nicht entgehen lassen durfte, sondern mit meiner Digitalkamera verewigen musste. Ich griff nach dem Rucksack, und in dem Augenblick geschah die harte Landung: ich stand vor irgendeinem Gebüsch, am Rande irgendeiner Straße, auf irgendeinem Hügel, soeben von irgendeinem Taxifahrer ausgeraubt, irgendwo in Caracas...