Читать книгу In Maracaibo 71% Luftfeuchtigkeit... - Carl Cullas S. - Страница 8
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In der Reiseagentur war es frisch und ruhig. Die Luft der Klimaanlage verwandelte den Raum fast in einen Kühlschrank und ließ es meine vier Glieder, die aus T-Shirt und Shorts ragten, spüren.
- Guten Tag! Was können wir für Sie tun? - Von vier mit PCs gekrönten Tischen aus starrten mich 8 dunkle Augen an.
Ich ließ ein Flugticket nach Maracaibo buchen und erkundigte mich nach einem Mietwagen. Während das Reisebüromädchen für mich die besten Angebote aus dem Netz fischte, ging die Eingangstür wieder auf, und ein neuer Besucher trat ein.
„Manchmal gibt’s doch Wunder auf dieser Welt!“ - Dachte ich mir. Mein alter wohl bekannter Pferdeschwanz besetzte einen Stuhl links von mir und versuchte sich auf gebrochenem Spanisch mit einem Reiseagenturangestellten zu verständigen. Der Junge hörte ihr höflich zu, dann bot er der Touristin an, englisch zu sprechen. Es ging besser, wobei die Kundin auch dieses Idioms nicht besonders mächtig war. Ich sah meine Sternstunde nahen. Den Moment ausnutzend, wandte ich mich zu ihr herum und bot ihr meine Sprachdienste an. Ihre erste Reaktion war mir sehr vertraut, es war die typische eines Deutschen, den im Ausland jemand auf tadellosem Deutsch anspricht, obwohl er nicht gerade wie ein „typischer Teutone“ aussieht. Alles nach dem Motto: „Wow, das hier spricht Deutsch!?!“ Früher ärgerte es mich, später begann es mich einfach zu amüsieren. Eine halbe Stunde später saßen wir an einem Café-Tisch auf dem Boulevard Sabana Grande und genossen eiskaltes venezolanisches Bier.
Die Venezuelareise war bereits Kerstins zweite. Zuvor hatte sie es vor allem auf Südostasien abgesehen und fast die ganze Region abgegrast. Jetzt wollte sie Mérida besuchen - eine gemütliche Studentenstadt in den Anden. Insbesondere aber das als Páramos bekannte baumlose Gebiet, gelegen zwischen 4000 und 5000 Metern, mit seinen berühmten Freilejones – großen Geiskrautgewächsen. Dann wollte sie weiter mit dem Bus nach Maracaibo, wo sie vorhatte, Freunde zu treffen, die sie vor einem Jahr kennen gelernt hatte. Das Schicksal (oder vielleicht auch die freundliche Unterstützung des Reisebüroangestellten, dem sicherlich mein Interesse an der rothaarigen Frau nicht unbemerkt blieb) hat es so gefügt, dass an diesem Sonntag alle Flüge nach Mérida ausgebucht zu sein schienen. Letztlich gelang es uns, Kerstin zu überzeugen, zuerst nach Maracaibo zu fliegen und von dort aus weiter nach Mérida zu fahren. Ich spielte bereits in Gedanken mit der Möglichkeit, einen Abstecher von Maracaibo nach Mérida zu machen, als meine Augen das Armbanduhrzifferblatt unseres Kellners erblickten, der uns gerade noch zwei Eiskalte mitgebracht hatte. Verdammt, es war kurz vor 14:00!
Am Tag vorher, als ich nach etwa drei Stunden erzwungenen Spaziergangs endlich mein Hotelzimmer erreicht hatte, hatte ich den alten Anwalt angerufen und ihm vom Überfall berichtete.
Die Tat alleine wäre vielleicht nicht so ernst zu nehmen gewesen, denn ähnliches passierte mir bereits zwei Mal während anderer Urlaube. Das Herausragende an dem Vorfall war folgendes: als ich an der Rezeption eine neue Magnetkarte für die Zimmertür erbeten hatte - die alte befand sich in meiner armen Geldbörse, die den Besitzer zu wechseln gezwungen wurde, - bekam ich einen Briefumschlag. Im Kuvert, das meinen Namen aufwies, befanden sich zwei Dinge: die Zimmerkarte und meine soeben gestohlene Kreditkarte.
Meine Nachfragen hatten wenig ergeben: der Umschlag war in den Hotelbriefkasten eingeworfen worden, der an der Wand neben der Rezeption hing.
Ein rücksichtsvoller Dieb, der sich nur mit dem Bargeld vergnügt und recht dezent weitere erbeutete Sachen dem Opfer zurückbringt? Vielleicht wollte er dem Touristen ein besseres Image seines Landes vermitteln? Ein von Gewissensbissen gequälter, vom geraderen Weg der Tugend abgekommener (oder besser gesagt „abgefahrener“) Samariter? Irgendwie kam mir so viel Barmherzigkeit bei dieser Geschichte seltsam vor. Meinem Anwalt übrigens auch. Er beklagte die hiesige Sicherheitslage und riet mir, in Zukunft nur die Taxen vom Hotel zu benutzen oder das Teletaxi. Alles sei sehr merkwürdig. Ich solle lieber die meiste Zeit in meinem Zimmer verbringen.
Etwa zwanzig Minuten später rief er mich unerwartet zurück an. Der heutige Zwischenfall habe ihn recht beunruhigt. Er wolle mich am nächsten Tag unbedingt treffen. Wenn ich meinen Flug gebucht hatte, solle ich ihn in seiner Kanzlei aufsuchen. Er werde die Flugnummer und die Ankunftszeit an seinen Kompagnon in Maracaibo weiterleiten, damit er mich dann am dortigen Flughafen abholen könne. Auf meine Bemerkung, ich könne das selbst erledigen, ich bräuchte nur die Kontaktdaten, gab er mir die private Handynummer der Kontaktperson, bestand aber darauf, dass ich ihn trotzdem besuche, da er mit mir auch etwas sehr wichtiges besprechen wolle. Dann hatte er mich ausdrücklich gewarnt, dass er die Kanzlei spätestens um 14:00 verlassen würde.
Ich entschuldigte mich bei Kerstin, fragte den Kellner nach einem öffentlichen Telefon und rannte in die mir gezeigte Richtung. In der Tat: In der wenige Meter entfernten U-Bahn-Station „Plaza Venezuela“ hing an der Wand eine ganze Reihe von Telefonautomaten. Vor jedem aber standen mehrere Wartende Schlange, sodass ich mein Versprechen an Kerstin „Ich bin sofort wieder da“ sofort bereute.
Eigentlich habe ich ein Handy. Ich hatte es aber im Hotel liegen lassen. Es war dort bereits am Vortag den ganzen Tag geblieben und hatte deshalb das Überfallabenteuer überlebt. Heute, bevor ich das Zimmer verließ, hatte ich überlegt, ob ich es mitnehme sollte, entschied mich aber, es in Sicherheit liegen zu lassen und besorgte mir stattdessen eine Telefonkarte. Jetzt vermisste ich es schmerzlich, musste mich aber meinem Los beugen. Aufs Geratewohl wählte ich ein Gerät, das mir am wenigsten umstürmt zu sein schien. Links von mir koppelte sich ein Junge in einer Lederjacke an die Schlange an. Rechts ankerte gerade eine schöne Mulattin.
Meine Schlange bewegte sich erstaunlicherweise ziemlich schnell. Während die Reihen links und rechts von mir sich kaum bewegten, erledigten meine vorderen Mitsteher ihre Telefonangelegenheiten in rasantem Tempo. Ich frohlockte bereits und wurde dafür entsprechend bestraft. Als letzte zwischen mir und dem Telefon stand ein hellbraunhäutiges Mädchen, mit Akne auf dem Gesicht und Schuppen im Haar. Bereits die Bewegung, mit der sie ihre große Tasche an die Wand schob und sich auf sie hinsetzte, ließ mir etwas Finsteres ahnen. Meine Befürchtungen wurden nicht enttäuscht: Sie machte einen Anruf bei ihrer Familie, irgendwo in der Provinz. Sie sprach zuerst mit all ihren Brüdern und Schwestern, und in jedem Fall erkundigte sie sich nach jeder einzelnen Einzelheit, sodass ich bald mit Namen von Freunden und Freundinnen von jeder und jedem vertraut war. Dann kam die Zeit für Oma und Opa. Aus dem Gespräch konnte ich leider nicht ganz genau heraushören, ob sie von der mütterlichen oder väterlichen Seite waren, wünschte mir aber mit Inbrunst, dass die anderen zwei entweder tot wären oder mindestens woanders lebten. Dann piepste das Gerät plötzlich und auf dem Display erschien die Anzeige, dass der Kartenbetrag bald zu Ende war. Mein Herz pochte vor Erleichterung, wurde aber von meinem Fatum wieder niederträchtig ausgelacht: das Mädchen zog eine neue Karte aus der Tasche und wechselte die alte aus.
Ich sah mich um. Die alte Weisheit „Jede Schlange bewegt sich schneller als deine eigene“ schien mir in ihrer ganzen Pracht bestätigt zu werden: Vor den anderen Telefongeräten staute es sich weiter, die Gesichter waren aber bereits andere. Außer dem Jungen in der Lederjacke. Er war genauso wie ich kurz vor dem Ziel, musste sich aber noch gedulden, während ein alter Mann im weißen Hemd langsam, sehr sorgfältig die Nummer eintippte. Nach jedem Tastendruck verglich er die Ziffer auf dem kleinen Bildschirm mit der auf einem Stück Papier, das er zu seinen triefenden Augen hob. Es könnte bei dem Lederjackentyp genauso lange dauern wie bei mir, dachte ich und versuchte, mit einem kleinem verständnisvollen Lächeln eines in der gleichen Situation steckenden Menschen meinem Genossen im Pech ein bisschen Mut einzuflößen. Der aber erwiderte dies nicht und wandte seinen Blick ab. Eigentlich komisch dachte ich: wo kommt dieser Greis her? Ich war mir ziemlich sicher, dass vorher zwei Frauen vor dem Jungen gestanden hatten. Der Alte war nicht dabei gewesen. Aber, mein Gott, was sollte das! War das mein Problem? Zu welchen Gedanken man so kommt, beim Schlangestehen!
Ich überlegte mir kurz die Möglichkeit, die Reihe zu wechseln. Fand das aber, wo ich jetzt so kurz vor dem Ziel war, zu dumm. Ich blieb stehen und guckte wieder das Mädchen an. Ich kannte bereits jeden einzelnen Aknepickel auf ihrem Gesicht und verzichtete deshalb diesmal, sie noch einmal zu zählen. Stattdessen schenkte ich meine Aufmerksamkeit ihren Haarschuppen. Auf ihrem schwarzen Haar waren sie gut zu sehen, was mir auch das Zählen erleichterte. Als ich bei 41 war, war das Gespräch endlich zu Ende. Sie zog ihre Karte raus und übergab mir freundlicherweise den Hörer. Wie gebannt nahm ich das warme Plastikstück entgegen, gefasst auf das Schlimmste: Die Leitung wurde gekappt, die Halbleiter, Transistoren oder was auch immer sich im Innern eines Telefons befände, waren geschmolzen... Aber das Gerät funktionierte reibungslos.
Für den Fall des Falles rief ich als erstes bei der Kanzlei an. Erwartungsgemäß war dort niemand mehr, nur der Anrufbeantworter informierte mich sachlich, dass das Büro ab 9 Uhr am Montag seine Arbeit aufnehme. Wenn ich aber einen Termin wolle, solle ich so nett sein und nach dem Signalton sprechen. Genau das tat ich und hinterließ meine Handynummer. Dann rief ich den Anwalt auf seinem Mobiltelefon an. Keiner antwortete. Nach etwa 15 Sekunden schaltete sich die Mobilbox an.
Ich guckte verzweifelt auf meine Uhr, die zufällig den gestrigen Überfall überstanden hatte. Vielleicht, weil es nicht zu übersehen war, dass es sich um eine echte Kopie eines Imitates einer Originalnachahmung eines chinesischen Massenproduktionsstückes handelte. Es war schon nach halb drei. Ich versuchte wieder, Herrn Rodríguez Prada per Handy zu erreichen - mit dem gleichen Resultat. Die Schlange hinter mir begann zu rumoren und ich verstand, dass ich nicht länger das Telefon besetzen konnte. Ich legte auf und eilte zum Café, wo ich Kerstin gelassen hatte.
Der Tisch war leer. Als ich unseren Kellner sichtete und nach meine Begleitung fragte, erklärte er mir, die Señorita habe eine Weile gewartet, dann habe sie die Rechnung bestellt und sei weggegangen. Na prima, dachte ich, auch das noch! Mir fiel ein, dass ich überhaupt nicht wusste, wo Kerstin untergebracht war. Mein einziger Trost war, dass wir am nächsten Tag im gleichen Flugzeug nach Maracaibo flögen. Es war mir trotzdem unangenehm, dass ich sie einfach sitzen gelassen hatte und auch noch dazu gezwungen hatte, die ganze Rechnung zu bezahlen. Ich wollte mir nicht vorstellen, was sie über mich dächte. Toller Beginn einer „wunderbaren Freundschaft“!
Der Tag war mir verdorben. Da ich keine Lust hatte wieder Telefonschlange zu stehen, beschloss ich, selbst zum Anwalt zu fahren. Zwar war Samstagnachmittag, aber der alte Mann hatte mehrmals wiederholt, dass ich ihn zu jeder Zeit auch zu Hause aufsuchen dürfe. „Sie sind fast wie ein Verwandter für mich, verstehen Sie?“ – Hatte er mir noch am Tag zuvor am Telefon gesagt. An der Straße suchte ich mir einen äußerlich gepflegten Taxiwagen aus und diktierte dem Fahrer die Adresse von der Visitenkarte.
Die Zufahrt zu der Zone, wo der Anwalt wohnte, war von einer Schranke versperrt. Davon hatten mich bereits meine venezolanischen Freunde in Köln erzählt: um der Kriminalität zu entgehen, beschlossen die Anwohner wohlhabender Gegenden oft, diese von der Außenwelt abzukapseln. Die Zufahrtstraßen wurden mit Schranken gesperrt, von Wachfirmen bewaffnetes Wachpersonal angemietet, im gesamten Gebiet patrouillierte und sich in eigens gebauten Wachhäuschen neben den Schränken aufhielt. Jeder, der rein wollte, musste sich identifizieren und den Namen seines Gastgebers nennen. Genau das tat ich. Der Wachmann telefonierte lange, ließ aber am Ende den Schlagbaum nach oben gleiten. Während er dem Fahrer den Weg beschrieb, lehnte ich mich erleichtert zurück: der Anwalt schien zuhause zu sein, also war mein Trip nicht umsonst gewesen.
Meine Erleichterung war verflogen, als wir das Haus von Herrn Rodriguez Prada erreicht hatten. Mehrere Polizei- und ein Krankenwagen hatten die Straße voll geparkt. Als ich ausstieg, kam mir ein knochiger Mann im dunklen Anzug entgegen.
- Señor Rivera? – erkundigte er sich. – Ich bin Kommissar Márqez von der Kriminalpolizei. Wir hätten ein paar Fragen an Sie.