Читать книгу In Maracaibo 71% Luftfeuchtigkeit... - Carl Cullas S. - Страница 6
ОглавлениеIV
Das komische Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden, ließ nicht nach. Zum ersten Mal spürte ich den Blick beim Stöbern in der Musikabteilung bei FNAC in der Calle de Preciados. Ich hatte für mich und meinen Vater ein Hotel nicht weit der Puerta del Sol ausgesucht und nach dem Duschen suchte ich mir ein nettes Lokal, wo ich etwas „unter den Rüssel schieben“ konnte (wie ein Freund von mir zu sagen pflegte). Mein Vater würde erst gegen siebzehn Uhr eintreffen, also hatte ich noch genug Zeit. Bei „De María“ genoss ich ein saftiges Steak mit Roquefortsauce, begoss das Fleisch mit Rotwein und beendete das Mal mit einem Cortado begleitet von einem Glas Duque del Alba. Es war heiß, ein bisschen stickig, und ich brauchte eine Abkühlung.
Die Klimaanlage von FNAC arbeitete hervorragend, die CD-Auswahl war ausgezeichnet. Ich war vertieft in Latin-Jazz als ich plötzlich einen festen Blick in meinem Nacken fühlte. Das passiert jedem ab und zu und ist nichts Besonderes. Ich drehte mich um, fand aber keinen Anhaltspunkt. Ein paar Minuten später wiederholte sich das Gefühl. Diesmal versuchte ich, den Beobachter mittels Spiegelung auf der glatt polierten Aluoberfläche zwischen zwei CD-Regalen auszumachen. Der Raum war aber ziemlich voll, der Sehwinkel zu klein, und so blieb mein Vorhaben erfolglos. Irgendwo in meinem Unterbewusstsein hallten plötzlich die Worte von Víctor Enrique, dem jungen Anwalt, wider: „Bitte, keine Paranoia, aber vergiss nie: bei Erbgeschichten, insbesondere bei solch einem unerwarteten Vermögen wie bei dir, können auch viele unerwartete Ereignisse eintreten“.
Ich verließ den Laden und ging Richtung Puerta del Sol, wo ich zuvor den Corte Inglés gesehen hatte. In der Herrenabteilung machte ich mich auf die Suche nach leichten Mokassins. Als ich endlich ein passendes Modell fand und ein paar Probeschritte machte, spürte ich wieder das unangenehme Bohren in meinem Hinterkopf. Ich befand mich gerade vor einem großen Spiegel und als ich rasch hineinguckte, glaubte ich, endlich fündig geworden zu sein: etwa fünf Meter entfernt, fast verdeckt von einem Ständer mit Herrenhemden, stand ein Mann, etwa in meinem Alter, und verfolgte mich mit seinem Blick. Mit festen Schritten ginge ich zu ihm. Er merkte das, und kam mir entgegen.
- Was wollen Sie von mir? Wieso beobachten Sie mich? – Fragte ich ihn resolut.
Er blieb kurz stumm, dann holte er aus seiner Hosentasche eine Plastikkarte und zeigte sie mir: Ladendetektiv. Irgendwie kam mir die Erklärung zu trivial, ja beleidigend vor: sehe ich so aus, dass ich die Aufmerksamkeit eines Diebesfängers auf mich ziehe?! Ich murmelte etwas ziemlich eindeutiges über die Unverschämtheit von Sicherheitsleuten, den Angriff auf mein verfassungsgeschütztes Recht auf Unschuld bis das Gegenteil bewiesen wird, und zog mich zurück. Die Schuhe ließ ich einfach auf dem Boden liegen und ging fort, vor Wut kochend. Wenn dieser armselige Trottel nur wüsste, mit wem er redete! Ich könnte hier die ganze Abteilung aufkaufen und dann all diese lächerlichen Klamotten aus dem Fenster werfen! So eine Flegelei! War ich auch beim ersten Mal nur das Beobachtungsobjekt eines Sicherheitsmanns gewesen? Meine Würde widersetzte sich mit allen Kräften, dies zu glauben, eine bessere Erklärung hatte ich aber nicht. Denn eine Auftragskiller-Theorie schien mir ein bisschen überzogen zu sein. Ich fluchte noch mal. Genau in diesem Moment fing mein Handy an zu klingeln. Es war mein Vater, der bereits im Hotel angekommen war und wissen wollte, wo ich steckte. Fünfzehn Minuten später saßen wir am Cafetisch unter einem Sonnenschirm an der Puerta del Sol. Der Kellner brachte uns zwei kalte Biere und wir genossen die ersten Schlücke in angenehmem Schweigen.
Das letzte Mal hatte ich ihn vor fast einem Jahr gesehen, stellte aber sofort fest, dass er sich kaum verändert hat: etwa zwanzig Kilo zuviel für seine Statur, jämmerlicher Haarrest, der seine Glatze am Nacken halb umringte, gut bekannte Zigarette in der rechten Hand, quadratische Brille in altem schwarzen Gestell… Plötzlich war ich froh, dass die Zeit doch nicht so schnell läuft und wenn doch, dann nicht so viele Veränderungen mit sich bringt. Zumindest in seinem Fall.
Er bestellte mir viele Grüße von Mama. Sie fühle sich sehr glücklich bei all ihrer Verwandtschaft, Geschwistern, Nichten, Neffen und Enkelkindern. Sie schicke mir viele Küsse und Umarmungen, bedauere zu sehr, dass sie nicht mitkommen könne: es sei für sie aber zu anstrengend gewesen. „Mit ihren 60 Jahren? Ich lach’ mich tot!“- dachte ich, sagte aber nichts. Sie rechne fest mit meinem baldigen Besuch und ein Zimmer für mich stehe immer bereit. Sie schicke mir viele neue Fotos, besonders schön sei das der kürzlich geborenen Carmencita. Nach dieser Familienbestandsaufnahme machten wir dem Ober wieder ein Zeichen und schwiegen eine Weile.
- Mein Bruder war immer ein komischer Typ gewesen. – Sagte schließlich mein Vater. – Das heisst nicht, dass er verrückt war oder so was, nein. Aber launisch. Ja, genau das… Und in seinen Launen machte er viele Dinge, die wohl komisch wirkten… Seltsam eben, jawohl. Das hat deine stets korrekte Tante Beatriz auf die Palme getrieben. Sie konnte nie begreifen, dass zwei mal zwei nicht immer vier ergibt, sondern manchmal drei oder fünf… Ehrlich gesagt, ich kann das bis heute auch nicht verstehen, ich akzeptiere es aber zumindest! Dein Onkel hat es zu seinem Lebenscredo gemacht - die ganze Welt zu überzeugen, dass zwei mal zwei jedes Mal ein anderes Ergebnis bringen kann.
- „Zwei mal zwei gleich vier“ wäre, auf unsere Familie übertragen, genau das Ergebnis gewesen, welches ich oder deine Tante am Ende erreicht haben. – Fügte er als Antwort auf meinen fragenden Blick hinzu. – Alle aus verdammt armen Verhältnissen, gemilde gesagt. Alle am Ende mit einem gewissen Wohlstand, mancher mehr, mancher weniger. Aber José… Er wollte immer ausscheren! Bei allem! Deine Oma erzählte mir mal, was er nach seiner Konfirmation dem Pfarrer gesagt hatte. Als die Messe vorbei war und der letzte Aufruf „Viva Cristo rey! Viva Franco!“ in der Kirche aushallte, kam der gute Padre zu meiner Mutter, um ihrem Jungen zu gratulieren. Nach den typischen Floskeln, die zu solchen Situationen immer gehören, fragte der gute ministro del Señor, was der junge José machen wollte, wenn er groß sein würde. Mein Bruder antwortete, er werde sehr reich werden und seine Familie werde jeden Tag Weißbrot, Butter, Milch und an jedem Wochenende Rindfleisch essen! Er werde in einem vornehmen Stadtviertel leben und einen Wagen mit Chauffeur besitzen. Als der Padre Arnulfo ihn darauf hinwies, dass solche Gedanken die Seele zerfräßen und nur vom Bösen eingeflüstert seien, um mit der Eitelkeit die jedem wahren Christen anstehenden Bescheidenheit und Demut zu vernichten, entgegnete ihm der dreizehnjährige Jungspund: Wieso denn?! Er werde mit dem Geld auch die Kirche renovieren, eine neue Orgel beschaffen und an jedem Sonntag die Kirchenkasse prall auffüllen. Was sei da denn vom Bösen? Meine Mutter war blass vor Angst, dass der Padre ihren Sohn nach diesen frechen Worten eine schwere Buße auferlegen oder gar der Kirche verweisen würde. Der Pfarrer war aber so gnädig und gütig, dass er José Antonio die Haare tätschelte, laut lachte und sagte, in diesem Fall seien seine Gedanken wohl gottgefällig und wiesen auf das richtige Verständnis von Wohltätigkeit der Rechtgläubigen hin!
- Du verstehst das bestimmt nicht, - fügte mein Vater hinzu, als er meine Reaktion gesehen hatte - ein kurzes, die fremde List anerkennendes Lachen. - Dein Onkel hat immer auf der Messerschneide zwischen Schlecht und Böse balanciert. Und das gefiel ihm.
Ich war da einer anderen Meinung. Wollte sie aber meinem eher gläubigen Vater nicht mitteilen.
- Ich habe seinen Brief an dich gelesen, – fuhr er fort. – Ich habe immer gesagt: ein Fax ist immer besser als deine komische Mail-Geschichte.
Diese Stichelei ließ ich an mir abprallen: mein Erzeuger hatte sich nie überreden lassen, sich einen Internet-Anschluss beschaffen zu lassen. Das Faxgerät blieb für ihn das einzig wahre Schnellverbindungsmittel. Abgesehen von der Krönung aller Erfindungen: dem Telefon.
- Das wesentliche schrieb er hier. – Mein Vater zog aus seiner Hemdbrusttasche ein Stück Papier, faltete es auseinander und schob es mir über den Tisch entgegen. Der gefaxte Brief. Mehrere Teile waren mit einem Stift markiert. Gründlich, wie immer.
„Lieber Eduardo,
es tut mir leid, dass ich dich auf diese Weise und erst kurz vor meinem Abgang anspreche. Ich will nicht den Unschuldigen spielen und mich hinter dem heuchlerischen Satz, „so hat das Leben entschieden“, verstecken. Die Entscheidung, mich aus dem Familienkreis zurückzuziehen und den Kontakt fast vollkommen abzubrechen, lag bei mir. Gewiss: bestimmte Lebensumstände haben ihre Rolle gespielt und damit auch mein Dasein beeinflusst. Trotzdem wiederhole ich: die Entscheidung lag bei mir.“
Zwei Absätze weiter eine neue Markierung:
„Wenn Du diesen Brief bekommst, bin ich bereits abgetreten. Den Entschluss, Die das Ergebnis meines Lebens zu hinterlassen, habe ich – ehrlich gestanden – nur aus dem Grund gefasst, weil ich hier in Venezuela niemanden mehr habe, der würdig wäre, es zu erben. Mein Bruder und meine Schwester kommen schlicht nicht in Frage weil sie, genauso wie ich, am Ende ihres Weges stehen und diesen Nachlass letztendlich ihren Nachfolgern weitergeben werden. Bei solch einer Konstellation ziehe ich vor, die Entscheidung selbst zu treffen“.
Der Stift kam einen Absatz später wieder zum Einsatz:
„Der Grund für meine Entscheidung ist einfach, mag aber vielen unerklärlich vorkommen. Besser gesagt – eigenwillig. Mir ist das egal. Dem Schicksal war es gelegen, dass mein Sohn den gleichen Namen trug, wie Du. Das Schicksal hat mir meinen Sohn genommen. Du bist, soweit ich weiß, wohlauf. Du kennst mich nicht, ich dich auch nicht. Vielleicht ist das auch gut so: so bleiben uns mögliche Enttäuschungen erspart. Was zählt - Du bist der Sohn meines Bruders. Also, so schlimm kann es auch nicht sein. Immerhin, diese Option ist mir Tausend Mal lieber, als meine Schwester mit ihren drei Töchtern!“
- Das sollte deine Tante nie zu Augen bekommen! – Warnte mich Vater.
- Was ist da eigentlich zwischen den beiden passiert? – Wollte ich wissen.
- Ich habe keine Ahnung. Das war bestimmt als ich ein kleines Kind war.
Ich las die restlichen Zeilen.
„Mach mit dem Geld etwas Vernünftiges. Es wäre zu schade, wenn Du es verbutterst. Und genieß die Zeit. Man lebt in diesem Leben nur ein Mal.
Dein Onkel José“.
Ich hatte den Brief in diesen Tagen mehrmals gelesen und wurde nicht schlauer was die Beweggründe meines Onkels anging. Auch jetzt nicht, nach dieser Art Vorauswahl. Nur mein Name, der dem seines verstorbenen Sohnes glich, und die Abneigung gegen meine Tante und andere mir unbekannte Leute in Venezuela? Ohne jegliche Erklärung. Nur die Feststellung. Die Entscheidung schien nicht nur eigenwillig, sie war eigenwillig. Sie war aber gefällt worden und wurde nun zu einer Tatsache. Take it or leave it. Ich gab meinem Vater das Blatt zurück.
- Hast Du nicht in Erwägung gezogen, mit nach Caracas zu fliegen?
- Ja, das habe ich mir überlegt. Denke aber, dass das nicht nötig ist. Er hat es mit keinem Wort erwähnt.
- Das bedeutet aber nicht, dass er es nicht wollte!
- Doch. Ich kenne ihn besser als du.
„Du kennst mich nicht, ich dich auch nicht“. Vielleicht hatte mein Vater recht. Letztendlich waren es seine Familie, seine Verhältnisse, seine Leichen im Keller.
- Bring ihm Blumen. Von mir und Beatriz. Sie organisiert eine Messe für ihn. Sie hat es mir per Telefon gesagt.
Er zündete wieder eine Zigarette an. Vielleicht dachte er jetzt an die Zeit, als er mit der ganzen Familie José zum Schiff nach dem fernen Maracaibo begleitete. Zum neuen Leben, dass so unendlich fern und lang schien.
Plötzlich wurde mir klar, dass ich nichts, wirklich nichts von meinen Verwandten wusste. Wie war ihr Leben damals? Was haben sie gespielt, wovon geredet? Meine bereits gestorbenen Omas und Opas von beiden Seiten. Ich kannte sie zwar. Wußte aber gar nicht von ihnen. Das wäre ein guter Moment meinen Vater zu fragen, ihn zum Reden zu bringen.
Das tat ich.
Als wir im Hotel ankamen, war es bereits weit nach Mitternacht. Wir vereinbarten, uns am nächsten Morgen beim Frühstück zu treffen. Wir umarmten uns und der bereits hunderte Male vollzogene unverbindliche Vater-Sohn-Gute-Nacht-Schlaf-Gut-Abschied verwandelte sich unverhofft in eine feste, lange, richtig schmerzhaft liebevolle Vater-Sohn-Umarmung.
Mein Vater weinte. Still. Zurückgewandt in seine vergangene Vergangenheit. Als er mit seinem Bruder die staubigen Straßen Teneriffas entlang lief.