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Man muss das dem „zwei plus zwei gleich vier Prinzip“ entreißen
ОглавлениеWahnsinn bei Individuen ist selten, in
Gruppen oder Gesellschaften die Regel.
Friedrich Nietzsche
Nennen wir ihn Paul. Paul war unterwegs im Wald. Er suchte nach einem Wort. „Wozu brauchst du ein Wort?“ fragte ihn eine Fee, eine wie sie dort überall sind, „such nach Pilzen, dann hast du was zu tun.“
„Nein, das Wort ist mir wichtiger, man hat es der Welt gestohlen“ entgegnete ihr Paul. „Jetzt ist, wo etwas sein sollte, nichts, und keiner merkt´s.“
„Ist doch gut, ein Wort weniger, die Welt ist groß, was soll´s.“
„So einfach ist das nicht.“ widersprach ihr Paul. „Worüber man reden müsste, kann man das nicht. Und je größer das Problem, umso größer der Schaden.“
„Da hast du auch wieder Recht“, meinte die Fee, und weil sie Wittgenstein gelesen hatte, war ihr klar, nur was ein Wort ist oder zum Wort wurde, ist wirklich da und man sagt Hallo. Menschen versammeln sich um ein Wort und sie diskutieren darüber, weltweit. Meinungen bilden sich und man tauscht Argumente. Und einer schreibt da sogar ein Buch. Ein Wort steht im Zweifel. Es fordert das Nein heraus. Alle stehen um es herum, und man hört rufen, seh ihn an, den Lügner. Wie soll das möglich sein, wenn es das Wort gar nicht gibt? „Ganz klar, ohne ein Wort geht nichts, bei euch Menschen ist das so, wir Feen wissen das“, räumte die Schöne ein. „Pilze sammle ich morgen, heute geht mir´s ums Wort.“
„Muss ziemlich wichtig sein, dein Wort, du hast mich neugierig gemacht. Sag mir, worum es geht.“
„Ja, wie soll man einen Wetterbericht machen, ohne den Regen, die Sonne, den Schnee?“
„Du sagst, es wurde gestohlen, ich habe den Verdacht es ist noch gar nicht da, dein Wort, es war noch nie da! Normalerweise regnen Worte vom Himmel. Wenn bei euch Menschen da in eurem Gehirn etwas rumort und einer versucht es dem anderen mitzuteilen, springt es heraus das Wort, wie das Wechselgeld aus dem Automat. Und ab da beginnt der Disput.“
„Gut, ich schränke das ein, das Wort, das ich meine, ist noch nicht da, es hätte aber schon da sein können. Man hielt es von dem, auf das es sich beziehen sollte, fern.“
„So ist mir das schon lieber“, meinte die Fee. „Ist ein Wort nämlich einmal da, stiehlt es keiner. Aber jetzt rück endlich damit heraus“
„Gut, du sollst es wissen“, entschloss sich Paul, die Fee an seinem Geheimnis teilhaben zu lassen, vielleicht in der Hoffnung, sie könne ihm raten, denn die Sache war kompliziert. „Ihr Feen habt dieses Problem nicht, ihr seid unsichtbar. In uns Menschen wuseln Atome und Moleküle. Dauernd ist da Bewegung. Bis zu unserem seligen Ende geistern da Partikel in uns umher, zielsicher und rasend schnell. Wie unsere Organe arbeiten, der Fingernagel wächst, Nahrung sich umbaut und Altes, Verbrauchtes wieder ausgeschieden wird, wo am rechten Ort zur rechten Zeit wie von Zauberhand Form sich bildet, wo sie vorher nicht war, wie all das zum Nutzen des Ganzen ineinandergreift, und alles von allem weiß, auch um das, was noch gar nicht ist, sondern erst werden soll, das, liebe Fee, glaubt ja wohl nur der Weihnachtsmann, dass von solch kunstvollem Flug die Physik und die Chemie uns zu berichten wissen, wie der geht. Im Gegenteil, die Wetten stehen eins zu einer Million dagegen, dass einer solch einen Unsinn glaubt. Und doch, du wirst es nicht für möglich halten, du kennst dich in der Menschenwelt ja nicht aus, die Menschen tun´s. Je verrückter eine Idee ist, umso mehr glauben sie daran, frag mich nicht warum. Will man heute jemand so recht beleidigen und in die Schmuddelecke stellen, fällt das Wort Esoterik. Wie schnell es gelang, diesen Begriff als gleichbedeutend mit „bar jeder Vernunft“ beim Publikum in Szene zu setzten, lässt tief blicken. Fällt dieses Wort, das schon zu einem Schimpfwort geworden ist, ist der Beifall des Publikums sicher. Ich frage mich, warum dreht man hier diesen Spieß nicht um. Gibt es etwas Irrationaleres als zu glauben, diese unglaubliche Veranstaltung, dieses lebenslange, zielgerichtete sich Bewegen einer sternengleicher Anzahl winzigster Teilchen, das uns am Leben erhält, sei das Werk der Chemie, und die flutsche wie Seife nur so dahin? Wohl kaum! Doch es kommt noch schlimmer. Woran sie da glauben, glauben sie nicht nur, sie halten es für die Realität. Macht einer sie darauf aufmerksam, dass Atome und Moleküle zur Form, wie der eines Käfers, nicht finden, und dafür höhere, formgebende Kräfte nötig sind, lacht der ganze Saal. Doch die Form entsteht aus kleinen, unscheinbaren Anfängen heraus tatsächlich, ein Experiment braucht´s da nicht. Und den möchte ich sehen, der Atome und Moleküle, mit dem, was wir vom Labor und der Wissenschaft her wissen dazu bringt eine Form zu bilden, zudem eine, die ständig im Umbau ist, jetzt und hier in diesem Moment. Denk an den Käfer, wieviel Schritte formgebender Art da nötig sind bis es soweit ist mit ihm, und er in seiner ganzen Pracht vor uns steht. Oder denk an einen Schmetterling bis er fliegt. Die fixe Idee, dass es formgestaltende Kräfte in der Natur nicht gäbe, und dass unseren Käfer die Wissenschaft im Griff hätte, hat sich in das Gehirn der Menschen eingebrannt. Die Natur habe mit einer höheren Welt, nennen wir sie Gott, nichts zu tun, da sind sie sicher. Sicher wie nirgendwo sonst. Dass die Natur der Wissenschaft gehöre und Kräfte höherer Provenienz darin nichts zu suchen hätten, halten sie für modern, für aufgeklärt, für den Trichter, auf den die Welt in einem finalen, unumkehrbaren Akt des Fortschritts gekommen sei. Auch wenn sie nichts von der Physik und der Chemie, von der sie da reden, wirklich verstanden haben, das haben sie begriffen, Gott ist da aus dem Käfer raus.“
„Ah, mir dämmert´s“ lachte die Fee, dieser Wahnsinn braucht einen Namen und er hat keinen.“
„Richtig, besitzt, dass zwei plus zwei gleich vier ist und nicht fünf, einen Namen? Oder, dass die Erde rund ist und nicht eckig, nennt man das eine Ideologie? Die Möglichkeit, dass sie eckig wäre, besteht gar nicht. Einen Diskussionsbedarf gibt es hier nicht, und das zurecht. Der Begriff rund lässt nichts offen. Dass die Welt eckig sei, ist keines Gedankens wert. Eine Lehre, die Welt sei rund, gibt es nicht, sie ist es. Bei solchen Sachen ist das in Ordnung, nicht aber, wie aus einem befruchteten Ei ein Käfer wird und es sehr gut möglich wäre, dass alles ganz anders ist.“
„Ja du hast Recht“, pflichtete ihm das Fabelwesen bei, „ein Wort muss her, unbedingt. Selbst „Gott“ ist ein Wort. Seither ist es mit diesem Mann (es heißt ja der Gott, oder nicht?) nicht mehr weit her. Man spielt mit ihm Fußball und schreibt Bücher, dass es ihn nicht gibt.“
„Darüber, dass zwei plus zwei nicht gleich vier sein könnte, schreibt keiner ein Buch. Ein Wort dafür muss her, wie aus einer befruchteten Eizelle ein Käfer wird und das Chemie und Physik sein soll. Man muss das dem ‚zwei plus zwei gleich vier - Prinzip‘ entreißen. Komisch, dass so etwas aufgeklärt, modern, gar rational heißen soll, so als sei das der Historie letzter Schluss. Fällt dir da etwas ein, wie man dem abhelfen könnte?“ klopfte Paul auf den Busch.
„Na klar“, meinte die Fee, die sich inzwischen, um mitreden zu können, in einen Menschen aus Fleisch und Blut verwandelt hatte. „Die Lehre, die bis heute als so sicher gilt, wie dass zwei plus zwei gleich vier ist, die Atome und Moleküle einen Tanz aufführen lässt (wo diese doch gar nicht tanzen können), der bis zum Ende des Lebens nicht enden will, und diesem Tanz, ohne mit der Wimper zu zucken das Etikett „Chemie“ (getarnt als Biochemie) aufpappt, nennen wir ab jetzt den „Biologischen Matererialismus“. Den dialektischen oder den historischen Materialismus gibt es ja schon, den biologischen Materialismus noch nicht. Nur Fachleute, solche die anders denken, reden da manchmal, aber nur selten von Physikalismus, ein Wort, von dem keiner weiß, was es meint und worauf es sich bezieht. Das Gegenteil, dass die Atome und Moleküle in unserem Käfer aus einer höheren Welt in Bewegung gehalten werden, hat auch schon einen Namen, man nennt das ‚Vitalismus‘. Man übergießt diesen ‚Vitalismus‘ mit Spott und fühlt sich ihm überlegen. Du musst nämlich wissen, dass das Leben lebendig sei, gilt heute als Glaube, dass es tot sei als Wissenschaft. Nun drehen wir den Spieß herum. Mit dem biologischen Materialismus hat die Welt ein Wort und der Zweifel wächst. Der Begriff geht schon mit dem, was er sagen will, schwanger.
Zuerst einmal wird da Aufruhr sein und man wird protestieren, einen biologischen Materialismus, den gibt es nicht, du nennst, dass zwei plus zwei gleich vier ist, eine Ideologie. Doch im Laufe der Zeit wird man merken, dass, was man bisher für die Wirklichkeit hielt, eben nicht die Wirklichkeit ist. Du wirst sehen, dieser Glaube wird erodieren, es spült ihn eine Flut guter, wohl begründeter Argumente fort. Gib der Welt ein Wort, und was es meint, liegt im Streit. Das Schild, das der biologische Materialismus, den es ab dem heutigen Tage gibt, vor sich herträgt und ihn über jeden Verdacht erhaben macht, ist das Wort Wissenschaft. Es wurde ihm dieses Etikett aufgeklebt. Du musst wissen, was sich heute Wissenschaft nennt, redet den Menschen ein, man spreche hier von der Wirklichkeit und dann mit dem Vorsatz Natur, von der Natur wie sie wirklich ist. Man will uns da täuschen. Wenn es die Wissenschaft wirklich gibt, wurde sie hier missbraucht. Es war der genialste und zugleich der dreisteste Bluff, den die Welt je erleben musste, so zu tun, als wisse man um die Biologie, in dem was sie wirklich ist, Bescheid und dem einen Namen gab, einen der über jeden Zweifel erhaben ist, den der Wissenschaft. Und es ist da wie bei jeder Ideologie, im Sinne einer Verschwörung darf man sich das nicht denken, die so reden glauben selber daran, oder sie bekommen eins auf die Finger, wenn nicht. Wann zerrt man die Biologie vor Gericht und spricht ihr den Titel, den sie sich anmaßte, ab? Dass zwei plus zwei gleich vier ist, der Stein auf der Erde oder dem Mond in einer bestimmten Zeit zu Boden fällt, oder ein exakt definiertes Verhältnis von Sauerstoff und Wasserstoff Knallgas ergibt, macht unser Verstand noch mit, den Käfer nicht.“ Paul war erleichtert, die Fee hatte ihn verstanden und ihm das wichtigste, das, nachdem er so lange gesucht hatte, ein Wort, frei Haus geliefert. Und aus der Welt schaffen kann man ein Wort, ist es einmal da, nicht, dessen war Paul sich gewiss.
Der biologische Materialismus scheint unausrottbar. Selbst Autoren wie der US amerikanische Philosoph Thomas Nagel („Geist und Kosmos - Warum die materialistische, neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“, Suhrkamp TB 2016), die mit der Existenz von Geist nicht zurechtkommen (schwitzt ihn die Materie etwa aus?), halten die Evolution und das Lebendige an sich für eine Angelegenheit der Physik, welche nur die physische und funktionale Beschaffenheit von Organismen erkläre, jedoch nicht den Geist. Da haben wir es, die Physis, mithin das Leben selbst, wie es sich entwickelt, zur Form strebt oder sich in jeder Sekunde neu erhält, das sei Physik, hören wir da; selbst in Werken von Autoren, die merken, dass da etwas faul ist im Staate Dänemark, ist das dort schwarz auf weiß zu lesen. Der Physiologie, dem rätselhaften Bewegungsverhalten von Atomen, Molekülen und Zellen auf ihrem Weg von der Zygote zum fertigen Exemplar, scheinen sie noch eben so wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben wie der Tatsache, dass der Geist, an dem sie sich stoßen, auf die Materie wirkt. Für solche Autoren ist das Wunder, sich selbst bewegender, formbildender Materie, wie nicht vorhanden. Solange die Physiologie, das innerkörperliche Geschehen von Atomen, Molekülen und Zellen, und um das geht es ja zuerst einmal - nicht um die Evolution - nicht selbst Gegenstand der Betrachtung wird, können sie Bücher schreiben so viel sie wollen, zu der Natur, wie sie wirklich ist, dringen sie dann nicht vor. Den physikalischen Schmetterling, an den sie glauben, den gibt es nicht und ihn, irgendwie aufgesetzt, um die Dimension des Geistes zu erweitern, wird nicht gelingen. Dass Lebensprozesse keine chemisch-physikalische Grundlage besitzen, sondern im Gegenteil, ein Überwinden dieser Kräfte erfordern (wer hätte je eine Chemie gesehen, die sich als Baumeister betätigt, die physikalischen Kräfte besitzen dort lediglich eine Art Haltefunktion), eine Tatsache, die aus einer korrekten Beschreibung entsprechender physiologischer Prozesse, wie dem Wachstum, dem Stoffwechsel oder der Regeneration, klar hervorgeht, scheint ihnen, gerade weil sie sich mit Physiologie und dem Wunder der Formbildung noch nie wirklich beschäftigt haben, in keiner Weise bewusst zu sein.
So wäre mit dem Begriff eines biologischen Materialismus nun das Ränzlein geschnürt und die Welt zuerst einmal aus dem Lot - um ins Lot zu kommen.