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Eine Welt steht Kopf
Оглавление- Vom Atom, Molekül oder einer Zelle zu einem Schmetterling
führt kein Weg –
Die Sinne trügen nicht,das Urteil trügt.
Johann Wolfgang von Goethe
Rede und Wirklichkeit, wie man über sie spricht, stimmen heute nicht überein. Bei uns allen ist das nicht anders, nur wenige falsche Grundannahmen reichen aus, und das Denken ist bis in den letzten Winkel hinein verdorben. Nur leider ist uns das in keiner Weise bewusst, weil wir das Denken unter der so gänzlich anderen Voraussetzung einer Biologie, die unseren Horizont überschreitet, gar nicht kennen. Wie erfrischend ist es für uns, die wir an die Wissenschaft glauben, wenn wir da von einem Menschen wie Karl Valentin hören, ´des sei wia bei jeda Wissenschaft, am Schluss stelle sich da heraus, dass alles ganz anders war.‘
Im Gegensatz zur Wissenschaft war sich Christian Morgenstern sicher, wer die Welt nicht von Kind auf gewohnt wäre, müsste über ihr den Verstand verlieren. Das Wunder eines einzigen Baumes würde genügen, ihn zu vernichten. Wie deutlich ragt aus einem solchen Satz jenes Werden hervor, wo Atome Moleküle und Zellen, von einem winzigen Samen aus betrachtet, zur ganzen Fülle und Pracht einer Eiche oder Buche, Wege beschreiten, von denen keine Wissenschaft uns auch nur andeutungsweise wird je eine Ahnung davon vermitteln können, wie das geht.
Schon Goethe war in Sorge, dass die Poesie, von der wir oft mehr über die Natur erfahren als anderswo, ihr Heimatrecht im Reich der Wahrheit verlieren könnte, und die durch die Sinne vermittelte Natur, die Natur wie sie wirklich ist, einer robusten, herz- und verstandlosen Wissenschaft weichen müsste. Die Behauptung der Wissenschaft, Naturwissenschaft zu sein, erwiese sich, wenn es so wäre, als ein gigantischer Betrug, deren eigentlicher Gegenstand das Isolierte und Tote ist, nicht das Leben und jene Dynamik, als die uns doch die Natur auf so eigentümliche und unfassbare Weise entgegentritt. So war es Goethes innigstes Bestreben, einer Wissenschaft, die unter falscher Flagge segelt, auf ihrem eigenen Terrain diesen Machtanspruch streitig zu machen. Wissen, das ausklammert und die Wirklichkeit, wie sie ist, schlicht ignoriert, gilt ihm als menschenunwürdiges Wissen, als eine Karikatur der Idee der Wahrheit. Nicht jede Neugier findet seinen Beifall. Es gibt eine Neugier, die uns von uns und dieser Welt, in dem was sie wirklich ist, weg führt, eine Art von Neugier, die sich dem zuwendet, was uns nichts angeht, davon war Goethe überzeugt. Beispiele dafür gibt es heute genug. Schopenhauers Käfer wollen wir doch erklären. Wenn uns das gelingt, wissen wir, wie in dem Märchen „von dem Fischer und seiner Frau“, alles. In der Fischerhütte sitzen wir noch immer, nur haben wir das bis heute noch nicht bemerkt. Allein wenn wir es schaffen, diesen Käfer in den Griff zu bekommen und erklären können wie er zu dem wird, der er ist, wissen wir was Natur ist und ein Wort wie Naturwissenschaft hätte seine Berechtigung. Wer glaubt, wenn man Milliarden schwer Kerne aufeinander jagt, käme man diesem Ziel näher, zu wissen, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, glaubt an ein Gespenst. Das Gegenteil ist richtig, man kommt weiter von der Wahrheit weg. Goethe forderte die Rückkehr zur Erscheinung, denn nur sie offenbare uns, was die Natur wirklich sei. Eigentlich ist der Bezug auf das Phänomen, den Schmetterling wie er fliegt, den Käfer wie er krabbelt, das Selbstverständlichste von der Welt, nur interessiert das heute niemand.
Eine kleine Entschuldigung mag es dafür geben. Überall sehen wir, aus Klein wird Groß. So ist es kein Wunder, wenn wir meinen, die Welt baue sich von unten. Wenn wir uns nur recht um die Atome und Moleküle kümmern, landen wir irgendwann beim Käfer, ist dann die logische Konsequenz. Doch das Haus, das mit dem Fundament beginnt, und nicht beim Dach, bauen nicht die Steine. Und hier, bei unserem Käfer, wie verhält es sich da? Was wir von Atomen und Molekülen wissen, lässt nicht darauf schließen, dass sie diesen Käfer zuwege bringen. Denn die muss es wie ein Mensch, der z.B. aus herumliegendem Material eine Maschine bauen will, zu diesem Käfer hinziehen, sonst wird es mit Zellen oder diesem kleinen Prachtkerl nichts werden. Ja, man hat da richtig gehört, diese Partikel, sie müssen wollen. Materie, die etwas will, da scheint uns der Abstand von Atom und Molekül zu ihm, dem Schillernden, auf einmal unendlich groß. Wenn wir um den Käfer, und mit ihm um die ganze Natur, wirklich Bescheid wissen wollen, beginnen wir besser bei diesem Tier selbst, nicht bei der Zelle, nicht beim Atom oder Molekül. Hic Rhodos hic salta, heißt es da. Doch an welcher Pinnwand haben sie diesen Merkzettel, der ihnen zeigt, wohin sie sollen, hängen, ist jenes Insekt, das da auferstehen soll, doch noch gar nicht hier. Wenn wir es anders herum versuchen, und von unten beginnen, tausend Mal, zehntausend Mal einen neuen Anlauf nehmen, wird das zu nichts führen. Von oben, auf den Chitingepanzerten selbst den Blick zu richten, erscheint uns kühn, doch die Alternative, einen Weg vom Atom oder Molekül zum Käfer, den gibt es nicht. Da ist die Flut der Gedanken nicht zu stoppen, was diese, dem Periodensystem und den Lehrbüchern der Chemie Entsprungenen, alles können und leisten müssten, um dieses, von ihrer erbärmlichen Gegenwart so entsetzlich weit entfernt gelegene Ziel zu erreichen. Welchem Zauber müssten da diese Kügelchen verfallen sein, dass sie um Dinge wissen, den Fühler hier, die Hornplatte dort, an welche, von der ersten Zelle aus gesehen, mit der dieses Tier seine Reise ins Leben beginnt, noch nicht im Entferntesten zu denken ist! Und man berufe sich da nicht auf die Evolution oder gar auf die Zelle, oder in ihr die DNA! Hier und jetzt müssen diese Partikel um die verschlungenen Wege und tausend Schritte wissen, die dahin führen. Und vor allem, sie müssten wie die Menschen in einer Großstadt zur Rush Hour, wie dies in einer Zelle der Fall ist, in eine regelrechte Hektik verfallen, zielstrebig, geordnet, diszipliniert. Das, sich auch nur ansatzweise vorzustellen, ist ganz und gar unmöglich. So etwas hätte die Welt tatsächlich noch nie gesehen, Steine, die den Dom erbauen, Bilder, die der Pinsel alleine malt und eine Venus von Milo, von der der Marmor schon weiß, wie das geht. Lernen tut solch eine Beweglichkeit die Materie nie, nicht in Milliarden von Jahren. Und was heißt da schon lernen, besitzt sie ein Gehirn, gar ein Gedächtnis, ist sie ein Mensch? Zu nichts, was diesen kleinen Kerl ausmacht, nicht zu seinen hunderten von Augen, der fein geäderten Haut seiner Flügel, nicht zu der irisierenden, in allen Farben des Regenbogens schimmernden Pracht seiner Panzerung, führt ein Weg. Viel an Verstand braucht es dazu nicht einzusehen, ohne dieses Tier selbst ins Blickfeld zu rücken, zu dem was es wird, in dem was es ist, wird es mit ihm nichts werden. Atome und Moleküle, selbst Zellen in den Adelsstand Formen erschaffender Titanen zu erheben, wird nicht gelingen. Um das zu merken, mit der Materie wird etwas angestellt, sie tut es nicht selbst, dass dieser kleine Krabbler in seiner ganzen Pracht einmal vor einem steht, braucht es nicht viel. Sind wir an diesem Punkt angelangt, ist man da, wo Goethe uns haben will, beim Phänomen. So steht die Welt nun auf dem Kopf, wir sehen sie von oben. Ohne lang darum herumzureden, begeben wir uns mitten in die Sache hinein. Nur so landen wir beim Käfer, bei dem, was er wirklich ist. Alles andere ist pure Illusion. Welch überhebliche Arroganz, welch ein durch nichts zu entschuldigender Eigensinn treibt uns dazu, dass wir meinen, unser bisschen Verstand gegen die Natur in Stellung bringen zu müssen? Vielleicht ist es die Aussicht Arbeit zu finden für lange Zeit. Vielleicht auch ganz in der hintersten Ecke unseres Gehirns, da wo das Gewissen sich regt, auch die Angst es nicht zu schaffen und, gerade deshalb, es trotzdem zu tun. Erscheinen der Käfer oder die Ameise denn doch, wenn wir wach und bei Sinnen sind, uns gar zu groß.
Auf der Folterbank der Physik, der Chemie und der Mathematik verstumme die Natur, sagt Goethe. Gegen das Unheil der neueren Physik polterte er: Man müsse ihr die Beute abjagen, es gelte die Phänomene ein für alle Mal aus der düsteren, rein auf eine künstliche Versuchsanordnung zugeschnitten, mechanisch dogmatischen Marterkammer zu befreien. (vgl. dazu Rüdiger Safranski „Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie.“) All die Attribute, mit denen sich der Begriff Naturwissenschaft umgibt, sie bediene den analytischen Verstand, der Anschein von Objektivität den sie erweckt, die Behauptung, ihre Herangehensweise an die Natur sei rational, erweisen sich im Angesicht einer Natur, die einem als selbständig handelnde Wesenheit entgegentritt, als eine durch nichts zu entschuldigende Rosstäuscherei. Was da in ihrem Wesen verkannt wird, ist diese Natur selbst, nicht weniger die Werkzeuge mit denen man ihr zu Leibe zu rücken versucht, die Mathematik, die Chemie und die Physik in dem was diese Fächer darstellen, was sie zu leisten vermögen, und vor allem in dem was nicht. Als die Natur, die sie wirklich ist, eine Wesenheit, die Form um Form, wo sie vorher nicht war und keiner weiß wie, sich vollenden lässt, tritt sie innerhalb einer Wissenschaft, die sich selbst in den Stand einer Naturwissenschaft erhob, gar nicht in Erscheinung. Es entpuppt sich dies als ein gigantischer Betrug, von dem es einzig und allein rätselhaft bleibt, warum die Menschen so sehr an ihn glauben.