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Der Tod eines Senioren
Оглавление„Papa hier am Smartphone“, meldete ich mich freudig. Die zusätzliche Dosis Schlaf hatte mir gutgetan, und ich war jetzt bereit, mein Tagwerk mit voller schöpferischer Kraft zu absolvieren.
„Hallo Papa, hier Manfred. Ich hoffe, ich hab dich nicht aus den Federn geholt …?“
„Nein, keine Bange, ich bin hellwach. Für unseren aktuellen Auftrag hab ich mir auch schon was überlegt: Nimm du dir doch bitte mal diesen Road-Captain von denen vor, Stone oder wie die den nennen. Name und Anschrift sollten sich recht easy über das Kennzeichen seines Hobels herausfinden lassen, da hast du ja deine Quellen. M-HD-66 hat er auf dem Nummernschild stehen. Beobachte den mal ein wenig, vielleicht kommt dabei ja was rum.“
So, damit war mein Assistent schon mal beschäftigt. Auf mich wartete jetzt erst mal ein leckeres Frühstück in meinem Stammcafé. Dort konnte man bis vier Uhr nachmittags frühstücken, für Langschläfer also ideal. Euphorisch (woher kam bloß diese gute Laune?) machte ich mich auf zur U-Bahn-Station, die nur ca. hundert Meter von meiner Wohnung entfernt war. Die gute Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel war für mich bei der Wohnungssuche, die mittlerweile drei Jahre zurücklag, ein entscheidendes Kriterium gewesen. Giselastraße, das war meine Heimatstation mit Anbindung zur U3 und zur U6, und bis zum Marienplatz, also dem Zentrum der Stadt, waren es nur zwei Stationen, insofern konnte man meine Wohnlage mit Fug und Recht als zentrumsnah bezeichnen.
Vor der Rolltreppe, die zur U-Bahn hinabführte, standen zwei Zeugen Jehovas, die aktuelle Ausgaben des Wachturms feilboten. Was für Spinner! Mein bisweilen recht loses Mundwerk musste das dann auch prompt kommentieren: „Na, ihr frommen Brüder, wartet ihr hier bei sechsunddreißig Grad auf die Apokalypse?“
Der jüngere der beiden Zeugen guckte peinlich berührt zu Boden, während der ältere und auch besser angezogene Mann (schwarzer Anzug, schneeweißes Hemd ohne Schlips, insgesamt eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Quentin Tarantino gespielten Figur des Richard Gecko aus dem Film From Dusk Till Dawn) über deutlich mehr Selbstbewusstsein beziehungsweise mehr Erfahrung mit solchen ungläubigen Ketzern wie mir verfügte: „Sie sind da voller Vorurteile, darüber können wir uns gern unterhalten. Haben Sie vielleicht einen kleinen Moment Zeit?“
Dies verneinte ich barsch und stellte mich auf die Rolltreppe. Schließlich wartete ein leckeres Frühstück auf mich, und das war mir im Moment wichtiger als die Apokalypse. Als ich ein Viertelstündchen später das reichhaltige Frühstück von einer etwas muffeligen Kellnerin (war anscheinend neu, hatte ich dort noch nie gesehen) serviert bekam, ahnte ich noch nicht, dass uns zwar keine Zerstörung der Welt, keine richtige Apokalypse, aber zumindest etwas Ungewöhnliches bevorstand, das schon seine ersten Fühler ausgestreckt hatte.
Das Auftauchen des Skeletts war ja schon merkwürdig, und meine schon vor Jahren an Lungenkrebs dahingeschiedene Mutter in der Besenkammer war sogar noch dubioser, aber es sollte alles noch viel, viel skurriler kommen.
„Entschuldigen Sie, könnte ich vielleicht die Morgenzeitung haben?“, sprach mich ein älterer Herr an, der am Nebentisch Platz genommen hatte. Er mochte etwa Mitte siebzig sein, gepflegte Erscheinung.
„Den Sportteil wollte ich gleich noch lesen, den Rest können Sie gern haben.“
Ich sortierte die Sportseiten aus und gab den Rest an den Opi weiter, der sich dafür auch höflich bedankte. Heiß war es in dem Café, obwohl direkt über meinem Platz ein Deckenventilator seiner Arbeit nachging.
„Alles Lügen in dieser Zeitung“, bemerkte der Alte. Beifall heischend schaute er mich an.
„Nun ja, das ist halt ein Boulevardblatt und nicht die Frankfurter Allgemeine. Aber dass die Redaktion aus notorischen Gewohnheitslügnern besteht, glaube ich dann doch nicht“, wandte ich zur Ehrenrettung der Gazette ein. Das schien den Opa nicht umzustimmen.
„Alles Lügen in dieser Zeitung“, wiederholte er, allerdings deutlich lauter und bestimmter als zuvor.
„Jetzt brüllen Sie hier mal nicht rum, Opa. Das können Sie ja vielleicht in Ihrem Heim machen, aber nicht in meinem Lieblingscafé“, wies ich ihn unfreundlich zurecht. Hatte das jetzt gesessen? Opa schaute einen Augenblick lang pikiert aus der Wäsche und nestelte dann in seiner rechten Hosentasche herum. Er zog zunächst ein zerknülltes Papiertaschentuch heraus, das er auf den Tisch legte, danach zauberte er ein Schweizer Offiziersmesser hervor, das ich sofort – mit fachmännischem Blick – aufgrund des Schweizer Kreuzes identifizieren konnte (gab es da überhaupt noch Konkurrenzprodukte oder hatten die mittlerweile einen Marktanteil von einhundert Prozent?). Opa probierte nun verschiedene Varianten aus, brachte mal den Korkenzieher ans Tageslicht, mal die Schere.
„ALLES NUR LÜGEN!“, brüllte er in maximaler Lautstärke. Mittlerweile war sämtliches Leben im Café zum Erliegen gekommen, alle starrten nur noch auf den durchgeknallten Rentner, der sich mittlerweile für die längere der beiden Klingen seines Messers entschieden hatte, mit deren Spitze er beim aufstehen auf mich zeigte.
„Alles nur Lügen – und du Schwanzlutscher bist der größte Lügner von allen!“
Ich erhob mich ebenfalls und ging einen Schritt zurück, um zunächst einmal aus der Reichweite des Messers zu gelangen.
Opa hatte mittlerweile ein irres Funkeln in den Augen. Der war wirklich völlig außer Kontrolle geraten und war daher – trotz seines hohen Alters – durchaus als gefährlich einzuschätzen.
„Leg das Messer hin, Kukident-Kasper, oder ich hau dich so windelweich, dass man dich hier liegend raustransportieren muss!“
Doch Opa war von meiner Drohung nicht sonderlich beeindruckt, sondern schaltete augenblicklich hoch in den Kampfmodus, und wie ein wild gewordener Stier stürmte er auf mich zu. Mit einer für meine Körperfülle sehr wendigen und athletischen Drehung ließ ich ihn allerdings ins Leere laufen, und nun war es an mir, einen entsprechenden Gegenangriff zu fahren. Das tat ich auch, indem ich Opa kräftig in seinen Allerwertesten kickte, woraufhin er schmerzerfüllt aufschrie und mit der oberen Hälfte seines Körpers auf einem Cafétisch landete, der glücklicherweise gerade nicht besetzt war. Ich zog Opa hoch und drehte ihn unsanft um. Das Taschenmesser hielt er nicht mehr in seinen Händen, und das war auch gut, denn somit stellte er keine direkte Bedrohung mehr dar. Unsere Gesichter waren jetzt fast auf Tuchfühlung. Ich erschnupperte einen ekelhaften Geruch, der aus seinem Mund strömte – eine Mischung aus Knoblauch und übelster Verwesung, dazu noch mit etwas Fäulnis angereichert. Unerträglich!
„Hat schon jemand die Polizei gerufen?“, erkundigte ich mich bei den anderen Anwesenden, die neugierig das Schauspiel verfolgt hatten. Ein Kellner outete sich: „Ich habe angerufen, aber die können frühestens in zwei Stunden einen Wagen herschicken, bei denen muss gerade komplett Land unter sein.“
Zwei Stunden wollte ich hier allerdings nicht noch rumsitzen, denn ich hatte ja auch noch einige wichtige Dinge zu erledigen.
„Dann lassen wir Opa halt laufen. Aber ich sag dir eins, Alter: Kreuz nie wieder meinen Weg. Wenn ich deine hässliche Fresse hier noch mal sehe, gibt’s Dresche!“
Der Alte ging in die Knie, um nach seinem Taschenmesser zu suchen, das er unter einem Stuhl fand. Behutsam klappte er es wieder zusammen und schenkte mir einen unterwürfigen Blick.
„Äh … i-ich habe keine Ahnung, was da in mich gefahren ist. Ich bitte um Entschuldigung, so was mache ich sonst nicht. Ich habe das Messer, um mir auf einer Parkbank ein Stück von einer Salami abzuschneiden oder die Schere zu nutzen … oder den Korkenzieher … Aber … äh … halt alles nur zur zivilen Nutzung, verstehen Sie?“
Er war jetzt wieder friedlich, und der Angriff auf mich war ihm sichtlich peinlich.
Ich verfügte nicht über hinreichende psychologische Grundkenntnisse, nahm aber an, dass es sich bei ihm um eine gespaltene Persönlichkeit handeln musste: netter Opi von nebenan und abartiger Offiziersmesserstecher in einer Person. Der Victorinox-Killer geht wieder um. Jetzt hatte aber anscheinend die gute Seite wieder die Oberhand zurückerlangt. Er bot mir sogar eine seiner Zigaretten an, die in einem silbernen Etui untergebracht waren, und bat mich, Platz nehmen zu dürfen. Die körperliche Auseinandersetzung mit mir hätte ihn schon etwas geschwächt, und er sei ja auch nicht mehr der Jüngste. In Richtung des Kellners, der den Notruf abgesetzt hatte, zeigte er sein allerbestes Sonntagslächeln.
„Könnte ich vielleicht noch einen schwarzen Tee bekommen?“, bat er höflich.
Der Kellner blickte mich unsicher und Hilfe suchend an, also übernahm ich die Initiative: „Ich glaube nicht, dass Rentner, die mit Messern auf andere Gäste losgehen, die primäre Zielgruppe dieses Lokals bilden. Oder mit anderen Worten gesagt: Verpiss dich, Alter, und mach künftig einen ganz weiten Bogen um dieses Café!“
Das hatte gesessen. Opa kramte einen Fünfeuroschein aus seinem Portemonnaie, legte diesen unter seine leere Tasse und verließ mit gesenktem Blick das Lokal. Ein paar Minuten später vernahm ich einen lauten Knall, der von draußen kam.
„Oh Gott, da hat sich jemand vor die Tram geworfen!“, rief ein Gast mit strategisch günstigem Fensterplatz.
Ein anderer Gast, ein etwa zwanzigjähriger Schönling mit gegelten Haaren (unsympathische Erscheinung), hatte die Sache noch etwas genauer beobachtet.
„Das war der Opa von eben, der da gesprungen ist. Ich habe das von hier genau gesehen“, verkündete er mit einem gewissen Stolz in der Stimme.
So schnell konnte das im Leben gehen: eben noch ein Messer in der Hand und wohlauf, jetzt zermatscht und mausetot.