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2. Gibt es Unterschiede in der religiösen Praxis zwischen Männern und Frauen?
ОглавлениеVor Gott sind Mann und Frau völlig gleichwertig. Demnach tragen sie auch die gleiche religiöse Verantwortung. Besonders deutlich tritt dies in folgendem Vers zutage: „Wahrlich, alle Männer und Frauen, die sich Gott ergeben haben, und alle gläubigen Männer und gläubigen Frauen und alle wahrhaft demütig ergebenen Männer und wahrhaft demütig ergebenen Frauen und alle Männer und Frauen, die ihrem Wort treu sind, und alle Männer und Frauen, die geduldig in Widrigkeit sind, und alle Männer und Frauen, die sich (vor Gott) demütigen, und alle Männer und Frauen, die aus Mildtätigkeit geben, und alle selbstverleugnenden Männer und selbstverleugnenden Frauen, und alle Männer und Frauen, die auf ihre Keuschheit achten, und alle Männer und Frauen, die unaufhörlich Gottes gedenken: Für (alle von) ihnen hat Gott Vergebung der Sünden und eine mächtige Belohnung bereitet.“24
Auffällig ist hier die durchgehende sprachliche Einbeziehung der Frauen, die geradezu an moderne, geschlechtergerecht formulierte Texte erinnert: „inna l-muslimīna wa-l-muslimāti“. Der Beginn wäre auch ohne Übertragung verständlich, werden hier doch die Muslime und Musliminnen direkt angesprochen. Er fungiert wie eine Art Überschrift, danach werden wesentliche Bereiche, die eine muslimische Identität ausmachen, konkret ausgeführt. Muhammad Asad überträgt statt „Muslime und Musliminnen“ mit „alle Männer und Frauen, die sich Gott ergeben haben“ und verwendet somit eine verbreitete Definition der Anhänger des Islams. Damit spielt er auch darauf an, was das Konzept des Muslimisch-Seins ausmacht: die starke Verschränkung von Glauben mit Handeln. Wer den Islam angenommen hat, also ein gottergebenes Leben führen möchte, der wird durch die von Gott im Koran und durch das Vorbild des Propheten Muhammad veranschaulichten gottesdienstlichen Übungen merken, dass das Ziel des Friedens in Gott eng verknüpft ist mit der Anstrengung, in Einklang mit den Mitmenschen und der Umwelt zu leben.
Gottesdienst ist nach muslimischer Vorstellung immer auch Menschendienst. Dieser Aspekt der Orthopraxie zeigt sich in der Verschränkung gottesdienstlicher mit sozialen Aufgaben. Mann und Frau tragen hier die gleiche Verantwortlichkeit in der Gesellschaft. Beiden wird schließlich die gleiche Erfüllung verheißen: Vergebung der Sünden und „eine mächtige Belohnung“, was auf die Vorstellung des Paradieses verweist.
Eine Art Tugendkatalog wird präsentiert, der gleichermaßen Männer und Frauen betrifft. An den Einen, Einzigen und Einzigartigen Gott zu glauben ist untrennbar verknüpft mit sozialen Aspekten. Aus „Mildtätigkeit geben“ wird in anderen Koranübertragungen auch mit „Almosen spendend“25 wiedergegeben. An Bedürftige vom eigenen Vermögen freigiebig abzugeben ist ein zentraler Bestandteil der muslimischen Glaubenspraxis. Unterschieden werden dabei sadaqa, das Almosen, und zakat, die sozial-religiöse Pflichtabgabe. Diese Pflicht bildet die dritte der so genannten fünf Säulen: Einmal im Jahr müssen 2,5 % des stehenden Vermögens an Bedürftige verteilt werden. Im Begriff zakat steckt das Wort „Reinigung“. So soll das persönliche Vermögen von jenem Teil gereinigt werden, der dem Gläubigen islamisch betrachtet gar nicht gehört, weil im Sinne der Umverteilung Bedürftige darauf Anspruch haben. Soziale Gerechtigkeit soll erreicht werden. Diese Pflicht wird so ernst genommen, dass theologisch betrachtet das Einbehalten dieser 2,5 % Diebstahl bedeutet.
Eine weitere Säule der Religion wird mit der oben angesprochenen Selbstverleugnung thematisiert. Auch hier übertragen andere oft konkreter mit „die fastenden Männer und die fastenden Frauen“ und stellen damit direkt den Zusammenhang mit dem Fastenmonat Ramadan her. Auch in diesem Gottesdienst liegt eine starke soziale Komponente, denn wer am eigenen Leibe verspürt, dass Essen und Trinken keine Selbstverständlichkeit darstellen, kann eher Empathie mit jenen entwickeln, für die sauberes Trinkwasser und sich satt zu essen puren Luxus darstellen. Tätige Solidarität zu erreichen ist so ein wichtiger Gesichtspunkt für die Fastenden.
Muhammad Asads Übertragung hat aber den Vorzug, hinter den religiösen Pflichten, wie zakat und Fasten im Ramadan, liegende erwünschte Charaktereigenschaften gläubiger Muslime stärker herauszuarbeiten. Muslimen leuchtet der Zusammenhang ohnehin sofort ein. Übergeordnete Begriffe wie eben „Mildtätigkeit“ und „Selbstverleugnung“ weisen auf eine allgemeine Haltung oder Gesinnung hin, die dem Erfüllen religiöser Pflichten zugrunde liegen sollen. Dies wiederum ist aufschlussreich für die Geschlechterfrage. Nicht nur tragen Mann und Frau die gleichen religiösen Pflichten. Hier sind auch die anderen Säulen der Religion zu ergänzen, nämlich das fünfmalige rituelle Gebet und die Pilgerfahrt nach Mekka, die jeder und jede Gläubige einmal im Leben bei ausreichenden finanziellen Möglichkeiten und Gesundheit vollziehen sollte. Mehr noch sollen sie sich bemühen, die gleichen positiven Charaktereigenschaften bei sich zu entwickeln.
Wer auch immer spezifisch männliche oder spezifisch weibliche Tugenden konstruieren wollte, wird diese Koranstelle dazu nicht zitieren können. Dezidiert werden beide Geschlechter angesprochen, sowohl, was die Erfüllung religiöser Pflichten betrifft, als auch, welche Tugenden dahinter stehen sollen. Essentialistischen Geschlechterzuschreibungen, wie sie in vielen Kulturen – auch den muslimischen – verbreitet sind, läuft dieser Koranvers zuwider. Da gibt es nicht die per se „soziale Frau“ und den per se „mutigen Mann“ – sowohl die Verantwortung für das Allgemeinwohl als auch das Einstehen für die eigene Haltung („die ihrem Wort treu sind“) werden beiden Geschlechtern gleichermaßen zugesprochen.
Schülerinnen reagieren im Religionsunterricht besonders stark darauf, wie das Attribut der Keuschheit sowohl bei Männern als auch bei Frauen betont wird – wenn sie erst einmal bedacht haben, was dieses scheinbar altmodische und daher bei den Jungen unverständliche Wort meint. Denn aus dem Alltag kennen sie oft den gesellschaftlichen Umgang bei vorehelichen Erfahrungen mit dem jeweils anderen Geschlecht, der starke Unterschiede zwischen dem macht, was ein junger Mann sich erlauben kann und was bei einem Mädchen zulässig erscheint. Solche Brüche offen anzusprechen und zu diskutieren, gelingt auf Basis des zitierten Verses sehr gut.
Fatima Mernissi bezeichnet die Koranstelle 33:35 als „revolutionär“26. Sie ist eine der Autorinnen, die den Trend mitgeprägt haben, eine weibliche Sicht auf die islamischen Quellentexte einzufordern. Gerade angesichts immer noch bestehender, Frauen häufig einengender Rollenbilder ist diese revolutionäre Kraft nicht nur in der Zeit der Offenbarung zu suchen, sondern gilt auch für heute. Eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen lohnt sich dabei dennoch, denn die Geschichte der Niedersendung dieses Verses ist für die Interpretation bedeutend. Der tafsir, die Exegese des Korans, greift gerne auf die Umstände der Offenbarung zurück. Als asbab an-nuzul liegt hier eine wichtige Methode der islamischen Gelehrten vor.
Bei Tabari findet sich die aufschlussreiche Erzählung, wie Umm Salamah, eine Gattin des Propheten, diesen fragte: „Weshalb werden die Männer im Koran angesprochen und warum wir nicht?“ Auf eine Antwort musste sie ein wenig warten, doch dann kam sie in der stärksten vorstellbaren Form, nämlich als göttliche Offenbarung. Umm Salamah hörte begeistert zu, als der Prophet den Vers von der Kanzel der Moschee verkündete. Damit war klargestellt, dass Männer und Frauen als Menschen und Geschöpfe Gottes die gleichen religiösen Aufgaben teilen und sich dabei der gleichen charakterlichen Stärken bedienen sollen. Beiden wird dabei der gleiche Lohn, das gleiche Heil, verheißen.
Dieser prinzipielle Zugang soll nicht überdeckt werden, indem bei der Fragestellung nach der religiösen Praxis Erleichterungen für die Frau, die ihr wegen gewisser körperlicher Besonderheiten (Menstruation, Schwangerschaft, Geburt) zustehen, als große Unterschiede präsentiert werden. Zahlreiche „Handbücher der muslimischen Frau“ mögen zwar nützliche Informationen zu frauenspezifischen Themen und speziell zur religiösen Praxis (Fasten, Gebet) während der genannten Phasen bieten. Sie suggerieren aber auch, dass Frauen prinzipiell anders in ihrem Muslimisch-Sein als Männer seien. Damit propagieren sie indirekt auch ein Konzept der Geschlechtertrennung, wie es muslimische Kulturen mehr oder weniger stark entwickelt haben. Diese Art Bücher hat eine lange Tradition in der muslimischen Welt und geht zurück bis auf Ibn Al Djauzis „Buch der Weisungen für Frauen“ aus dem 12. Jahrhundert, das durch seine Rezeptionsgeschichte bis heute einen starken Einfluss hat und von salafitischen Kreisen gerne weiterverbreitet wird. Die Auswahl der als für Frauen besonders relevant angesehenen Informationen ist kritisch zu hinterfragen, wird doch damit auch eine Rollenzuschreibung verbunden. In der Selektion von Quellentexten aus Koran und Sunna verbirgt sich so durchaus auch die Sicht eines in einer patriarchalen Gesellschaft lebenden Mannes, der ein Interesse daran haben wird, die Rolle der Frau als fromme und ihrem Mann treu ergebene Hausfrau und Mutter seiner Kinder zu zeichnen.
Unterschiede, die als Erleichterung für Frauen zu sehen sind, bergen in sich die Gefahr, aus männlicher Sicht so umgedeutet zu werden, dass sie für Frauen in Restriktionen enden. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist die Präsenz von Frauen in der Moschee. Anders als in den Anfangszeiten, als Frauen im gleichen Raum wie die Männer ohne jegliche Barriere zwischen den beiden Geschlechtern beteten und Anteil am Gemeindeleben hatten, ging ihre Präsenz später verloren. Anders als Männer sind Frauen nicht verpflichtet am Freitagsgebet teilzunehmen. Dies gilt als Erleichterung, die ihnen entgegenkommen soll, wenn sie etwa kleine Kinder haben. Diese Erleichterung wurde aber offensichtlich schnell dahingehend verdreht, dass eine Frau gar nicht in die Moschee kommen solle. Wenn man das zuvor erwähnte Buch von Ibn Al Djauzi in seiner Zusammenstellung von Aussagen betrachtet, die davon sprechen, der beste Ort für eine Frau sei ihr Haus, so wird klar, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte. Immer mehr wurden Frauen als potentielle „Unruhestifterinnen“ wegen der von ihnen möglicherweise ausgehenden Anziehung gesehen, die daher besser zu Hause bleiben sollten. Schon im vorausgehenden Kapitel wurde behandelt, wie wichtig es ist, die Idee von der „verführerischen Versucherin“ (Rippenhadith) zurückzuweisen. Schon darin liegt eine Wurzel für Konzepte strikter Geschlechtertrennung, die bei einer anderen Interpretation nie ihre angebliche religiöse Grundlage gefunden hätte. Bei Ibn Al Djauzi werden eine Vielzahl von Hadithen zitiert, die in diese Richtung gehen, etwa: „Die beste Moschee für Frauen ist der Boden ihrer Häuser.“27 Dagegen ist ein Hadith, der ausdrücklich den Moscheebesuch nahelegt, gar nicht enthalten: „Hindert die Dienerin Allahs nicht am Gang zur Moschee Allahs.“28 Von Umar, einem der engsten Prophetengefährten und späteren zweiten Kalif, ist überliefert, dass er in Streit mit seinem Sohn geriet, weil dieser den Frauen seines Hauses den Moscheebesuch untersagte. Er war darüber so ungehalten, dass er den Sohn gar nicht mehr treffen wollte.
Heute haben sich die Frauen die Moschee als Raum wieder ein Stück zurückgewonnen. In Österreich werden die Räumlichkeiten gerne auch außerhalb der Gebetszeiten von Frauen genutzt, die sich etwa für Deutschkurse treffen. Auch Koranlesegruppen von Frauen sind beliebt. Je nach Örtlichkeit sind Frauen auch beim Freitagsgebet mehr oder weniger vertreten. In den engen Hinterhofmoscheen ist oft so wenig Platz, dass es für die Frauen unter diesen Umständen schnell heißt, dass sie ja nicht verpflichtet seien und daher den Männern den Vortritt lassen sollten. Größere Moscheen berücksichtigen beim Bau beziehungsweise der Adaptierung von vornherein, dass es ansprechende Frauenbereiche gibt, oft als Empore. International hat sich in den letzten Jahren ein Trend entwickelt, dass Frauen auch für die speziellen Gebete im Ramadan nach dem Nachtgebet die Moschee aufsuchen.
Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach Unterschieden in der religiösen Praxis zwischen Mann und Frau auch für die innermuslimische Debatte um Geschlechtergerechtigkeit von Bedeutung. So wie sich in der Frage der Präsenz in der Moschee vieles zum Besseren wendet, so gilt es auch in anderen Bereichen dafür aufmerksam zu sein, dass Erleichterungen selbstverständlich bestehen, aber nicht in bevormundende Beschränkungen umgemünzt werden dürfen. Diese müssen erkannt und abgebaut werden.