Читать книгу Muslimin sein - Carla Amina Baghajati - Страница 9
Historischer Hintergrund
ОглавлениеFür die Koranexegese gibt es mit der Praxis des asbab an-nuzul seit Jahrhunderten eine Methode, die Begleitumstände der jeweiligen Offenbarung oder deren Anlass genau zu analysieren und so Aufschlüsse für das Verständnis zu gewinnen. Die Sunna dagegen bildet ein noch wenig bearbeitetes Feld der Überprüfung von historischen Begleitumständen. Zwar gibt es mit dem asbab al wurud (Anlass des Hadith) eine dem asbab an-nuzul (Offenbarungsanlass) vergleichbare Methode zur Untersuchung, die sich aber schwächer entwickelt hat. Interessant ist zum Beispiel die Erforschung, wann und in welchem Zusammenhang sich Personen aus dem Umfeld des Propheten an eine vorbildhafte Begebenheit erinnert haben, und nicht nur der Kontext, in dem diese stattfand.
Methodisch hat sich sehr rasch eine für die damalige Zeit sehr ausgereifte Wissenschaft zur Überprüfung entwickelt, ob ein Bericht als authentisch in eine Hadithsammlung aufgenommen werden könne. In deren Zentrum steht vor allem die Kontrolle der Überlieferungskette (isnad). Hadithe, also die vielen einzelnen Überlieferungen der Sunna, wurden klassifiziert in verschiedene Kategorien (stark, schwach etc.), die anzeigen, wie relevant ein Hadith zu nehmen ist, je nachdem, wie viele Überlieferer unabhängig voneinander das Gleiche gesagt haben und wie verlässlich deren Charakter und Persönlichkeit eingestuft werden. Die Konzentration auf die Überliefererkette bei der Einordnung eines Hadith sollte ein möglichst neutrales Kriterium zur Bewertung der Hadithe an die Hand geben. Hier schien man Subjektivität eher ausschließen zu können als bei einer Untersuchung des Inhalts eines Hadith.
Denn es entwickelte sich eine Scheu, den Inhalt eines Hadith in Frage zu stellen. Wenn dieser sorgfältig von Überlieferer zu Überlieferer bis auf den Propheten zurückverfolgt werden kann – wie könnte man sich anmaßen, damit vielleicht an einer Aussage des Propheten zu zweifeln? Diese Skrupel bewogen viele Gelehrte im Fall, dass der Inhalt (matn) „eigenartig“ wirkt, dazu, diese Eigenartigkeit im eigenen mangelnden Verständnis zu suchen. Entsprechend wurde an Interpretationen getüftelt, die den Hadith doch im Rahmen des allgemeinen muslimischen Religionsverständnisses einbetten sollten. Schon früh gab es aber auch Stimmen, die ein Hadith, das sich inhaltlich im Widerspruch zum Koran befindet, dann als Beleg für die Beantwortung einer religiösen Frage ausschließen.
Jonathan Brown zeigt diese zwei Ansätze in der Geschichte islamischer Gelehrtentätigkeit auf und schält dabei besonders heraus, dass es sehr wohl auch eine am matn ansetzende Hadithkritik unter namhaften Gelehrten gab, die sich aber gegenüber der vorsichtigen, einzig am isnad orientierten Richtung nicht wirklich durchsetzen konnte.6 Der ägyptische Gelehrte Muhammad Al Ghazali (gest. 1996) belebte diesen Ansatz, den Inhalt (matn) zu analysieren, in seinem viel diskutierten Buch „al-Sunna al-nabawiya bayn ahl al-fiqh wa ahl al-hadith“ (Die Sunna des Propheten zwischen Leuten des Rechts und Leuten des Hadith). Der arabische Titel verrät besonders gut, dass es dem Autor auch um die Schaffung eines Gegengewichts zu der literalistischen Hadithauslegung der ultraorthodoxen Wahabiten beziehungsweise Salafiten (ahl al hadith) ging. Sie würden den Inhalt eines Hadith nicht in Frage stellen und zudem möglichst buchstabengetreu bei der Auslegung vorgehen. Muhammad Al Ghazali stellt die Frage: „Was ist der Wert eines gesicherten isnad bei einem schwachen Text?“7 Als starken Beleg für die Vorgangsweise, einen Hadith abzulehnen, wenn er sich im Widerspruch mit dem Koran befindet, nennt er die Gattin des Propheten Aisha. Sie regte sich auf, als ihr ein Hadith vorgetragen wurde, demzufolge eine verstorbene Person dafür bestraft würde, wenn die Hinterbliebenen um sie weinen. Sie zitierte den Koranvers: „Keine Seele trägt die Last einer anderen.“8 Der Widerspruch zum Koran ließ sie den Hadith zurückweisen. Al Ghazali merkt kritisch an, dass der Hadith trotzdem noch immer in manchen Sammlungen zu finden sei.
Die Kernaussage eines Hadith ist jedoch herauszuschälen und zu trennen von mitgelieferten Begleitumständen. Der Prophet bewegte sich schließlich in einem historischen Kontext, der von vielen vorislamischen Sitten und Gebräuchen bestimmt war. Die Sunna ist so auch eine ergiebige Quelle für die Erforschung des damaligen Zeithintergrunds. Neben der eigentlichen Aussage des Propheten oder seiner Handlung wird er mitüberliefert. Hier gilt es darauf zu achten, dass nicht Gepflogenheiten, die in einem Hadith vielleicht eher beiläufig als Rahmen der Erzählung überliefert wurden, zum noch heute gültigen Maßstab erhoben werden. Dies kann vor allem dann leicht geschehen, wenn eine schwärmerische Sehnsucht nach einer Wiederbelebung der Zeit besteht, in der der Prophet lebte.
Hadithe wurden gefälscht und es gibt eine schon früh einsetzende eigene Forschung, um diese zu entlarven, damit sie nicht für die theologische Auslegung verwendet werden. Auch hier bedient man sich einer historischen Überprüfung, wenn etwa in einer angeblichen Überlieferung Personen auftauchen, die zum behaupteten Zeitpunkt noch gar nicht geboren waren. Mit Fälschungen wurde immer wieder eine gewisse Absicht verfolgt, die theologische Auslegung im eigenen Interesse in diese oder jene Richtung zu lenken. Anders als beim Koran, der als Textkorpus unbestritten ist, hat sich rund um den Hadith eine umfangreiche Forschung entwickelt, um die Berichte Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten zu sammeln und zu klassifizieren. Zu Lebzeiten hatte der Prophet immer Wert darauf gelegt, dass keine schriftlichen Aufzeichnungen über seine Aussagen gemacht werden, um eine Verwechslung zwischen Koran und Hadith auszuschließen. Viele Muslime sehen die heute berühmtesten Sammlungen, etwa von Bukhari oder Muslim, aber als fast ebenso gesichert an wie den Koran. Auch das macht es nicht einfach, kritisch mit einzelnen Hadithen umzugehen.