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Nachdem er sich in der Dämmerung des nächsten Morgens so viel aus dem Keller des Mönchs eingesteckt hatte, dass er gerade mal einen Tag lang etwas zu essen hatte, machte Johannes sich auf den Weg, den Bruder Anselm vielleicht auch genommen hatte: bergauf. Es war eine Möglichkeit, nach Graz zu gelangen, von wo aus der Mönch vor Jahren ins Tälchen gezogen war. Vielleicht war er in sein Kloster zurückgekehrt, und würde dem Jungen einen Weg aus seiner aussichtslosen Lage zeigen oder ihm anderweitig helfen. Nach Admont gehen wollte er nicht, da er sich vor den Folgen fürchtete, wenn man dort erfuhr, was mit der Mühle geschehen war. Das Schicksal der Menschen war für den Stift uninteressant, waren es doch einfach nur Protestanten gewesen.

Auf der Höhe war bereits der erste Schnee gefallen. Johannes’ Bekleidung und Schuhwerk waren für eine Flucht auf diesem Weg völlig ungeeignet. Zwar schwitzte er vor Anstrengung, aber da sich seine Finger und Zehen bereits nach kurzer Zeit wie erfroren anfühlten, kam er nur mühsam vorwärts.

Die Schläge der Holzfäller hörte er schon von Weitem. In der Passe im oberen Waldbereich des Baches hatte sein Vater jahrelang gearbeitet, und er selber hatte den Männern auch ein paar Monate lang geholfen. Als er schließlich bei ihnen auftauchte, hielten sie in ihrer Arbeit inne und schauten ihm beunruhigt entgegen.

Johannes ließ sich erschöpft auf einem der frisch gefällten Baumstämme nieder und erzählte seine Geschichte, während ihm jemand einen Becher mit heißem Wasser reichte.

Keiner der Männer unterbrach ihn, keiner sagte ein Wort. Alle hörten ihm nur entsetzt zu.

„Wir haben hier oben nichts davon gemerkt. Die sind auch nicht bei uns durchgekommen. Vielleicht sind sie dem Geseis entlang nach Hieflau gezogen oder über die Berge nach Süden. Nach Graz.“ Der Vorarbeiter legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. „Es tut uns leid, was deiner Familie zugestoßen ist.“

„Das muss doch ziemlich laut geknallt haben, als das Mehl explodiert ist“, überlegte ein anderer. „Aber bis hierher war nichts zu hören. Oder wir haben nicht darauf geachtet.“

„Ich hab schon was gehört“, meinte einer. „Hab mir auch überlegt, was das gewesen sein könnte. Aber weil ich mir nicht denken konnte, was es war, hab ich es wieder vergessen.“ Er schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Manchmal ist es gut, nicht zu viel zu wissen.“

„Wer hat das gemacht?“, fragte ein weiterer aus der Gruppe. Johannes konnte nur die Schultern heben.

„Ich weiß es nicht.“

„Ich habe schon davon gehört, dass hin und wieder ein paar Söldner aus den bairischen Heeren durch die Seitentäler ziehen, und kleine Bauernhöfe überfallen. Aber dass sie es so schlimm treiben, also davon hab ich bislang noch nichts gehört“, sagte ein anderer. „Und gerade hier, wo die Leute sowieso nichts haben.“

„Wo willst du jetzt hin?“, fragte ihn der Vorarbeiter und reichte ihm ein Stück Brot und Käse. Johannes nahm es dankbar an. Er hatte seine Vorräte bis auf einen kleinen Rest bereits aufgegessen. Die Flucht über das unwegsame Gebirge hatte seine Kräfte beinahe aufgezehrt.

„Ursprünglich wollte ich nach Graz, Bruder Anselm suchen“, begann Johannes zögernd.

„Nach Graz“, echote einer der Männer und schüttelte den Kopf. „In die Stadt! Das ist doch nichts für einen von uns!“

„Es gibt sonst niemanden, zu dem ich gehen könnte.“

Die Männer verstanden. Sie selber waren nicht in der Lage, den Sohn eines ihrer ehemaligen Kameraden für längere Zeit in ihren Familien aufzunehmen. Dazu waren sie viel zu arm.

„Kannst zuerst einmal hierbleiben, wenn du magst“, befand der Vorarbeiter und die übrigen stimmten ihm zu. Er zeigte ein Stück in den Wald, wo Johannes die notdürftig errichteten Hütten der Arbeiter wusste. „Such dir eine aus und leg dich ein wenig aufs Ohr. Wir halten Augen und Ohren offen für den Fall, dass die Dreckskerle sich in unseren Holzschlag wagen.“

„Danke.“

Der Junge blieb eine Woche lang bei den Männern und half ihnen bei ihrer schweren Arbeit, so gut er konnte. Er war dankbar, während seines Marsches über die Gebirgskette nicht krank geworden zu sein. Immerhin hatte es geschneit, und sein Schuhwerk war bereits nach kurzer Zeit völlig unbrauchbar geworden. Beinahe barfuß hatte er den steinigen, verschneiten Weg bewältigt. Selbst seine Socken waren inzwischen nicht mehr zu gebrauchen. Einer der Männer flickte notdürftig seine Schuhe, ein anderer gab ihm zwei Socken, die nicht zusammenpassten. Jemand hatte auch ein dickes Wams und warme Beinkleider für ihn aufgetrieben, damit er für die kalte Jahreszeit zumindest ein wenig geschützt war.

Als eine Gruppe der Männer nach Hieflau zu den Köhlereien aufbrach, begleitete er sie. Seinen Plan, nach Graz zu ziehen und Bruder Anselm zu suchen, hatte er nach langen Gesprächen mit den Holzfällern und aus gutem Grund aufgegeben.

Blieb noch Linz. Wenn er sich recht besann, lebten dort eine entfernte Verwandte und ein guter Freund von Bruder Anselm, dessen Arbeit er während seiner Zeit mit dem Einsiedler zu schätzen gelernt hatte: Johannes Kepler, sein Namenspate.

Die Männer ließen ihn nur ungern ziehen, ahnten sie doch, dass ihm kein leichtes Leben bevorstand.

In Hieflau konnte er durch Fürsprache der Holzhauer kurzfristig Arbeit an einem der Rechen finden, an denen das Holz angeschwemmt wurde, welches man flussaufwärts in die Fluten hatte gleiten lassen. Es wurde zur Verhüttung des Erzes gebraucht, das man seit Menschengedenken ein Stück weiter Richtung Süden aus einem riesigen Eisenerzberg schlug.

Johannes hatte immer wieder nach den Kerlen gefragt, die sein Elternhaus und die Mühle zerstört und seine Eltern umgebracht hatten. Aber niemand hatte etwas von ihnen gesehen oder gehört.

„Die werden flussaufwärts gezogen sein“, mutmaßte einer der Köhler, der sich am Abend im Wirtshaus neben ihn gesetzt hatte. „Wenn die vor Admont die Enns überquert haben und Richtung Sankt Gallen weitergezogen sind, find’t man die ned so schnell. Warum fragst nach ihnen? Kannst doch nichts ausrichten bei denen.“

„Ich will meine Schwester wiederfinden“, erklärte Johannes leise.

„Deine Schwester?“

Johannes erzählte ihm, was geschehen war. Der Köhler hörte schweigend zu.

„Ich konnte sie in den Trümmern der Mühle nicht finden. Vielleicht haben die Mordbrenner sie mitgenommen.“

„Ja dann musst du in die andere Richtung ziehen“, schlug der Köhler vor. „Richtung Linz. Dort sind die Bairischen untergebracht. Vielleicht waren die das ja und haben sie mit in ihr Quartier genommen. Hier sind die jedenfalls ned durchgekommen.“

Linz. Für Johannes waren viele Märkte und Städte, die ihm inzwischen genannt worden waren, nur Namen. Er wusste weder, wo sie lagen, noch was er dort sollte. Nur eines wusste er: dass er Arbeit finden musste, eine Unterkunft, die Möglichkeit, mehr über die Bande zu erfahren, die seinen Eltern und die Nachbarn das Leben gekostet hatte. Und vor allem: Elisabeth wiederfinden. Oder zumindest von ihr zu hören.

„Ist Linz sehr weit von hier entfernt?“, fragte er unsicher.

Der Köhler lachte.

„Du kennst dich ned aus in unserem Land“, stellte er fest. „Wenn du von hier aus weiter flussabwärts gehst, kommst nach vier Tagmärschen über Enns nach Linz.“

„Enns?“

„Das ist der Ort, an dem unser Fluss in den nächsten mündet. Donau heißt der. Du siehst den Turm und das Schloss von Enns schon von Weitem.“ Er trank einen Schluck aus seinem Becher und rülpste. „Sind inzwischen fast gänzlich katholisch, die beiden Städte Enns und Linz. Die Lutherischen haben dort bislang trotzdem nichts zu befürchten.“ Er machte eine nachdenkliche Pause. „Noch nicht. Der Herberstorff haust in Linz, vergiss das nicht – und der ist unberechenbar. Aber er hält seine Mannen einigermaßen im Zaum. So übel ist der nicht.“

Daran zweifelte Johannes allerdings aus gutem Grund.

Der Köhler holte ein Rotztuch aus dem Hosensack und schnäuzte sich ausgiebig. „Bist ein Protestantischer, oder?“

Johannes zuckte die Schultern.

„Kannst es ruhig sagen. Hier drin interessiert das keinen. Ich weiß ned, ob du von den Bergknappen in Eisenerz gehört hast?“

Johannes erinnerte sich daran, dass der Vater von den Männern erzählt hatte, wusste aber nicht mehr so genau, worum es dabei gegangen war.

„Die haben vor Jahr und Tag versucht, der katholischen Obrigkeit die Stirn zu bieten und protestantisch zu bleiben. War ein übler Aufstand, und die Kaiserlichen sind unverrichteter Dinge wieder abgezogen.“ Er lachte leise in sich hinein. Dann aber wurde er sehr ernst. „Die Saukerle kamen aber wieder, und dieses Mal haben die Knappen aufgeben müssen.“

Johannes wartete, ob der Köhler noch etwas sagen würde. Als dieser aber schweigend vor sich hinsah, wagte er eine leise Frage:

„Bist du ein Katholischer?“

Der Köhler schaute ihn lange an.

„Nach außen hin.“

„Und das damals, waren das Kaiserliche oder Bairische?“, wollte Johannes wissen.

„Kaiserliche, Bairische!“ Der Köhler zog die Mundwinkel nach unten. „Das ist einerlei. Es sind Leute, die sich für solche Plünderungszüge zusammengerottet haben. Die machen, was sie wollen, und niemand tut was dagegen.“ Er schaute sich kurz um, als wolle er sicher sein, dass ihm niemand zuhörte. „Weil denen …“ Ein Fingerzeig nach oben. „Weil denen ganz recht ist, wenn die Leut’ hier Angst kriegen.“ Er schnäuzte sich erneut. „Wobei die Bairischen seit jeher schlimmer sind als die Kaiserlichen“, fuhr er fort. „Vor Jahren hat unser damaliger Kaiser ein Heer vom Bischof in Passau angefordert, das sich auf dem Weg entlang der Donau nicht sehr beeilt hat. Erst nach deutlichen Ermahnungen sind sie schließlich in Wien angekommen. Bis dahin haben sie viel Unglück über die Leut’ gebracht. Die waren schlimmer als die schlimmsten Höllenhunde.“ Er warf Johannes einen schrägen Blick zu. „Aber daran kannst du dich nicht erinnern, dafür bist du zu jung. Und die im Geseis und den Nebentälern sind ohnedies immer gut weggekommen, da hat es selten einen von denen hin verschlagen.“ Der Köhler hielt kurz inne und nahm einen Schluck aus seinem Krug. „Alle haben Angst vor den Bairischen“, fuhr er fort. „Und das ist so gewollt, glaub’ mir. Wenn die Leut’ Angst haben, lassen sie sich leichter bekehren, das weiß nicht nur unser Kaiser. Die ganz Halsstarrigen packen halt irgendwann ihr Sach’ zusammen und verlassen das Land.“

„Einfach so?“

„Nicht einfach so“, antwortete ihm der Köhler und trank seinen Krug leer. Dann erhob er sich und legte Johannes zum Abschied kurz die Hand auf die Schulter. „Wer Schulden hat, muss sie erst zurückzahlen. Das treibt viele in die bitterste Armut. Wer ohnehin unfrei ist …“ Er presste die Lippen zusammen. „Behüt’ dich Gott, Bub!“

Er wandte sich von Johannes ab und verließ die Gaststube, nachdem er beim Wirt seine Zeche bezahlt hatte.

Wer Schulden hatte …

Johannes hatte Schulden. Denn die wurden vom Vater auf den Sohn übertragen. Sie würden ihn irgendwann aufgreifen und zur Rechenschaft ziehen. Denen war egal, wie er das Geld auftreiben würde. Dass die Mühle zerstört und ihm damit alle Möglichkeiten genommen waren, die Schulden jemals zurückzuzahlen, würde sie nicht davon abhalten, auf ihren Forderungen zu bestehen. Ganz abgesehen davon, dass sie ihm die Schuld an der Zerstörung der Mühle geben würden. Ihm, dem Sohn eines Protestanten.

Johannes konnte sich ausmalen, wie seine Zukunft aussah, wenn er die Tant’ in Linz nicht fand. Oder diesen Johannes Kepler.

Ein anderer setzte sich zu ihm an den Tisch.

„Ich hab gehört, was du dem Köhler erzählt hast“, sagte er. „Auf der anderen Seite der Enns ist eine Horde Bairischer Richtung Norden gezogen.“ Er senkte die Stimme und rückte mit dem Kopf nahe an Johannes’ Ohr. „Die haben mich mit ihrem Aufführen an die Passauer erinnert, die sich an unseren Bauern und Bürgern schändlich getan und so viel Leid über sie gebracht haben, damals. Aber keiner tut denen was, weil sie alle unter dem Schutz von unserem Kaiser und …“, er schaute sich um, ob ihn jemand hören konnte, „… und seinem Statthalter in Linz stehen. Der Herberstorff hält schützend die Hand über sie, weil sie ihm gerade recht kommen damit, wie sie den Leuten Angst machen. Der Herberstorff ist schuld an allem Übel, glaub mir. Der wird uns noch großen Kummer bereiten.“

„Der Herberstorff?“

Hatte der Köhler den nicht anders beschrieben?

„Ja, ein unangenehmer Bursche. Seitdem unser Kaiser das Land ob der Enns an die Baiern verpfändet hat, ist keiner vor ihm sicher.“ Er lachte heiser. „Dabei war er selber mal ein Evangelischer, der Hundsfott, der elende!“

Verwirrt schob Johannes den Mann ein Stück von sich weg. Kummer hatte er selber genug, da interessierte ihn nicht, was der berüchtigte Statthalter aus bairischen und kaiserlichen Gnaden den anderen bereitete. Er hatte andere Sorgen.

„War ein Mädchen dabei?“, fragte er. „Ich suche meine Schwester.“

„Bei den Bairischen? Ein Weibsbild war dabei, aber ob es deine Schwester war, weiß ich nicht.“

„Wie hat sie denn ausgesehen?“ Johannes gab ihm aufgeregt eine Beschreibung von Elisabeth.

„Wie ein Weibsbild halt“, gab der Köhler achselzuckend Bescheid. „So genau hab ich nicht hingeschaut. Wusste ja nicht, dass einer kommen und nach ihr fragen würd’.“

„Ist sie freiwillig mitgelaufen oder haben die Männer sie gezwungen, was meinst du?“

Vor Johannes tauchten die schrecklichsten Bilder auf. Wieder zuckte der Mann die Schultern.

„War halt ein Weibsbild.“

Johannes saß noch lange nachdenklich da, bevor er sich auf den Heimweg machte. Seufzend suchte er seine Schlafstatt neben dem Küchenherd einer der Köhlerfamilien auf, die ihm Quartier gegeben hatte.

*

Die Worte der Köhler hallten noch ein paar Tage in ihm nach. Auch Berichte anderer Arbeiter beschäftigten ihn, die von kleinerem Geplänkel bis hin zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken berichteten. Es schien, als zögen dabei mehr und mehr die Lutherischen und Calvinisten den Kürzeren. Von aufständischen Bauern und umherziehenden Baiern war immer wieder die Rede, die sich ungestraft an der Landbevölkerung austobten. Aber auch von katholischen Soldaten, übereifrigen Geistlichen und unbezähmbarem Gesindel erzählten sie, die alle dafür sorgten, dass der Wille Kaiser Ferdinands umgesetzt wurde. In diesen ganzen Wirren seine Schwester zu finden, erschien Johannes mehr und mehr unmöglich. Andererseits hatte die Aussage des zweiten Köhlers seine Hoffnung darauf bestärkt, sie am Leben zu wissen.

So beschloss er, so schnell es ging nach Linz zu ziehen, und machte sich in den ersten Tagen des anbrechenden Winters auf den Weg. Ein bisschen Geld hatte er für seine Arbeit bekommen und hoffte, dass es für die erste Zeit in der Stadt reichen würde. Insgeheim hoffte er außerdem, unterwegs mehr über die Männer zu erfahren, von denen der Köhler berichtet hatte. Aber außer ihm schien sie niemand wahrgenommen zu haben. Vielleicht hatte der Mann ihm auch etwas vorgemacht, um wichtig zu tun. Oder aber die anderen Leute waren so verschreckt, dass sie lieber nicht über das reden wollten, was sie gesehen hatten oder aus Erfahrung wussten. Denn manch einer erinnerte sich schon daran, einen Haufen Männer in bairischen Farben an der Enns entlangziehen gesehen zu haben. Aber niemand wusste Genaues. Und ob seine Schwester dabei war, konnte ihm auch keiner sagen.

Also blieb die Hoffnung, sie in Linz bei den Leuten um diesen Herberstorff zu finden.

Eine ziemlich vage Hoffnung, das war dem Jungen inzwischen klar geworden.

Das Awaren-Amulett

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