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Prolog

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Im Tal der Alcmona, anno domini 796

Die Silhouette des Mannes stand wie gemeißelt gegen das wabernde Weiß des aufziehenden Nebels, der langsam das Tal der Alcmona heraufkroch. Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, erschauerte Bertulf.

„Es ist Zeit zu gehen“, sagte eine weibliche Stimme leise.

Der Mann entspannte sich, griff nach der Hand auf seiner Schulter und drückte sie. Dann führte er die Frau hinunter in eine kleine Senke, in der einige seiner Getreuen auf sie warteten.

„Leb wohl, Ada. Unsere Wege trennen sich hier.“ Er küsste ihre Stirn. „Gott wird seine Hand über dich und unsere Mutter halten. Ihr seid zwei starke Frauen und werdet euren Weg auch ohne mich finden und gehen können.“

Als er in ihre fragend auf ihn gerichteten Augen sah, fügte er noch an: „Vor Karl seid ihr sicher. Er hat nicht nur Freunde.“

„Und was ist mit dir, mein Bruder?“

„Um mich ist mir nicht bang.“

„Wenn du zu deiner Liebsten gehst, grüße sie ganz herzlich von mir. Sie wäre mir sicherlich eine teure Freundin geworden, würden unsere Wege sich nicht nur für eine so kurze Zeit gekreuzt haben.“

Ada legte ein letztes Mal ihre Hände auf seine Schultern.

„Leb wohl, Bertulf. Gott beschütze dich.“

Sie wandte sich um und ließ sich von einem Begleiter auf das bereitstehende Pferd helfen. Dann gab sie das Zeichen zum Aufbruch, ohne sich noch einmal nach ihrem Bruder umzusehen. Zwei Männer ritten voraus, vier folgten der Prinzessin. Schon nach wenigen Hufschlägen wurden sie vom Nebel verschluckt.

Bertulf ließ sich erschöpft am Fuß einer Buche nieder, tief in Gedanken versunken.

Karl.

Sein Onkel.

Als Siebenjähriger zusammen mit seinem knapp drei Jahre jüngeren Bruder Karlaman von Papst Stephan II. in der Abtei Saint-Denis zum König des Fränkischen Reiches Gesalbter.

Mächtiger.

Großer.

Edler.

Heroischer.

Oder doch nur Brudermörder, Schlächter ganzer Völker, Sklave seiner Gier nach Macht und Ansehen?

Weiberheld und trotz seiner hohen Bildung nicht einmal des Lesens und Schreibens mächtig?

Das alles mochte im Auge des Betrachters liegen. Bertulf hatte seine eigene Meinung dazu, und die schmeichelte König Karl keinesfalls.

Der junge Mann konnte sich trotz seiner finsteren Gedanken eines Gefühls des Triumphes nicht erwehren. Vor wenigen Tagen hatte er Karls Männern einen Teil der Beute aus dem Schatz der Awaren abgenommen. Bertulf ahnte, nein, er hoffte, dass sein Onkel vor Wut darüber schäumen würde. Jede Unze Gold war vom König bereits verplant gewesen, sollte dem hohen Herrn nutzen, sein Ansehen weiter auszubauen. Ob ihm jetzt reichen würde, was übrig geblieben war, stand in den Sternen.

Aber nicht nur der Verlust des Goldes würde den König in Rage versetzen. Vielmehr würde er die Dreistigkeit eines einfachen Diebes nicht verkraften, der ihm zeigte, wie verwundbar, wie besiegbar er in Wirklichkeit war, was sich unter dem groß aufgezogenen Königsmantel verbarg: ein ganz gewöhnlicher Mensch.

Karl würde über kurz oder lang herausfinden, wer hinter dem klug eingefädelten Raubzug steckte. Er würde Bertulf nachstellen lassen, bis er die Schneide seines Schwertes eigenhändig über den Hals seines Neffen ziehen konnte, wie er es bereits vorgehabt hatte, als jener noch ein Säugling war. Dieses Risiko ging der Prinz bewusst ein. Denn spätestens dann würde die Welt erkennen, wer dieser König tatsächlich war: Nicht nur einfach ein Mensch, sondern ein skrupelloser, machtgieriger Mann.

Einer, der über Leichen ging. Sogar über die Leichen seines Bruders und dessen Nachkommen.

Schied Bertulfs Vater Karlaman am 4. Dezember 771 nicht durch Gift aus dem Leben, das ihm auf Geheiß seines Bruders in den Wein geträufelt worden war? Die Wassersucht soll er gehabt haben, wurde behauptet. War das nicht eine Krankheit, die bestenfalls Greise befiel? Karlaman zählte am Tag seines Todes noch nicht einmal einundzwanzig Lenze! Niemand hatte zuvor etwas von einer lebensbedrohlichen Krankheit bei ihm bemerkt, und er hatte auch über nichts dergleichen geklagt.

Bertulfs älterer Bruder Pippin hätte nach dem Tod seines Vaters über den südöstlichen Teil des Frankenlandes regieren sollen. Doch dazu kam es nicht, da sich König Karl noch während der Trauerfeierlichkeiten daran machte, über die Ländereien seines toten Bruders zu verfügen. Eine mögliche Änderung dieser Situation durch Karlaman Wohlgesonnene wusste Karl zu verhindern: Er nötigte Papst Hadrian wenig später, die Bitte seiner Schwägerin und des mit ihr befreundeten Königs Desiderius abzuschlagen, die Kinder seines Bruders zu Königen zu salben. Unter welchen Umständen dies geschah, mochten spätere Geschichtsschreiber deuten.

Bertulf konnte sich nur allzu gut an die aufgewühlte Reaktion seiner Mutter und des lombardischen Königs erinnern, zu dem sie geflüchtet waren – und an die hinter vorgehaltener Hand getuschelten Mutmaßungen, die König Karl Bestechung und Verrat unterstellten.

Dass Desiderius auf Karl nicht gut zu sprechen war und die fränkische Königin in seine Obhut nahm, mochte im Übrigen daran liegen, dass jener kommentarlos Desiderius’ Tochter an den väterlichen Hof zurückschickte. Karl hatte nach kurzer Ehezeit mit ihr beschlossen, sich eine andere Frau zu nehmen. Diese Entscheidung sollte in ein unbeschreibliches Desaster münden, an dessen Ende die Gefangennahme und lebenslange Inhaftierung des lombardischen Königs in einem fränkischen Kloster stand.

Bertulf fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als könne er dadurch die düsteren Gedanken vertreiben, die ihn seit seiner Kindheit verfolgten. Aber sie blieben hartnäckig, ließen sich nicht einfach wegwischen.

Er erinnerte sich daran, wie ihm einer der ehemaligen Getreuen seines Vaters berichtete, dass König Karl seinem Bruder am Totenbett nur einen kurzen Blick geschenkt, dessen junger Witwe nicht einmal die Hand zum Trost gereicht habe. Da sei etwas in den Augen Karls gewesen, das dem Mann Angst einflößte. Todesangst.

Wenn die Nachkommen seines Bruders ihre Erbschaft bereits jetzt anträten, ließ Karl demzufolge die erstaunte Trauergemeinde wissen, würden sich andere, unfähige Leute um die Regierungsgeschäfte kümmern, bis die Kinder erwachsen waren. Man wisse ja, dass solcherlei noch nie gutgetan habe.

So jedenfalls berichtete jener alte Mann, was er beobachtet hatte, und Bertulf sah keinen Grund, weshalb er daran zweifeln sollte.

Mit ‚andere‘ meinte Karl vermutlich seine Schwägerin, die junge Witwe Gerberga, Bertulfs Mutter. Der Onkel schien Angst davor gehabt zu haben, dass der Brudermord aufgedeckt würde, wenn Gerberga als Verwalterin der Rechte ihrer Kinder die Möglichkeit dazu gehabt hätte.

Gerberga floh aus gutem Grund wenige Tage nach der Beisetzung Karlamans zusammen mit ihm, dem wenige Wochen alten Säugling, seiner Schwester Ada und seinem älteren Bruder Pippin zu König Desiderius, der ihnen helfend die Hand entgegenstreckte.

Karl wollte die Welt beherrschen, und dazu war ihm jedes Mittel recht. Da war die Sippe des toten Bruders nur im Weg, den es zu ebnen galt. Koste es, was es wolle.

Bertulfs Schwester Ada wurde seit ihrer Kindheit immer wieder von demselben Traum gequält, in dem sie die Worte ihres sterbenden Vaters hörte: „Ada, mein Kind, der Tod wurde mir in einem goldenen Becher gereicht.“

Sie konnte später nur ahnen, was damit gemeint war.

Ada.

Ada war wie ihre beiden Brüder überzeugt davon, den Tod des Vaters eines Tages sühnen zu müssen. Auf ihre Weise.

Jetzt hatten sie ihren lang gehegten Plan endlich umsetzen können. Ein Plan, der nicht nur den Raub des awarischen Goldes einschloss, sondern hinter dem noch etwas weitaus Größeres stand. Etwas, das König Karl nicht einmal ansatzweise wissen konnte.

Pippin.

Pippin lag seit einigen Wochen in einem Spital in der Nähe von Rom. Er hatte sich eine üble Verletzung zugezogen, die er dort auskurieren wollte.

Bertulf würde nie wieder von ihm und den beiden Frauen hören.

Er schob seine finsteren Gedanken beiseite. Es galt, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, nach vorne zu schauen.

Ada würde von seinen Getreuen zu Abt Adalbrand gebracht werden, in dessen Obhut sie und ihre Mutter vor möglichen Nachstellungen des Königs sicher waren.

Karl lebte ohnehin in Glauben und Hoffnung, dass die Familie seines Bruders seit der Einnahme Veronas vor mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr am Leben war.

Aber Karl hatte fürwahr nicht nur Freunde.

Der Prinz würde das für seine Zwecke zu nutzen wissen.

Bertulf richtete sich müde auf und warf einen letzten Blick auf das Kleinod in seiner Hand. Es war das einzige Stück aus dem vergrabenen Schatz, das er zurückbehalten hatte.

Er drückte seine Lippen auf die geheimnisvollen Schriftzeichen, fuhr mit den Fingerspitzen die Konturen des magischen Tieres auf der Vorderseite nach. Er wollte das wundervoll gearbeitete Amulett als Zeichen seiner aufrichtigen Liebe in die Hand der Frau zurücklegen, deren Volk König Karl beinahe ausgelöscht hatte. Mit ihr zusammen und den versprengten Resten dieses Volkes würde er ein Heer aufstellen und gegen den Onkel ziehen. Der sollte dieses Volk nicht umsonst zerschlagen haben wie die anderen Völker, die nur noch in Ausnahmefällen wagten, sich gegen ihn zu erheben. Die Männer, die um die geliebte Fürstentochter noch übrig geblieben waren, würden weitere Verbündete finden und mit ihm zusammen den Mann in die Knie zwingen, der sie in ein gemeinsames Schicksal gedrängt hatte, indem er versuchte, sie mitsamt ihren Familien auszurotten. Mit dem Gold, das Karl den Awaren geraubt hatte, und das er, Bertulf, ihnen eines Tages wieder zurückgab, würde er seine Mitstreiter reichlich belohnen.

Jetzt galt es, die Frau seines Herzens aufzusuchen, die sich mit ihrem kleinen Gefolge in einem Nebental jenes Flusses versteckt hielt, der Enisa genannt wurde. Bislang war er die anerkannte Grenze zu Baiern gewesen. Aber dieses Land war inzwischen, wie so viele andere, in fränkische, in Karls Hände geraten.

Eines Tages würde er zurückkehren und den Schatz heben.

Er würde zusammen mit der awarischen Fürstentochter Grundlage sein für eine neue Welt.

Eine, in der Männer wie Karl keinen Platz hatten.

Es sollte alles ganz anders kommen.

Das Awaren-Amulett

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