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Cork, Irland

Die Mc Cabs fuhren mit ihrem alten Volvo stadtauswärts. Mary saß vorne neben Jay Pop. Ihr Schwiegervater hatte selten Gelegenheit zum Fahren und hatte sich gleich händereibend hinter das Steuer gedrängt. Ryan saß hinten. Er war geduldiger mit ihrem fünfjährigen Sohn, der vermutlich nach kurzer Zeit anfangen würde zu quengeln. Dann erzählte Ryan Endlosgeschichten, an denen auch die Erwachsenen ihr Vergnügen hatten und in die sie sich ausschmückend einmischten. Im Moment aber schlief der kleine Liam.

Jay Pop hatte Geburtstag, sein zweiundfünfzigster, und weil er kaum noch aus seinem Laden herauskam und oft davon sprach, dass er gerne mal wieder in den Süden runter wolle, hatten Mary und Ryan ihm diese Reise geschenkt. Und um ihn zu trösten, ihm zu demonstrieren, das Leben hat noch andere Seiten zu bieten, als tagaus, tagein in einem Laden zu sitzen, der nichts mehr abwarf, der nur rote Zahlen schrieb. Der Laden gehörte jetzt der Bank und Ende des Monats mussten sie ihn räumen. Auch sie hingen an dem Laden und ein anderes Leben war kaum vorstellbar. Gleichzeitig lockten Veränderungen, zumindest wenn man so jung wie sie war.

Mary erinnerte sich, wie sie das erste mal vor dem Glaspalast, wie sie den Laden nannten, stand. Sie war gerade in eine Studentenbude ein paar Straßen weiter gezogen. Es war im Winter, Schnee lag auf den Straßen. Sie kam mit dem Fahrrad von der Uni. Sie bremste so plötzlich, dass ihr Rad ins Schlingern geriet und sie fast gestürzt wäre.

Aus dem Schaufenster leuchtete ihr ein bunter Traum, ein glitzerndes Versprechen entgegen. In der Mitte des Fensters hing eine Tafel. Ein weihnachtlich, biblisches Motiv, aus feinstem Glas gefertigt. Da hingen Sterne und Monde, Perlenschnüre und standen Engelkerzenhalter aus buntem Glas, kitschig und wunderschön. Tiffanyimitate neben modernem Design. Eine stilisierte Tanne aus durchscheinend grünen Glasplättchen war so raffiniert beleuchtet, als würden Kerzen eine weihnachtliche Stimmung zaubern. Die Beleuchtung selbst war ein Kunstwerk. Man sah keine Strahler, keine Lampen. Geschickt von oben und der Seite ausgeleuchtet, war das Fenster ein perfekt gestaltetes Bühnenbild.

Vielleicht werden Erwachsene zur Weihnachtszeit ein bisschen rührselig und bunte Kinderträume und Erinnerungen rücken wieder näher. Mary fühlte sich in Zeiten zurückversetzt, in denen man sich noch verzaubern ließ. Sie betrat den Laden und kaufte einen kleinen Kerzenleuchter. Und weil sie fast täglich am Laden vorbei kam, wurde sie zur Stammkunden mit kleinem Budget. Als Ryan sie herumführte, war sie schon längst verliebt.

Das Haus war ein schmales Reihenhaus, so wie sie schon immer in diesem Stadtteil gestanden hatten. Hinter dem Laden lag eine Werkstatt, in dem Jay Pop seine Kunstwerke fertigte und ihn jetzt Ryan immer mehr ablöste. Die Küche daneben hatte ein Glastür, die in einen winzigen, vernachlässigten Garten führte. In der oberen Etage wohnten die beiden Männer. Eine Frau gab es nicht, bis ihr Ryan einen handgroßen, blauen Engel schenkte, bis sie mit Liam schwanger war und einzog.

Nun waren sie auf dem Weg nach Glangariff , auf der Halbinsel Beara. Man hat dort, behauptet man, das beste Klima Irlands. Sie waren um sechs Uhr aufgebrochen. Der Himmel lag wie ein schweres graues Tuch über der Stadt und es regnete ununterbrochen. Sie hofften, dass es im Süden besser würde.

Jay Pop ließ sich über das Wetter aus und zitierte ein irisches Sprichwort: „Four seasens on a monday.“ „Es ist doch durchaus ein Vorteil, dass wir hier so viel Regen haben. Das hält den Massentourismus fern. Hätten wir ein Klima wie in Spanien, wäre die Küste von Kerry mit Betonburgen zugeklotzt und wenn man über Land führe, würde man anstatt auf bescheidene, weißgetünchte Bauernhäuser auf pseudospanische Haciendas stoßen. Wer trotz des Wetters Irland bereist, muss ein wirkliches Interesse an unserem Land haben.“ sagte er.

„Und warum fahren wir dann runter nach Glangariff, anstatt hier den Regen zu genießen? Wenn mich nicht alles täuscht, war der Grund dein ewiges Gerede von dem wunderbaren Klima im Süden.“ Ryan frohlockte und Mary hoffte, dass die Männer nicht zu streiten anfangen würden. Streitereien, die zwar gutmütig waren, aber oft hitzig eskalierten und sich endlos ausdehnen konnten.

Jay Pop schaltete das Radio an. „...in der letzten Woche haben die Auswanderungsanträge die Rekordzahl von über achttausend erreicht. Jetzt sind es nicht nur junge, gut ausgebildete Menschen, die ihr Glück auf dem Kontinent suchen, jetzt packen ganze Familien ihr Hab und Gut... „

„Nicht jetzt.“ sagte Mary und schaltete das Radio wieder aus. Sie befürchtete, dass die Nachrichten den Männern wieder Stoff für endlose Debatten liefern würden. In den letzten Wochen sind diese hitziger geworden und oft laut eskaliert. Denn auch Ryan und sie überlegten ernsthaft, das Land zu verlassen. Es galt nur noch und das war die schwerste Hürde, Jay Pop zu überzeugen. Und der sträubte sich vehement. Ignorierte, dass der Kampf längst verloren war, hatte selbst keine Pläne und hielt sich mit Phrasen aufrecht. Phrasen wie: - die Iren haben noch jede Krise bewältigt. – sollen sie doch abhauen, die Ratten. Dadurch wird es nur leichter, das Schiff durch das Unwetter zu steuern.- Als verstünde er etwas von der Seefahrt.

Natürlich tat er Mary leid. Er war ein alternder Mann, der wenige Veränderungen in seinem Leben erleben musste und jetzt auch keinen Wunsch mehr nach Neuanfängen verspürte. Und er hatte im letzten Jahr zu viele Schläge einstecken müssen. Auch wenn schon in den letzten Jahren die Wirtschaftskrise immer offener ihre Fratze zeigte, bisher hatten sie sich mit dem Laden über Wasser halten können. Bis in der Nähe ein Einkaufstempel seine Glastore öffnete und mit Billigpreisen lockte. Eine Kette, deren Logo in allen Einkaufspassagen der europäischen Städte zu sehen war. Diese Entwicklung war der Ruin für die kleinen Läden in Dublin. Bis dahin wegen ihres nostalgischen Charmes und als Touristenfang gehätschelt und gehuldigt, wurden die Innenstädte plötzlich freigegeben für die großen Raubritter der Wirtschaft. Auch anderen kleinen Läden und Handwerksbetrieben ging es ähnlich wie ihnen. Rechnungen konnten nicht mehr bezahlt werden, der Großhandel stellte seine Lieferungen ein und die Banken gaben erstaunlich freigiebig Kredite, um die kurzfristigen Engpässe zu überbrücken. Die Engpässe waren Tunnel, an deren Ende die Banken und Investoren lauerten. Meistens dauerte es nicht einmal ein Jahr, dann wechselte der Laden, das Haus, die Werkstatt den Besitzer.

Jay Pops Hausbank verhielt sich noch großzügig. Nach Abzug aller Hypotheken und anderer Verbindlichkeiten wurde ihnen noch ein Rest ausgezahlt, der reichen konnte, um sie ein paar Monate, maximal ein halbes Jahr über Wasser zu halten. Am ersten des nächsten Monats war die Übergabe.

Und dann? Mary hatte Angst um Jay Pop. Und malte ihm aus, wie sie sich eine neue Existenz aufbauen würden. Es war ja schon vielen vor ihnen gelungen. Vielleicht sollten sie nach Deutschland , von dem es hieß, es sei immer noch ein relativ stabiles Land, auswandern. „Stell dir vor, etwas kleines, exklusives, ein winziger Laden mit deinen Glassachen und ein Regal mit englischsprachigen Büchern und eine Leseecke, in der wir Tee und Gebäck anbieten.“ Sie hatte gerade ihr Studium der Englischen Literatur abgeschlossen.

„Du liest mehr als du lebst.“ zog Jay Pop sie manchmal auf. Zu ihren Träumen schwieg er verbissen.

Als würde sich das übrige Europa in einem steilen Aufschwung befinden, warb es massenweise Iren an. Man versprach ihnen Eingliederungshilfen, Arbeit und Wohnung. Es lockte und gaukelte den Menschen wie vor Jahrhunderten das goldenen Amerika schöne Träume vor. Auch Mary und Ryan glaubten den Versprechungen. Und wenn sie es nüchtern betrachteten, schlimmer als in diesem Irrenhaus konnte es kaum werden. Die Zeitungen stockten täglich die Zahlen derer auf, die an der „neuen Pest“ erkrankten. Die Folgen der Ausfälle wurden immer schmerzhafter. Irland war zu einem Staat verkommen, der seine Diener nicht mehr bezahlen konnte, der Rentner ohne Rente und Arbeitslose ohne Unterstützung vor geschlossenen Ämtern stehen ließ. Der Schulen und Krankenhäuser schloss und den öffentlichen Verkehr so reduzierte, dass Pendler Mühe hatten, ihren Arbeitsort zu erreichen. Jeden Tag flohen hunderte Iren aus dem Land. Sie handelten verzweifelt und überstürzt, denn jeder hatte Angst, zu spät zu kommen. Denn irgendwann musste das Ausland mit Arbeitskräften gesättigt sein und dann würden die Türen zugeschlagen. Wer zu lange zögerte, konnte dann sehen, wie er überlebte in einem Land, das längst jede Verantwortung für seine Kinder abgelegt hatte.

Am Kinsale Head machten sie eine Rast. Die Regenwolken hatten sich aufgelöst und der Atlantik glitzerte im Morgenlicht. Felsen wie aztekische Pyramiden stiegen steil aus dem Meer. Vom rauen Klima angegriffen, zerbröckelnd und doch so massig, dass sie weitere Millionen Jahre dort stehen würden. An ihren Sockeln peitschte gierig der Atlantik mit haushohen Wellen. In der Luft jagten die Seevögel kreischend gegen das Donnern der Brandung an. Und oben auf dem Plateau so weit man schauen konnte smaragdgrüne Matten, die selbst im Herbst noch genauso frisch leuchteten wie im Mai.

Ryan hatte am Abend vorher Sodabrot gebacken, dazu aßen sie Bücklinge, die sie unterwegs in einer kleinen Räucherei gekauft hatten, und tranken heißen Tee aus Thermoskannen.

Nach der Pause wollten sie wenig befahrene Nebenstraßen in Richtung Bantry nehmen, sich Zeit lassen, um etwas von der Landschaft zu sehen. Aber kurz vor Clonakilty schien ihre Reise erst einmal zu Ende. Die schmale Straße war von einem Demonstrationszug blockiert.

Jay Pop fuhr auf den Seitenstreifen und kurbelte das Fenster herunter. Er verwickelte sich in ein Gespräch mit einem jungen Paar. Der Mann trug ein Pappschild wie eine Monstranz vor sich her. Entmachtet die Banken, stand in dicken schwarzen Buchstaben darauf. Von Banken flossen rote Blutstropfen. Eine Dramatik wie in einem Gruselfilm.

„Lasst den Wagen stehen und kommt mit.“ sagte der Mann.„ In Cork und in Dublin und vielen anderen Städten wird heute demonstriert.“ Das Gesicht des Mannes leuchtete begeistert und seine Augen bohrten sich in Marys und lockten: komm mit!

Die Frau hinter ihm tänzelte leichtfüßig und spielte auf einer Fiddle eine altirische Ballade. Die Menschen strömten zu fünft, sechst nebeneinander, zu hunderten hintereinander einen Hügel hinunter auf Mary zu. In der Ferne tanzten sie wie bunte Segelschiffe auf einem langen Fluss.

Der Sog zerrte an ihr, dass ihr schwindelig wurde und

ihr Herz heftig gegen die Rippen polterte. Sie fühlte sich aufgerüttelt wie ein Kaleidoskop, in dem Bilder in schneller Folge durcheinanderwirbelten und sich zu immer neuen Szenen zusammensetzten. Wie sie als junges Mädchen ihrer erste Demo erlebt hatte. Sie war am Anfang begeistert aus Solidarität mit den Kommilitonen mitgezogen. Aber allmählich, umso mehr sie mit den politischen Zuständen und den Forderungen der Demonstranten vertraut wurde, hatte die Wut auch sie angesteckt. Sie hatte zugesehen, wie Schaufenster zu Bruch gingen und Autos brannten.

Sie hatte schon lange an keiner Demo mehr teilgenommen. Die Familie, das Studium, ließen keine Zeit und Energie mehr für andere, wichtige Dinge. Sie fühlte eine übermächtige Sehnsucht nach einer Freiheit, die sie so lange nicht mehr gespürt hatte. Selbst nach der Gefahr, sich Knüppeln und Tränengas auszusetzen. Dabei sein, sich diesen Menschen zugesellen, sich wieder wichtig fühlen. Das war wie in eine andere Haut oder Rolle schlüpfen. Ihr Blick fiel auf Liam, der neugierig den Kopf über die Schulter seines Großvaters nach vorne reckte. Heute sollte sie für ihn kämpfen, für seine Zukunft, das wusste sie plötzlich. Sie fühlte sich dabei so ernst und verantwortungsbewusst wie damals, als sie ihn das erste mal im Arm hielt und ihm leise versprach, dass sein Leben wunderbar sein und sie alles dafür tun würde.

„Die Banken haben unseren Laden geschluckt. Ich gehe mit.“ sagte sie „ Ich muss das einfach tun. Ihr drei Männer werdet auch ohne mich ein paar schöne Tage haben.“ Und bevor die Männer protestieren und sie verunsichern konnten, nahm sie ihre Umhängetasche, öffnete die Tür und stieg aus. Ein paar Leute in unmittelbarer Nähe klatschten Beifall.

Sie waren mehr als zwei Stunden gelaufen, hatten einige kleinere Orte passiert und manchmal hatten sich ihnen Leute spontan angeschlossen. Mary hatte Blasen an den Füßen und ihr Hals war rau und trocken. Eine Frau, die schon eine Weile neben ihr hergelaufen war, bemerkte ihren gierigen Blick und reichte ihr eine Flasche mit Wasser. „Nimm, ich habe genug.“ sagte sie. Mary trank dankbar. Das Wasser war lauwarm und schmeckte metallisch. Einige Kilometer später wurde ihr übel. Sie kämpfte mit einem Brechreiz. Ihr war schwindelig. Die Anstrengung, dachte sie, oder es kommt vom Wasser. Vielleicht hat die Frau es aus einem dreckigen Brunnen oder aus einem Bach geschöpft und ich habe mich vergiftet. An die „Neue Pest“ wollte sie noch nicht denken. Daran sind schon Menschen gestorben.

Sie schleppte sich noch eine Weile weiter. Dann bekam sie furchtbare Bauchkrämpfe. Sie ließ sich am Straßenrand ins Gras fallen. Plötzlich wollte sich ihr Darm unkontrolliert entleeren und sie raffte sich mit aller Kraft auf, schaffte es aber nur wenige Schritte in die Wiese hinein. Hinterher fühlte sie sich schwach, aber die Krämpfe waren nicht mehr ganz so quälend. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht alleine litt. Alle paar Meter hockten Menschen auf der Wiese, von hohem Gras oder niedrigen Büschen kaum geschützt, und jammerten und stöhnten. Am Straßenrand ratlose Zuschauer. Ein groteskes, peinliches Schauspiel.

Von der Energie, die den kilometerlangen Menschenzug angetrieben hatte, war nichts mehr zu spüren. Als läge ein Fluch über der Demo und die Menschen erkrankten nur auf Grund ihrer Teilnahme. Die Leute hockten sich an den Straßenrand und versuchten über ihre Handys den ärztlichen Notruf und Krankenwagen zu rufen. Aber es schien kaum noch freie Leitungen zu geben. Als letzten Ausweg rief man Freunde, Verwandte, jeden den man erreichen konnte und der über ein Auto verfügte, an.

Mary bekam von all dem nichts mehr mit. Sie lag mit geschlossenen Augen im Gras. Sie brannte vor Hitze und die Schmerzen waren so heftig wie damals bei Liams Geburt. Irgendwann trug sie ein fremder Mann auf seinen Armen zu einem Auto und stopfte sie zu zwei anderen Frauen auf die Rückbank. Er hatte vor Stunden einen Anruf von seiner Tochter bekommen, aber weil er sie in dem Chaos unmöglich finden konnte, hatte er sich die nächsten Kranken eingeladen. Er hoffte, dass auch seine Tochter Hilfe von einem fremden Samariter bekommen würde. Er fuhr an diesem Tag noch mehrere Touren ins Hospital von Cork.

Irrländer

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