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Dr. Malloy machte sich Sorgen. Sie war kein Mensch, der sich viel sorgte. Schon deshalb war dieser Zustand beunruhigend. Schon als der Anruf kam und sie kaum Zeit hatte zu packen, bevor man sie abholte, hatte sie ein ungutes Gefühl. Ein gute Woche vorher hatte man ihr einen Urlaub verordnet. Urlaub auf Befehl. Sie hatte nachgegeben, da sie schon länger auf dieses zweifelhafte Vergnügen verzichtet hatte. Ihre wenige Freunde hatte sie informiert. Genau am Abend vor Urlaubsbeginn hatte man sie abgeholt. Da lag der Verdacht nahe, dass beides zusammenhing und geplant war.

Der Anruf kam von höchster Stelle. Schon die Einladung, die mehr wie ein Befehl formuliert war, hatte Dr. Malloy verwundert. Als man ihr mitteilte, dass sie in beratender Funktion zu dem Außenministertreffen in Dublin eingeladen war, reagierte sie ungläubig. Sie war Leiterin des Katastrophenschutzes für Irland. Ein Posten zugegebenermaßen in schwindelnder Höhe. Aber sie fand, nicht hoch genug, um solch einen bedeutenden Gipfel zu erklimmen. Die Fragen des Katastrophenschutzes konnten zwar durchaus grenzübergreifende Zusammenarbeit nötig machen, waren aber kaum Inhalt von weltpolitischen Entscheidungen. Auch wenn die Art, wie man sie informiert hatte, ungewöhnlich war, versuchte sie die misstrauischen Stimmen zu beschwichtigen. Bestenfalls stand sie vor einem Sprung auf der Karriereleiter. Wohin auch immer.

Kaum hatte sie den Anruf und Befehl erhalten, den Telefonhörer aufgelegt, klingelte es schon an ihrer Haustür. Die beiden Männer stellten sich vor, beriefen sich auf den Anruf und wiesen sich als Beamte des Staatssicherheitsdienstes aus. Auf Fragen antworteten sie ausweichend. Unter ihren Augen packte sie ihre Sachen. Es sei weder nötig, dass sie ihren Laptop oder das Handy mitnehme, sagte der ältere der beiden, der Wortführer. Sie protestierte. Ohne diese Dinge fühle sie sich amputiert.

„Lassen sie es hier.“ Der Ton in seiner Stimme verbot jede Diskussion darüber. Sie gehorchte.

Auf der Fahrt in einem Auto mit passend zu der Situation getönten Scheiben, hörte sie bald auf, Fragen zu stellen. Die beiden Männer gaben vor, nicht mehr als sie informiert zu sein. Sie solle sich freuen. Es sei schließlich eine Ehre mit bedeutenden Politikern Europas zusammenzuarbeiten.

Gedanklich zog sie eine gerade Linie :

Katastrophenschutz – EU Gipfel – Katastrophe.

Morgens brauchte es seine Zeit, bis ihr Gedankenapparat warm gelaufen war. Dann mied sie Kontakte und erst recht wollte sie nicht angesprochen und zu einem Gespräch genötigt werden. Deshalb verließ sie den breiten Hauptweg und nahm die schmalen Trampelpfade, die von einem nächtlichen Regen noch aufgeweicht waren. Gegen morgen hatten sich die Wolken verzogen und jetzt dampfte das Gras unter einem klaren Himmel. Das war hübsch.

In diesen sehr frühen Morgenstunden hatte sie den Park bisher für sich alleine gehabt. Ein Privileg, für dass sie gerne früher als gewöhnlich aufstand. Während die meisten anderen Teilnehmer es vorzogen, bis in die Nacht hinein im Foyer oder an der Bar herumzuhängen, um dann morgens knapp vor dem Frühstück, mehr oder weniger verkatert, aus den Federn zu steigen. Sie hatte kein Interesse daran, sich mit anderen Teilnehmern im Foyer herumzudrücken, einen Drink zu nehmen und Smalltalk zu machen. Sie bevorzugte eine einfache und spartanische Lebensweise und für das Bedürfnis mancher Menschen, in Prunk und Luxus zu baden, fühlte sie nur Verachtung. Das Hotel war kein Ort, an dem sie sich wohlfühlen konnte. Und die Umstände trugen erst recht nicht dazu bei. In den vier Tagen, die der Gipfel jetzt dauerte, war ihr Unbehagen eher gewachsen. Dazu trugen die Geheimniskrämerei und die Gerüchte bei, die in den Pausen von Mund zu Ohr gingen.

Als sie wiederholt Geräusche hinter sich hörte, drehte sie sich unwillig um. Eine entfernte Gestalt hastete vom Ende des Weges auf sie zu.

„Dr. Malloy! Hallo,hallo, warten sie.“

Sie gehorchte und wartete. Es war Collins, der hechelnd auf sie zu kam. Sein Gesicht war rot angelaufen, als hätten ihn die wenigen Meter schon angestrengt. „Ich kenne ihre morgendlichen Gewohnheiten und bin ihnen gefolgt.“ erklärte er.

„Dafür haben sie hoffentlich einen plausiblen Grund. Ich habe nicht mal einen Kaffee getrunken, geschweige die erste Zigarette geraucht.“

Er trottete hartnäckig neben ihr her. „Ich schlafe nicht gut. Manchmal habe ich sie morgens gehört, wie sie ihr Zimmer verließen. Sie sind wie ich ein Morgenmensch.“

„Spionieren sie mir nach?“

„Nein, nein. So ist das nicht. Ich muss mit jemanden reden und sie scheinen mir vertrauenswürdig.“

Der Weg stieß wieder auf den Hauptweg. Einige Meter entfernt stand eine Bank. „Setzen wir uns.“ sagte sie, jetzt neugierig geworden und weil er immer noch laut schnaufte. Womöglich bekam er noch einen Herzanfall und sackte ihr in die Arme.

„Ich werde den Gipfel noch heute verlassen. Und nichts wird mich hindern. Und wenn das Flucht bedeutet. Ich bin entschlossen.“ Er schwieg, rang wohl um Worte oder Erklärungen. Seine Augen hetzten hin und her, als suchten sie nach Lauschern oder nach einem Fluchtweg.

Sie kannten sich nur flüchtig. Ihre Zimmer lagen sich gegenüber und ein paar mal waren sie sich auf dem Flur oder im Fahrstuhl begegnet. Aber sie hatten kaum mehr als höfliche Grüße gewechselt. Sie wusste, dass er Dolmetscher war. Sie hatte ihn mehrmals im Restaurant oder an der Bar mit anderen Übersetzern gesehen.

Collins sah wie das Klischee eines Iren aus. Er hatte die Statur und das Gesicht eines Bauern, wirkte kräftig und zuverlässig. Die Augen blickten freundlich und sein Lächeln lag breit zwischen rosigen Kinderwangen. Er trug schlecht sitzende Anzüge, die seine runde Mitte betonten.

Als sie einmal zufällig gemeinsam den Aufzug benutzten, hatte er sich vorgestellt. „ Collins, Ire, und sie?“ sagte er. Als sie sich ebenfalls zu Irland bekannte, war ihm die Irritation anzumerken. Als hätte er wegen ihrer Hautfarbe angenommen, dass sie direkt aus dem tiefsten Dschungel kam.

„Sehr viele Iren hier.“ sagte er.

Sie musste ihm Recht geben, hatte sich auch schon gewundert, dass unter den Fachleuten wesentlich mehr Landsleute als andere Nationalitäten vertreten waren. Logischer wäre, dass man die Besten ihres Faches, welcher Herkunft auch immer, bevorzugt hätte.

„Ich bin ein neugieriger Mensch,“ erklärte Collins jetzt. Das klang nicht prahlend, sondern eher bedauernd, als hätte ihn seine Neugier in diese anscheinend missliche Lage gebracht. „Ich habe mich umgehört, mit allen möglichen Leuten gesprochen. Hier eine Information, da ein unüberlegter Satz und als Übersetzer bekommt man so einiges mit.“

„Collins. Was genau wollen sie mir sagen?“ Sie konnte Leute nicht ausstehen, die endlos redeten, bevor sie zur Sache kamen. Wenn man denn überhaupt heraus bekam, was ihr Anliegen war.

Er hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in den Händen vergraben. Das Haar hing ihm wirr und schweißnass ins Gesicht. Er ruckte mit dem Oberkörper hin und her und wippte mit den Knien auf und ab, als hätte er einen Anfall. Sie legte eine Hand auf seine Schulter, da richtete er sich wieder auf. Er stöhnte und wischte sich mit den Händen über das Gesicht. Seine Haut sah ungesund gerötet aus, als hätte er Fieber.

Dann quollen die Worte aus ihm heraus, als müsse er sich übergeben, mit Worten übergeben. „Das ist eine Verschwörung, wie sie nie vorher gewesen ist. Das wird die Welt verändern. Natürlich habe ich mich mit anderen Übersetzern unterhalten, was nicht erlaubt war. Nicht über das Gehörte reden. Nicht darüber nachdenken oder eigene Schlüsse ziehen. Aber ich habe Ohren, kann einige Sprachen verstehen. Bin nicht blöd. Die Pläne...“

Er unterbrach sich mitten im Satz, sein Kopf fuhr herum, reagierte auf die Stimmen. Zwei Männer des Sicherheitspersonals schlenderten durch den Park, kamen näher, taten harmlos und grüßten herüber. Collins beugte sich vor, sie verstand ihn kaum. „Wenn Menschen Angst haben, aus gutem Grund, oder wenn man ihnen die Gefahr nur suggeriert, akzeptieren sie sonst unmögliches.“ sagte er.

Die Männer setzten sich auf eine Bank einige Meter weiter. In Hörnähe. Collins stand auf, sagte leise „Später.“ und verschwand in Richtung Hotel. Nach wenigen Minuten standen die Männer auf und gingen ihm nach. Oder sie wollten zufällig auch ins Hotel zurück. Es war Frühstückszeit.

Sie hatte keinen Hunger, nestelte die Zigarettenpackung aus der Hosentasche und zündete sich eine an. Zog den Rauch tief ein. Ihr leerer Magen krümmte sich unter der Attacke.

Collins Erregung hatte sie angesteckt. Oder den Misstrauensvirus wieder aktiviert. Es kam nicht oft vor, dass sie so spontan auf die überschwappenden Gefühle anderer Menschen reagierte. Sie verfügte über einen natürlichen, starken Filter, der alle Banalitäten, Gefühlsgeschosse und kindische Aufregungen fern hielt. Auch jetzt machte sie den Versuch, die Szene nüchtern zu analysieren. Collins Auftritt und seine Andeutungen schienen paranoid, auf jeden Fall rätselhaft. Sie liebte Rätsel. Wo andere aus Langeweile Kreuzworträtsel lösten, bevorzugte sie knifflige mathematische Gleichungen.

Wollte man Dr. Malloy einem Intelligenztest unterziehen, müsste man ihn neu erfinden. Mit knapp siebenunddreißig hatte sie eine so rasante Entwicklung hingelegt, als sei sie nur auf der Durchreise zu weit höheren Zielen. Sie hatte ihren Doktor in Chemie gemacht, parallel einige Semester Physik studiert und ein Studium der Betriebswirtschaft abgeschlossen. Sie lebte nicht in der Welt wie gewöhnliche Menschen, sondern bewegte sich in Gedankenräumen, in denen wundersame klare Gebilde geboren wurden, deren Geburtshelfer Logik, Analyse und eine Begabung zur Organisation waren. Sie hatte wenig Privatleben, war äußerst diszipliniert und gestattete sich kaum Schwächen. Außer einer, sie war eine Kettenraucherin. Diese Sucht sollte ihr wenige Tage später das Leben retten.

Dr. Malloys Vater war mit zwanzig Jahren über ein Stipendium nach England gekommen. Er stammte aus einem gebildeten, somalischen Clan. Ihre Mutter, Irin, heiratete ihn und entführte ihn nach Dublin. Beide Eltern lebten nicht mehr.

Dublin war Dr. Malloys Heimat. Obwohl ihre Hautfarbe von einem tiefen Braun war, hatte sie kaum unter Nachteilen zu leiden. Man konnte Dublin nicht unbedingt als weltoffen oder als multikulturellen Schmelztiegel bezeichnen, doch sie war selten mit den Vorurteilen der Straße in Berührung gekommen. Ihre Familie bewegte sich ausschließlich in dem wohlwollenden, engen Milieu des Bildungsbürgertums.

Die Größen aus Politik und Wirtschaft tuschelten Geheimnisse hinter Türen, die Dr. Malloy verschlossen blieben. Sie war es gewohnt, Entscheidungen selbst zu treffen und Zugriff auf alle Informationen zu haben, die ihr für ihre Arbeit wichtig erschienen. Jetzt ahnte sie

nicht einmal, was hinter den geschlossenen Türen vor sich ging und es machte sie wütend und unruhig, dass aber auch rein gar nichts durch eben diese Türen drang.

Parallel zum inneren Kreis gab es Arbeitsgruppen mit Fachleuten aus den unterschiedlichsten Ressorts. Ihre Gruppe bestand aus acht Personen, die für Bereiche wie öffentliche Sicherheit, Verkehr und die Mehrzahl für den Katastrophenschutz zuständig waren.

Man nannte es ein Planspiel. Abklopfen aller Möglichkeiten und Schwachpunkte. Erstellen sie einen vollständigen Plan für die Evakuierung der gesamten Bevölkerung eines Landstriches, eines Staates, einer größeren Insel. Zum Beispiel für Irland. Kein Grund für Spekulationen oder Befürchtungen. Nur ein Handlungsmodell, dass hoffentlich nie zum Ernstfall wird. Dr. Malloy war natürlich für Irland zuständig. Eine gewaltige, aber durchaus reizvolle Aufgabe.

Collins, als Übersetzer, hatte durch seine Funktion zwangsläufig mehr Insiderwissen. Hatte er womöglich von Plänen erfahren, die ihm suspekt oder bedrohlich schienen? War das der Grund für seine Panik. Wollte er deshalb diese abgeriegelte Burg hinter sich lassen, und das anscheinend ohne Plan und Überlegung. Einfach nur auf schnellstem Wege raus. Obwohl er wie alle anderen mit seiner Unterschrift versichern musste, dass er den Gipfel weder zwischendurch, noch vorzeitig verlassen würde. Vielleicht gab es auch noch private Gründe für sein Verhalten. Obwohl man keinerlei Nachrichten von draußen empfangen konnten, egal, ob die Frau ein Kind bekommen, man eine Million in der Lotterie gewonnen hatte oder der Vater im Sterben lag.

Die vagen Aussagen über die wahren Ziele des Gipfels konnten schon misstrauisch machen. Die Außenminister Europas, daneben die mächtigsten Köpfe aus Wirtschaft und der IT Branche wälzten nun seit vier Tagen hinter sehr verschlossenen Türen Pläne. Ein enormer Aufwand wurde betrieben. Das Hotel, die teuerste Adresse in ganz Irland, lag in einer weiträumigen Parkanlage und hatte einen eigenen, kleinen Flugplatz. Es verfügte über achtzig First Class Zimmer und zwei Dutzend Suiten, einen Golfplatz, sowie einigen Tennisanlagen, mehreren Pools und acht Tagungsräumen. Das mitgebrachte Personal, die Berater und Bodygards der Gäste waren in dem alten Hotelgebäude untergebracht.

Die Sicherheitsmaßnahmen waren gigantisch, trotz der knappen Vorbereitungszeit. Niemand, nicht mal ein Gedanke, scherzte man, konnte hier auch nur einen unbemerkten Schritt tun. Die Gäste und das Personal waren während der Tagung total isoliert, sie konnten weder das Gelände verlassen, noch nach draußen telefonieren. Handys waren nicht zugelassen. Es drangen auch keine Informationen über die Tagungsinhalte oder

dessen Verlauf an die Medien. Reporter kamen nicht einmal in Rufnähe des Hotels. Die Öffentlichkeit wurde mit den üblichen Schlagzeilen vom ernsthaften Ringen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise gefüttert.

Die Iren wunderten sich kurz, dass man ausgerechnet ihr Land für den Gipfel gewählt hatte. Und weil man von solchen Treffen schon lange nichts mehr erwartete, wandte sich das Interesse schnell wieder anderen Themen zu. Irland war es gewohnt, arm zu sein, oft so bitterarm, dass es bis heute kaum einen Familienclan gibt, der nicht eins oder mehrere seiner Kinder vor dem drohenden Hungertod in ferne Länder hinausgeschickt hatte. Es spürte auch jetzt die Wirtschafts- und Finanzkrise in voller Härte, war aber noch verschont von größeren Unruhen und gewalttätigen Ausschreitungen geblieben. Es gab regelmäßig Solidaritätskundgebungen und kleinere Demonstrationen, die sich schnell zerstreuten und deren Teilnehmer nicht selten in Pubs ihren Frust hinunterspülten.

In der Mittagspause und am Abend hielt sie nach Collins Ausschau, konnte ihn aber nicht entdecken. War er etwa wirklich geflohen? Oder hatte er sich nur verkrochen wie ein ängstliches Tier? Sie wollte mit seinen Problemen und seiner Paranoia nichts zu tun haben. Helfen würde sie ihm nicht können. Nach dem Abendessen, gegen neun, suchte sie ihr Zimmer auf. Sie war müde und wollte sich in der Badewanne entspannen. Während das Wasser einlief, öffnete sie das Fenster, steckte sich eine Zigarette an und lehnte sich beim Rauchen weit hinaus.

Der ganze Bau war eine einzige Nichtraucherzone. Im

Moment war ihr das egal. Dann sollte man verdammt nochmal nur Nichtraucher einladen oder ein Extra Raucherhaus einrichten. Sie sah es vor sich, ein lieblos in die hinterste Parkecke geklatschten Bau, über dem eine dicke, graue Wolke hing. Den man nur verlassen durfte, wenn man eine geruchsneutralisierende Schleuse passierte. Und in dessen Zimmer nicht Turnerdrucke hingen, sondern Plakate mit Aufnahmen von geteerten Lungen und Sprüchen wie „Rauchen kann tödlich sein.“

Sie wollte ins Bad, das dicht neben der Tür zum Flur lag, als draußen sehr laute Stimmen zu hören waren. Sie erkannte Collins. Seine Stimme war hoch, quäkend, nicht sehr männlich. Eine andere Männerstimme, leiser, energisch. Sie öffnete die Tür und schaute auf den Flur. Collins Zimmertür stand weit offen. Zu sehen war nichts.

„Sie können mich nicht daran hindern.“ rief er.

„Nun beruhigen sie sich doch.“ Dann leiseres Gemurmel.

Kurz entschlossen griff sie sich ein Buch von ihrem Nachtisch und trat auf den Flur. Ein Wachmann kam gerade aus Collins Zimmer. Er grüßte, nahm Haltung an und seine Miene drückte Misstrauen aus, wie man das bei Sicherheitsleuten erwartete. Wahrscheinlich litten sie alle an Paranoia.

„Ich möchte zu Mister Collins.“ sagte sie. Ihre Stimme und Haltung drückten Autorität aus und duldeten keinen Widerspruch.

Der Wachmann schob unsicher seine Lippen vor und knetete sein Kinn. Doch er wich keinen Millimeter von seinem Platz, wechselte nur das Standbein. „Mr. Collins ruht, er fühlt sich nicht wohl. Brütet wahrscheinlich etwas aus.“ sagte er.

„Oh, ich will ihn auch nicht lange stören. Ich will ihm nur schnell das Buch geben. Er erwartet mich. Wir interessieren uns beide für Geschichte. Und wenn er das Bett hüten muss, kommt ihm der Lesestoff bestimmt gerade recht.“ Sie hielt ihm das Buch unter die Nase. Er las stirnrunzelnd den Titel.

„Über den Osteraufstand von 1916.“ erklärte sie „Wir sind beide durch und durch Iren. Und woher kommen sie, ihr Akzent ist... lassen sie mich raten. Nicht etwa London?“ Der Versuch, ihrer Stimme diesen bestimmten mütterlich, gurrenden Ton zu verleihen, schien nicht überzeugend zu sein.

Seine Miene blieb unnachgiebig. „Nein. Das ist jetzt wirklich ungünstig. Geben sie her, ich geb' es ihm.“

„Das ist sehr freundlich, aber ich habe versprochen ihm zu einer Textstelle noch Anmerkungen zu machen. Es geht wirklich schnell. Oder wollen sie andeuten, das wir nur noch mit Zustimmung der Security privaten Kontakt haben dürfen? Sind wir hier Gefangene?“ Sie hatte jetzt absichtlich die Stimme erhoben. Ihre Empörung war nicht gespielt und sie hatte nicht vor weiter mit dem Wachmann zu diskutieren. Der schaute unsicher den Flur hinunter. Ein paar Zimmer weiter öffnete sich eine Tür und eine Frau steckte ihren Kopf heraus.

Der Mann holte ein Handy aus der Jackentasche, überlegt es sich dann doch wieder anders, steckte es zurück und machte endlich den Weg frei. „Gut, aber kurz bitte.“ sagte er und hielt ihr die Tür auf.

Auch wenn seine Gehabe sie wütend machte, sie lächelte, trat an ihm vorbei in das Zimmer und wollte schnell die Tür schließen, aber der Mann drängte sich hinter sie in den Raum.

Collins stand am Fenster, vorgebeugt, wie sprungbereit, als wolle er aus dem Fenster zu springen.

„Ich bringe ihnen das Buch.“ sagte sie. Er reagierte nicht. Sie ließ sich Zeit, blätterte im Buch herum. Eine harmlose, etwas penetrante Person. „Ich finde die Stelle gleich.“ sagte sie.

„Ich muss sie jetzt bitten, das Zimmer zu verlassen. Mister Collins hat einen Termin.“ Ein zweiter Mann in Uniform. Er stand breitbeinig in der Tür. Sein Blick war kalt und verriet, dass er nicht so leicht wie sein Kollege um den Finger zu wickeln war.

Collins wich noch weiter zurück, seine Hände umklammerten hinter seinem Rücken das Fensterbrett. Auch Dr. Malloy fühlte sich jetzt von dieser Furcht angesteckt. Hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht. Der Sicherheitsbeamte schob sie sehr bestimmt aus dem Zimmer. Sie drehte sich noch einmal um und lächelte Collins an. Es wird alles gut, sollte das heißen. Nichts würde gut werden für ihn. Wenn man die Fakten betrachtete, musste man zwangsläufig den Schluss ziehen, dass er an höherer Stelle so wichtig genommen wurde, dass man es für nötig hielt, ihn zu isolieren.

„Ach, das Buch...“ sagte sie und reichte es dem Wachmann.

Collins stand immer noch am Fenster, schon unerreichbar für sie.

Das Wasser in der Wanne war abgekühlt. Sie ließ heißes nachlaufen, zog sich aus und stieg in den verlockenden Schaumberg. Erschöpft schloss sie die die Augen. Sie wünschte sich nach Hause in ihr vertrautes Leben zurück. Dies hier kam ihr immer unwirklicher vor. Als wäre sie plötzlich in einen Film geraten, dessen Plot sie nicht durchschaute. Wahrscheinlich würde sie erst im Nachhinein verstehen. Wenige Tage noch, dann würden sich die Tore wieder öffnen. Auch für Collins. Also kein Grund irgendwelche Verfolgungsängste oder einen Verschwörungswahn zu füttern. Sie sollte sich raushalten, sich ihrer fiktiven Aufgabe stellen, nämlich einen

Evakuierungsplan ausarbeiten und nicht fragen, wozu man den haben wollte. Und in ein paar Tagen zurück in ihr anderes Leben. Aber sie war eine Schlüssellochguckerin.

„Wenn du immer so neugierig bist, wirst du eines Tages Dinge sehen, die dir Augen und Seele verbrennen.“ hatte ihr Vater sie einmal gewarnt, als er sie dabei erwischte, wie sie auf seinem Schreibtisch herum schnüffelte.

Sie spielte die Szene im Park und die in Collins Zimmer in Gedanken noch einmal durch und lauschte seinen Worten nach. Der letzte Satz, den er ihr wie eine Formel zugeflüstert hatte, fiel ihr ein.

Wenn Menschen Angst haben, aus gutem Grund, oder wenn man ihnen die Gefahr nur suggeriert, akzeptieren sie sonst Unmögliches.

So ein Satz, aus seinem Kontext gerissen, konnte alles mögliche bedeuten. Eine Feststellung. So sind Menschen. Wenn es brenzlig wird, schreien sie nach Führung. Hansemann geh du voran. Oder wenn man den eingeschobenen Satzteil betrachtete: ein psychologischer Trick. Mach den Menschen Angst, und du kannst ihnen alles mögliche abverlangen und einreden, wenn du nur überzeugend in der Rolle des Retters bist.

Retter! Der so hektisch anberaumten Gipfel, die Stimme des Ministers für Innere Sicherheit „die brisante innenpolitische Situation Europas“ „härtere, durchgreifende Maßnahmen“.

Sie angelte nach dem Päckchen und zündete sich eine Zigarette an. Im Badezimmer. Es war ihr egal. Auch wenn gleich ein Feueralarm los ginge, was nicht geschah. Ihre Hände zitterten leicht vor Erregung. Ihr Herz zitterte.

Wenn wirklich etwas Ungeheuerliches, wie Gerüchte munkelten und wie Collins angedeutet hatte, auf dem Gipfel geplant wurde, wie glaubte man verhindern zu können, dass die Öffentlichkeit spätestens nach dem Gipfel nicht davon erfuhr? Auch wenn die Politiker und Wirtschaftsbosse in ihrem eigenen Interesse ihre Pläne geheim hielten, da gab es noch das Fußvolk wie sie und als schwächstes Glied wohl die unzähligen Dolmetscher. Sie hörten mit, verfügten also über die meisten Informationen. Wie wollte man Collins daran hindern, dass er kaum wieder in die Freiheit entlassen, den nächsten Journalisten anrief.

Spekulationen, willkürliche Deutungen, dachte sie. Und, kühl bleiben, nachdenken. Wenn das nur Ausgeburten einer Paranoia von Collins war und sie sich hatte anstecken lassen, musste sich alles nach dem Gipfel auflösen und sie würde nur noch kopfschüttelnd darüber lächeln.

Sie sollte sich zusammenreißen, ihre Aufgabe erfüllen und dann das ganze abhaken. Ihre Aufgabe! Ihr Herz macht einen erschrockenen Satz. Plötzlich sah sie einen Zusammenhang, oder könnte ihn konstruieren. Ihre Aufgabe war es, einen bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Evakuierungsplan für das gesamte irische Volk zu erstellen. Da wurden vielleicht Gefahren gedacht oder konstruiert oder geplant, die solch ungeheuerliche Maßnahmen erforderlich machten.

Am nächsten morgen, noch vor dem Frühstück, nahm sich Dr. Malloy vor, noch einmal mit Collins zu sprechen. Wie am Abend davor würde sie hartnäckig darauf bestehen und sich nicht abwimmeln lassen. Der Flur war leer, umso besser. Als sie kurz vor Mitternacht ihre Tür einen Spalt geöffnet und auf den Flur geschaut hatte, lungerte noch der Sicherheitsbeamte vor Collins Tür herum.

Sie klopfte, wartete, noch einmal lauter. Nichts. Entweder wollte oder durfte er nicht öffnen. Vielleicht war er auch schon unten beim Frühstück und die ganze Angelegenheit hatte sich zurecht gerückt. Im Restaurant war er nicht. Sie erkundigte sich an der Rezeption nach ihm. Die Angestellte suchte bereitwillig im Computer, lächelte und fragte, ob es denn wichtig sei.

„Ich will nur wissen, ob es ihm besser geht.“

Die Frau telefonierte, lauschte und nickte ein paar mal. Sie las laut den Namen vom Schild auf Dr. Malloys Brust ab und fragte: „Ist es wichtig?“

„Reine Höflichkeit. Ich will wissen, wie es ihm geht. Gestern ja nicht so gut.“

„Er ist in der Krankenstation. Aber es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Eine Magenverstimmung.“ Nein, Besuche seien nicht möglich, wegen der Ansteckungsgefahr, man wisse ja, wie schnell sich so ein Virus verbreite.

Dr. Malloy glaubte kein Wort. Man hatte Collins einfach aus dem Verkehr gezogen.

Irrländer

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