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Dr. Malloy stand am offenen Fenster und und sah einem beeindruckenden Sonnenuntergang zu. Am Himmel brachen dünne Wolkenschlieren das Licht in zarten Orange- und Rosatönen. Jetzt lag noch ein letzter Farbschleier über dem Horizont. Ein wunderschöner Abschluss für den Gipfel. Lichter blitzten zwischen den Bäumen des Parks. Die Tagungsräume waren noch hell erleuchtet. Der interne Kreis blieb anscheinend noch bis in die Nacht hinein zusammen. Das Fußvolk, die Wissenschaftler, Fachleute und Dolmetscher hatte man mit einem Buffet, reichlich Alkohol und dankenden Worten verabschiedet.

Sie sehnte sich nach einer Zigarette, scheute sich aber, schon wieder im Zimmer zu rauchen. Überall hingen diese Tafeln mit rot gebrandmarkten Zigaretten darauf. Sie wollte auch nicht wieder am offenen Fenster rauchen. Ein Nachbar hatte sich beschwert, dass der Gestank zu ihm herübergezogen sei. Jetzt fühlte sie neben dem Verlangen noch einen zunehmenden Druck hinter der Stirn, ein erstes Anzeichen für Kopfschmerzen. An Schlafen war nicht zu denken. Sie schaute auf die Uhr, es war halb elf. Um Punkt elf wurde die Hoteltür verschlossen, aus Sicherheitsgründen. Dann hatten die Gäste im Haus zu sein. Bis dahin würde sie noch zwei Zigaretten schaffen. Sie nahm ihre Umhängetasche vom Bett und schaute nach, ob noch genug Tabak in dem Päckchen war. In dem Tabakgekrümel, zwischen Papiertaschentüchern, ihrer Geldbörse und losen Zetteln fand sie die Blättchen und das Feuerzeug. Sie sollte ihre Tasche dringend mal ausmisten. Sie stopfte alles wieder hinein und hängte sich die Tasche um.

Sie schien die einzige zu sein, die sich erleichtert zurückgezogen hatte. Die übrigen Teilnehmer waren in Feierlaune und drängten sich an der Bar. Oder man trennte sich schwer, war sich in den letzten Tagen nahe gekommen. Sie hatte kein Interesse an solchen Kontakten. Kurz dachte sie an Collins. Er war nicht wieder aufgetaucht. Blieb verschwunden, weggeschlossen. Ob er jetzt in seinem Bett auf der Krankenstation lag, erleichtert, dass er morgen abreisen durfte? Oder noch immer voller Sorge und Angst, gepeinigt von paranoiden Phantasien? Oder hatte man ihn ruhiggestellt? Hatte dunkle Pläne für ihn, der den Mund nicht halten und womöglich finstere Machenschaften aufdecken konnte, ausgeheckt?

Damit niemand etwa draußen verloren ging und nicht wiedergefunden wurde, musste man bei Verlassen oder Betreten des Hotels seine Zimmerkarte durch ein Lesegerät ziehen. Dann öffnete sich die Tür. Drei sich laut unterhaltende Männer traten gerade durch die Eingangstür. Sie nutzte die Gelegenheit und drängte sich an ihnen vorbei nach draußen. Sie hatte keine Lust, sich wie eine Schülerin abzumelden. Wenn man tagelang diese totale Kontrolle ertrug, machte es geradezu Spaß, dem System ein Schnippchen zu schlagen, auch wenn dieses lächerlich harmlos war.

Sie überquerte eine Rasenfläche und setzte sich am Rande des kleinen Parks auf eine Bank. Hier war es wohltuend still. Die Luft war noch angenehm warm. Schlagartig war es dunkel geworden. Sie drehte sich eine

Zigarette, das konnte sie ohne hinzusehen. Sie atmete tief durch, soweit das gelang, wenn man gleichzeitig gierig den Rauch in die Lunge zog. Die Bank war bequem, sie lehnte sich an und legte den Kopf in den Nacken. Über ihr tauchten erste Sterne auf. Sie suchte nach bekannten Tierbildern und fand, dass ein sehr heller Stern die Venus sein musste. Überzeugt war sie nicht, dafür kannte sie sich am Himmel zu wenig aus. Sie zog noch einmal an dem Zigarettenstummel und trat ihn dann aus. In ihr breitete sich eine tiefe Zufriedenheit aus. Sie hatte kein Interesse mehr an dunklen Theorien. Sie hatte ihre Aufgabe bewältigt und sie wusste, dass sie eine sehr gute Arbeit geleistet hatte. Morgen würde sie nach Hause fahren. Ihr und das Leben der anderen würde in seinen normalen Abläufen weitergehen. Nichts spektakuläres würde geschehen, keine Verschwörung sich bestätigen.

Die Menschen waren schon merkwürdig, während die einen mit einem blinden Glauben ihren Politikern, ihrer Partei anhingen, den Versprechungen keine Erfahrung, kein besseres Wissen entgegen zu setzen hatten und alle paar Jahre ihr Kreuzchen machten, in dem fast kindlichen Vertrauen, dass ihr Mann, ihre Frau es schon richten würde, jagten andere jeder Verschwörungstheorie nach. Sahen hinter jedem Attentat ein großes Komplott der Geheimdienste. Und dann die Weltuntergangshysteriker, denen eine Jahrtausendwende, die nur durch eine willkürliche Zeitrechnung festgelegt war, reichte, um die größten Katastrophen vorher zu ahnen.

Sie verbannte diese Gedanken aus ihrem Gehirn und überließ sich einem trägen dahindämmern. Müde schloss sie die Augen. Nur einen Moment, dann würde sie brav zurück in die Obhut ihrer anonymen Wächter gehen. Sie nickte ein.

Dann traf sie die Ohrfeige. Sie hielt in der ersten Verwirrung den Schlag für eine Ohrfeige. Eine gewaltige Luftwelle traf ihren Körper, warf die Bank um und fegte sie zu Boden. Sie wurde in einen Busch geschleudert. Die Erde bebte. Instinktiv klammerte sie sich an den Zweigen fest. Dann schlug ihr ein Geräusch in die Ohren, dass klang, als würde die Erde mit einem einzigen Aufschrei bersten. Eine Explosion, Schreie und ihr eigener Schrei. Eine nächste Druckwelle raste durch den Park. Ein heißes, fauchendes Ausatmen. Alles ging langsamer. Ihre Bewegungen verliefen in Zeitlupe und ihr Denken wurde kalt. Sie griff sich ins Haar. Es war noch da. Sie zog sich hoch, befreite sich aus der Umklammerung der Äste und drehte sich um.

Die Explosion war aus Richtung ihres Hotels gekommen. Flammen schossen aus der rechten Dachseite, Fenster zerbarsten und Glasscherben schossen in den Himmel. Feuerzungen zischten aus Fensterhöhlen. Gegenstände flogen wie brennende Vögel wild herum, erloschen und flatterten wie schwarze Motten zu Boden. Menschen schrien.

Dr. Malloy spürte, wie nach dem Schock, der ersten Betäubung, die Angst in ihre Adern schoss und den starken Drang zu fliehen auslöste. Ein gleich starker Impuls befahl, das zu tun, wofür sie ausgebildet war. Kaltblütig zu handeln, wenn Menschen in der Katastrophe Schutz und Planung benötigten. Während sie selbst wie eine Flamme zitterte, kämpfte ihr Gehirn schon wieder um die Herrschaft. Verdammt dachte sie, ein Schreck und der Mensch wird wieder zum Neandertaler. Impulse. Instinkte. Klares, kühles Denken weg. Ich werde da jetzt hingehen, befahl sie sich.

Sie zwang ihre Füße auf das brennende Hotel zuzugehen. Dann gab es die nächste Explosion. Und dann noch eine dritte. Sie wurde wieder zu Boden geschleudert. Der Himmel wurde jetzt von größeren glühenden Geschossen zerfetzt. Steine und andere scharfkantige Gegenstände prasselten herab. Etwas brannten sich durch ihre Hosenbeine. Sie presste die Arme vor das Gesicht. Sie wagte sich nicht zu rühren, auch nicht, als anscheinend das Schlimmste vorbei war. Sie hörte keine Schreie mehr, nur das Prasseln der Flammen und ab und zu kurze Knallgeräusche wie von kleineren Explosionen. Dann die Sirenen der herbei rasenden Feuerwehrautos und Polizeiwagen.

Ein Blick auf das Hotel genügte. Da war keinem Menschen mehr zu helfen.

Sie dachte an Collins. Und gehorchte seiner oder der eigenen, inneren Stimme. Als würde er ihr noch einmal zu flüstern - machen sie, dass sie hier weg kommen-.

Sie drängte sich durch die Autos, Gerätschaften und Menschengruppen auf das jetzt weit offene Tor zu. Der Rauch war dicht und beißend. Augen tränten und an den Gesichtern zerrten die Zungen des Feuerscheins. Die Menschen erkannten sich nicht. Verzerrte Fratzen. Gebannt oder hysterisch oder still weinend.

Sie rannte von dem Feuerschein weg auf die blassen Lichter Dublins zu. Sie lief durch Straßen, in denen Menschen im Nachtzeug vor den Haustüren standen und fassungslos zum Hotelkomplex hoch starrten, der wie ein glühender Schmelzofen leuchtete. Niemand achtete auf sie oder sprach sie an. Auch wenn sie die einzige schien, die in die falsche Richtung lief. Die anderen machten zögernde, gebannte Schritte in Richtung Feuer. Vorsichtig, nicht zu nahe. Man wollte nur sehen und begreifen, was da geschah.

Im St. Stephens Green Park wurde sie ruhiger, ging langsamer. Kein anderes Lebewesen war zu sehen, außer ein paar Enten am Seeufer, die verstört mit den Flügeln schlugen. Sie musste quer durch den Park , ein paar Straßen dahinter lag ihre Wohnung. Die Kraft, die ihr die Panik verliehen hatte, war plötzlich, auf einen Schlag erschöpft. Die Knochen in ihren Beinen schienen sich aufzulösen und sie musste sich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle niederzusinken. Ein paar mal begegneten ihr andere Wesen, nur gespenstische Schatten, denen sie instinktiv auswich. Sie schleppt sich zu einer kleinen Brücke und kroch daneben in ein Gebüsch. Manchmal nickte sie kurz ein und tauchte in dunkle Träume, in denen Feuerzungen wirbelten und Collins zwischen ihnen einen absurden Tanz aufführte.

Als sie fror, lief sie, um wieder warm zu werden, ziellos die Wege des Parks ab. Oben, über der Stadt auf dem Hügel lag eine Rauchwolke. Es war sehr still, keine Schreie, kein Sirenengeheul mehr.

Es war so früh, das nicht einmal ein Jogger unterwegs war. In einem Brunnenbecken wusch sie sich das Gesicht. Ihre Kleidung war verschmutzt und roch beißend nach Rauch und Angstschweiß. Sie wollte nach Hause, sich in ihrer Wohnung verkriechen, stundenlang duschen, sich den Ruß und den Gestank von der Haut spülen und die Ohren so lange unter Wasser halten, bis sie die Schreie nicht mehr hörte.

Sie schöpfte mit der hohlen Hand etwas Wasser und trank es. Es schmeckte frisch, gab Kraft. Als würde es die Wunden, die das feurige Element in ihre Seele gebrannt hatte, abkühlen. Sie setzte sich auf den Beckenrand, bewegte die Arme im Wasser und dachte nach. Keine panischen Reflexhandlungen mehr, kühles Denken war jetzt angesagt. Der natürliche Impuls hätte sein müssen, durch die Straßen zu rennen und laut zu rufen, seht her, ich lebe noch, mich gibt es noch. Alle Freunde anrufen und beruhigen. Obwohl, offiziell war sie auf Reisen, ihre Teilnahme unterlag der Geheimhaltung, also würde auch keiner der Freunde sie mit dem Unglück in Verbindung bringen.

Eigentlich gibt es mich nicht mehr, eigentlich bin ich wie alle anderen im Hotel verbrannt oder von der Explosion in Stücke gerissen. Ich bin tot. Kann mich tot stellen, abwarten, in Ruhe über Ursachen und Konsequenzen spekulieren, die nächsten Schritte planen. Und das besser an einem Ort, wo mich niemand kennt oder findet. Eine misstrauische warnende Stimme riet ihr, erst einmal unterzutauchen.

In einem billigen Laden kaufte sie sich eine Hose und ein T-Shirt und zog die Sachen in der Umkleidekabine gleich an. Die Verkäuferin musterte sie neugierig.

Gottseidank hatte sie ihre Umhängetasche aus dem Hotel mitgenommen und in dem Chaos nicht verloren. Erstaunlicherweise hatte sie Hunger. Nach einer Viertelstunde Fußweg fand sie ein kleines Café in einem ärmlichen Stadtteil. Hoffte, dass sie hier auf niemanden bekannten treffen würde. Sie bestellte sich ein kleines Frühstück. Sie aß unaufmerksam, schmeckte kaum etwas. Ihre Gedanken rotierten. Noch gestern hatte sie sich über Paranoia und Verschwörungsängste lustig gemacht. Heute war sie überzeugt, dass Collins Angst begründet war. Es konnte kein Zufall sein, dass ausgerechnet der Hotelblock ausradiert wurde, in dem die Mitwisser untergebracht waren. Die, die nur bei der Ausarbeitung, bei der Vorbereitung von Wichtigkeit waren, die man problemlos ersetzen konnte. Auch sie war ersetzbar. Und sie war verdächtig durch ihren Kontakt zu Collins. Und womöglich auch in Lebensgefahr, würde sie ihr Überleben bekannt machen.

Sie verfügte über gut zweihundert Euro Bargeld. Sie machte sich auf die Suche nach einem Geldautomaten, fand ihn ein paar Straßen weiter und hob ihr gesamtes Guthaben vom Konto ab. Vielleicht war das ein Fehler. Bis jetzt würde alle Welt glauben, dass auch sie in den Flammen umgekommen war. Aber man würde kaum alle Konten prüfen. Und mit zweihundert Euro würde sie nicht weit kommen. Und sie wollte so weit wie möglich weg.

In einem Laden kaufte sie etwas zu Essen ein, ein Weißbrot, Käse, eine Gurke, eine Flasche Wein und einen großen Tabakvorrat. In einer Apotheke kaufte sie eine Tube Heilsalbe und Pflaster. Und dann noch eine kleine Reisetasche und ein paar billige Sachen zum wechseln. Sie wollte sich so wenig wie möglich in den Straßen zeigen. Sich in einem Hotel verkriechen,

bis sie einen Plan hatte. Sie suchte sich eine kleine, billige Pension, trug sich mit einem falschen Namen ein, einen Pass wollte man nicht sehen. Sie bezahlte für zwei Nächte im voraus.

Die Frau hinter dem Empfangstresen redete aufgeregt auf sie ein. Ist das nicht schrecklich, dieser Anschlag, und nicht die Politiker, wieder mal das Fußvolk, wer macht so was, und sie sehen aus, als wären sie in der Nähe gewesen und hätten auch etwas abbekommen. Sie stach mit einem nikotingelben Finger in Richtung Dr. Malloys Stirn.

„Ein dummer Unfall.“ murmelte diese, lächelte und sagte „Ich könnte einen Kaffee gebrauchen und eine Zigarette.“

Die Frau reichte ihr einen Schlüssel. „Den Kaffee bringe ich hoch.“ sagte sie.

Das Zimmer war nicht anders als erwartet einfach und mit abgenutzten Möbeln eingerichtet, dafür billig und abgelegen. Im Badspiegel prüfte sie die Verletzungen in ihrem Gesicht. Ihre Stirn brannte höllisch. Kleine, schwarze Partikel hatten sich in die Haut gebohrt. Und am rechten Bein klaffte ein blutiger Riss. Sie duschte und versorgte das Bein mit Wundsalbe und Pflaster. Dann öffnete sie die Weinflasche, die glücklicherweise einen Schraubverschluss hatte. Sie trank gierig direkt aus der Flasche, drehte sich eine Zigarette, öffnete das Fenster und rauchte. Im Zimmer roch es schon nach altem Rauch. Es klopfte an der Tür, sie erschrak. Es war die Wirtin mit dem Kaffee.

Den Rest des Tages lag sie auf dem Bett, setzte sich nur manchmal auf, um zu rauchen oder Wein zu trinken. Hunger hatte sie nicht.

Durch das offene Fenster zog Brandgeruch herein. Draußen bebte der Himmel wie in einem Krieg. Hubschrauber zogen ohne Pause Kreise über der Stadt. Unter ihr dunkles Knattern mischte sich das grelle Heulen von Sirenen. Durch die Straßen wälzten sich Autoschlangen, als führe alle Welt zum Katastrophenort. Angehörige, Schaulustige. Am nächsten Morgen sah sie sich die Nachrichten im Fernsehen an. Ein Journalist berichtete, dass, bevor noch der Rauch verzogen war, schon viele Menschen Blumen vor den Sicherheitszäunen niederlegten, Gläubige für die Opfer beteten, Priester spontane kurze Gottesdienste abhielten und Politiker herbeieilten, um unter dem Blitzlichtfeuer der Journalisten ihre Betroffenheit zu demonstrieren. Menschen weinten fassungslos, als sie vor den rauchenden Trümmern standen. Dazu wurden Bilder in hektischer Folge gezeigt. Man brachte eine Großaufnahme vom belgischen Außenminister. Tränen liefen über sein Gesicht. Als eine Journalistin ihn um ein paar Worte bat, schüttelte er den Kopf. „Ich kann jetzt nichts sagen, zwei enge, vertraute Mitarbeiter liegen unter diesen Trümmern.“

Man schätzte mehr als vierzig Tote. Noch nicht alle waren geborgen und nur wenige konnten bis jetzt identifiziert werden. Das unversehrte Hauptgebäude hatte man in kürzester Zeit geräumt. Die Politiker aus Sicherheitsgründen ausgeflogen. Ein weiteres Attentat war nicht auszuschließen, wenn die Täter sich im Gebäude geirrt und der Anschlag den Politikern gegolten hatte.

Aber wer konnte das schon glauben. Nur wer blind und dumm war, konnte das alte, viel kleinere Hotelgebäude mit dem riesigen Prachtbau, dem Hauptgebäude, verwechseln.

Vier Tage nach dem Ereignis traf Dr. Malloy in Hamburg ein. Die Reise war problemlos verlaufen. In der ersten Zeit fand sie Unterschlupf bei einem Professor, mit dem sie jahrelang übers Internet korrespondiert hatte und der sie schon mehrmals zu einem Besuch eingeladen hatte. Der an Fachsimpeleien interessiert war und sonst keine Fragen stellte.

Ungefähr zeitgleich zum Terroranschlag hatte die „Neu Pest“ eine verheerende Größenordnung angenommen. Aus Irland war ein einziges großes Krankenlager geworden und die Zahl der Opfer stieg von Stunde zu Stunde. Es gab Todesfälle, meist waren es aber durch andere Erkrankungen schon geschwächte Menschen, Alte und Säuglinge.

Die Infrastruktur brach vollends zusammen, Fabriken stellten mangels Arbeitskräften ihre Produktion ein, Busse und Bahn fielen fast ganz aus, Behörden und Geschäfte mussten schließen. In den Krankenhäusern konnten nur noch die kritischen Fälle versorgt werden.

Mary schleppte sich nach einer Notversorgung und einer Nacht auf dem Flur der Klinik nach Hause. Dort traf sie auf ihre Männer. Sie waren kurz nach Mary erkrankt. Jay Pop fieberte, Ryan konnte nichts essen, nur dem Kleinen ging es noch gut.

Die Symptome waren die einer fiebrigen Magen-Darmgrippe in ihrer bösartigsten Form. Alle bekannten Krankheitserreger wurden allerdings von der Liste der Angreifer ausgeschlossen. Natürlich tauchten bald üble Gerüchte und Verschwörungstheorien auf. Angriff von feindlich gesonnen Mächten, ein mutierter Virus, eine biologische Waffe, die aus einem Labor entfleucht war. Die Phantasien bekamen ständig neue Nahrung. Die Angst griff um sich und wer es sich leisten konnte, flüchtete aus Irland. Es war weder der Nachbar Großbritannien oder ein anderes, europäisches Land von der „neuen Pest“ betroffen. Das führte auf eine erste Spur. Der Teufel musste seine Wiege im Lande haben und in den hier erzeugten Grundnahrungsmitteln oder im Trinkwasser stecken.

Über alle Nachrichtensender wurde verbreitet, dass ein multiresistenter Keim das Trinkwasser des Landes kontaminiert hatte. Man hatte alle Quellen und unterirdischen Wasservorkommen untersucht und auch Tiefenbohrungen vorgenommen. Das Ergebnis sei verheerend. Irlands Wasser sei ungenießbar, wie lange, sei ungewiss. Weder war der Typ noch die Herkunft des Krankheitserreger bekannt, noch gäbe es ein Gegenmittel. Chemiker und Labors stürzten sich auf den Feind. Jeder wollte ihn entlarven und ihm seinen Namen geben. Aber man fand nicht mehr als die üblichen Belastungen und Verunreinigungen im Wasser. Ihre Analysemöglichkeiten waren natürlich nicht so ausgereift wie die der staatlichen Labors.

Man kann ein Land mit über vier Millionen Einwohnern nur eine begrenzte Zeit mit Trinkwasser aus dem Ausland versorgen. Langfristig war dies keine Perspektive. Irland wurde zu einem unbewohnbaren Land erklärt. Hatten schon lange vorher Menschen aus wirtschaftlichen Gründen das Land verlassen, flohen sie jetzt aus Angst. Die Mehrheit wurde zwangsevakuiert. Etwa Zwanzigtausend Bewohner durften bleiben, nach welchen Kriterien diese ausgewählt wurden, blieb ein Rätsel. Man sagte ihnen eine langfristige Versorgung mit Wasser aus Schottland zu. Von heute auf morgen wurden die Grenzen dicht gemacht. Rund um die Insel zog man eine imaginäre Linie, die durch Militär und Marine lückenlos überwacht wurde. Eine vorübergehende Sicherheitsmaßnahme, um die verlassenen Häuser und Höfe vor Plünderungen zu schützen und etwa Unvernünftige daran zu hindern, zurückzukehren und sich wieder in Gefahr zu begeben. Nicht dem kleinsten Fischerboot sollte es gelingen, diese Grenze zu überfahren. Nur noch größere Versorgungsschiffe konnten die Häfen von Irland mit einer Sondergenehmigung anlaufen.

Iren, die in Deutschland oder Portugal oder wohin auch immer es sie verschlagen hatte, doch nicht ihr Glück, geschweige denn ein zufriedenstellendes Auskommen gefunden hatte und irgendwann zurück in die Heimat wollten, oder andere, die einfach aus schierem Heimweh aufgaben, wurde die Rückkehr verwehrt. Denn sie waren keine Iren mehr. Viele hatten es nicht einmal bemerkt und wenn, in dem Glauben gehandelt, es jederzeit wieder rückgängig machen zu können. Bei der Einreise, in den Übergangslagern, hatten sie es irgendwann aufgegeben, jedes Papier, jeden Antrag, den es zu stellen galt, bis zur letzten Seite durchzulesen. Sie hatten mit ihrer Unterschrift die irische Staatsbürgerschaft abgelegt und damit jedes Recht aufgegeben, in Irland zu wohnen, Geschäfte zu machen oder sich nur für drei Wochen Urlaub auf Irlands grünen Wiesen zu tummeln. Auch das wurde ihnen verwehrt. Besitzer hatten ihr kleines Cottage auf dem Lande, ihren vier qm Bootssteg, ihren Laden, ihre Erbansprüche und was nicht noch alles verloren. Auf den ersten Blick großzügige Entschädigungen sollten ihnen den Start in ein neues Leben, in einem neuen Land, erleichtern. Betrogen waren sie alle. Das ganze spielte sich hastig, leise und erstaunlich unbürokratisch ab. Iren, die es später wagten, vor Gericht zu gehen, verloren ihr letztes Geld und ihren Glauben an eine Gerechtigkeit. Berichterstatter der Medien, die genauer hinschauten, recherchierten und lächerliche Verschwörungstheorien in die Welt setzten, wurden mit Drohungen und anderen Mitteln mundtot gemacht.

Irland hatte seine Kinder nicht nur vor die Tür gesetzt, sondern sie auch um ihr Hab und Gut gebracht und ihrer Identität beraubt.

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