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Auf den Stufen der Kirche saßen Männer, Frauen, Kinder und verspeisten die Reste von den Tafeln der umliegenden Restaurants. Diese waren angesichts der immer größer werdenden Not dazu übergegangen, die Essensreste abends in Plastikkübeln vor die Hintertüren zu stellen. So hoffte man, die Gäste vor den immer dreisteren Belästigungen zu schützen.

Der Anblick erschütterte Carla jedes mal und manchmal warf sie den Leuten ein paar Münzen zu. Sie fühlte die Not der Menschen wie eine physische Substanz, die wie ein mittelalterlicher Pesthauch ihre Lungen verklebte und ihr das Atmen beschwerte. Dann war sie sich sicher, das es richtig war, sich zu den Demonstranten zu bekennen, die sich jeden Abend trafen und gegen das System und seine Ungerechtigkeiten protestierten. Die laut skandierend durch die Straßen zogen, den Verkehr lahmlegten, vor denen die Konsumbummler flüchteten und Geschäftsinhaber ihre Läden sicherten. Auch wenn es manchmal zu Gewalttätigkeiten nicht nur von seitens der Polizei kam. Sie war vorsichtig und versuchte die Orte und Situationen zu umgehen, die besonders brenzelig zu werden drohten. Genügte sich damit, in der trägen Masse mitzulaufen. Nie wäre sie bis in die Vororte der Reichen mitgezogen und hätte zusehen können, wie jemand einen Brandsatz auf eine Villa warf. In den Häusern wohnten Menschen, kleine Luisas.

Dass sie gleich mittags nach der Uni in so eine Reichenburg raste, um das Studium überhaupt finanzieren zu können, verschwieg sie. Sie scheute die Kritik, das Nachbohren, die Häme. Konnte sich vorstellen, was sie alles zu hören bekommen würde. Und an allem wäre etwas dran gewesen. Sie war nun mal so etwas wie eine weiße Mammi, die dem Kind eines Systemhalters den Hintern abputzte. Die ihm ermöglichte, dass er unbehelligt von Kindergequengel seinen Börsengewinnen nachjagen konnte. Sie hätte entgegenhalten können, dass auch reiche Kinder todunglücklich sind, wenn ihre Mutter gestorben ist. Dass es ihr nur um das Kind ging. Bei dem Gedanken an Luisa spürte sie einen heftigen Verlustschmerz. Denn ihr war klar, sie würde das Angebot nicht annehmen. Ab morgen würde sie arbeitslos sein.

Der Marsch durch die Stadt setzte sich in Bewegung. Die Masse vertrat ein buntes, politisches Farbspektrum. Auf den Plakaten und Transparenten ein Strauß von Forderungen und Anklagen. Caro sah bekannte Gesichter aus der linken Szene, sie wäre gerne bei ihnen gewesen, hätte sich dann sicherer gefühlt, aber die Menge war so dicht, dass sie nicht zu ihnen vordringen konnte. Trotz der Vermummungsverbote sah man feige Gestalten, die ihre Gesichter hinter grotesken Masken verbargen, als feierten sie ganz harmlos Karneval. In unmittelbarer Nähe ließen kahlgeschorene Kraftpakete mit nacktem Oberkörper ihre Muskeln spielen. Das verhieß nichts Gutes.

Die friedliche, fast Partystimmung schlug um, als Polizeieinheiten aus zwei gegenüberliegenden Seitenstraßen marschierten, den Zug in die Zange nahmen und versuchten, eine Gruppe zu isolieren. Wütende Schreie gellten, die ersten Steine flogen. Als die Polizei Tränengas einsetzte, brach Panik aus. Die Menge drängte zurück, Menschen stürzten, schrien, man riss sie hoch oder sie gingen im Gedränge der Leiber unter.

Carla kämpfte sich an den Rand durch und rettete sich in den Durchgang zu einem Hinterhof. Glaubte, sie sei in Sicherheit. Da fühlte sie einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf. Sie taumelte und konnte einen Sturz gerade noch auffangen. Vor ihren Füßen lag ein männerfaustgroßer Stein und daran klebte ihr Blut. Ungläubig hob sie den Stein auf, richtete sich auf, und wollte ihn wegschleudern. Sie hob den Arm. In diesem Moment kam ein Polizist auf sie zugerannt. Er hatte ein verstörtes, junges Gesicht. Er hob eine Pistole und schoss ihr mitten in den Bauch.

Carla starb noch in der gleichen Nacht im Krankenhaus. Der Polizist saß vor der Intensivstation auf einem Plastikstuhl und hielt seine Knie umklammert, die nicht aufhören wollten zu zittern.

Die Männer hetzten ihn, als ginge es um Sekunden, als seien die Brandstifter schon auf dem Weg zu seinem Haus. Als alles verpackt war, bevor er in den Wagen stieg, wies er ihre Eile zurück. Zeit, um Abschied zu nehmen, um das unterdrückte Gefühl der Trauer wenigstens ein paar Minuten zuzulassen, das musste man ihm lassen. Er drehte ihren ungeduldigen Mienen den Rücken zu. Er stand mit Luisa auf dem Arm in der Auffahrt. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Luft war noch kühl, aus dem Rasen stiegen dunstige Schleier und die niedrige Sonne malte leuchtende Lichtflecken in das Laub. Neben dem Eingang stand Luisas Dreirad. Es sah aus, als würde es warten. Als hätte es wie in einer dieser Kindergeschichten einen eigenen Willen und würde gleich hell tuten, damit Luisa aus dem Haus stürzen und in die winzigen Pedale treten würde.

„Ein wunderbarer Ort, um darin Kinder aufzuziehen.“ hatte seine Frau gesagt, als sie das erste mal vor dem Haus stand. Lenz erinnerte sich an den Tag, als er die Kleider seiner Frau aus dem Schrank ausgeräumt hatte. Eine ähnlich tiefe Traurigkeit fühlte er jetzt. Ein Schmerz, der noch einmal alles umarmen oder festhalten wollte. Er hatte nie woanders als in Hamburg leben wollen, aber in den letzten Jahren war ihm seine Stadt fremd geworden. Wie ein naher Verwandter, der sich dem Suff ergeben hatte und sich immer mehr gehen ließ. So kam sie ihm vor. Verschuldet, marode, heruntergekommen. Jemand, von dem man sich lossagen musste, damit man nicht von dem Elend angesteckt würde. Ein Ort, ein Land, vor dem man seine Kinder schützen musste.

Irrländer

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