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Rang, Herkunft und Ehre
ОглавлениеDie soziale Stellung eines Individuums hängt in der mittelalterlichen Welt ebenso wie in der Welt von Game of Thrones vollkommen davon ab, wer seine Eltern und Großeltern waren. Für Mitglieder der Unterschichten ist soziale Mobilität kaum zu erreichen; der erstaunliche Aufstieg von Varys – vom Kind zweier Sklaveneltern in Lys über ein Leben als kastrierter Betteljunge und Prostituierter in Myr bis empor zum Mitglied des Kleinen Rates der Sieben Königreiche – ist geradezu schwindelerregend. Seine halbkriminellen Tätigkeiten – das Hehlergeschäft mit Diebesgut in Pentos, für das er ein Spionagenetz schafft, das sich über ganz Essos erstreckt – lassen seinen Ruf als Meister der Flüsterer bis über die Meerenge dringen. Lord Varys hat keine Ländereien, gehört keinem Haus an und führt seinen Titel ganz und gar ehrenhalber. Nur wenige Hauptpersonen haben einen ähnlich kometenhaften Aufstieg erlebt; selbst Lord Baelish hat ja immerhin Land und einen Titel ererbt, obwohl das Haus Baelish erst vor relativ kurzer Zeit gegründet worden ist und Kleinfinger (so sein abfälliger Spitzname) sich immer schmerzhaft seiner sozialen Unterlegenheit bewusst ist, sei es gegenüber den Tullys, mit denen zusammen er aufgezogen wurde, oder gegenüber den Starks. Wie Lord Baelish seinen scharfen Verstand und seine Fähigkeiten genutzt hat, um in die Stellung eines Meisters der Münze aufzusteigen – sie ist in mancher Hinsicht vergleichbar mit jenen Ämtern, die der Dichter Geoffrey Chaucer im 14. Jahrhundert in der Verwaltung Edwards III. und Richards II. bekleidete –, ist überaus interessant, und in Kapitel 3 werden wir ihn uns genauer ansehen.
Für die Handwerker, Söldner, Bauern, Matrosen und Prostituierten der wichtigsten Königreiche und Städte in Essos und Westeros dient ihre Herkunft lediglich dazu, ihre soziale Rolle zu bestätigen. Die augenfällige Ausnahme bildet dabei Bronn. Wenn ein Mann sich dagegen in anderen Subkulturen als Sohn seines Vaters X bezeichnet, stellt er seine Herkunft klar und gibt einen guten Grund dafür an, dass man ihn respektieren soll: Shagga von den Felsenkrähen hält es für unverzichtbar, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu unterstreichen, dass er der Sohn des Dolf ist. Auch Drogo ruft, wenn er sich einer förmlichen Sprache bedient, in Erinnerung, dass er der Sohn Bharbos ist (ein Name, in dem die Barbarei steckt, welche die Andalen den Pferdeherren unterstellen). Vor dem Aufkommen der Familiennamen war der Gebrauch eines Patronyms – eines Vaternamens – wie heute noch in Island die einzige Methode, jemanden von anderen Personen mit demselben Vornamen zu unterscheiden. So hat der Erzähler des Beowulf die Angewohnheit, außer dem gleichnamigen Helden seines altenglischen Gedichts auch Beowulfs Vater Ecgtheow zu erwähnen. In diesem speziellen Fall hebt der Verweis nicht nur den Titelhelden von anderen Beowulfs ab, sondern erinnert das ursprüngliche Publikum des Gedichts – und auch die Personen innerhalb der Handlung – an die Geschichten über Beowulfs Vater. Als Hrothgar, König der Dänen, das Patronym Beowulfs erfährt, kann er ihn augenblicklich einordnen: als Sohn eines Mannes nämlich, dem Hrothgar in jüngeren Jahren beigestanden hat, ein Umstand, der es dem bedrängten Dänenkönig leichter macht, die Hilfe des jungen Beowulf gegen das Ungeheuer Grendel anzunehmen.
Das Geblüt ist für die Mitglieder der Großen Häuser alles, was zählt, und ihr relativer Status bestimmt sich anhand der Länge ihrer Familiengeschichte. Seit über 8000 Jahren sind die Starks Könige des Nordens beziehungsweise dessen Hüter gewesen, seit der Zeit Brandons des Erbauers, der nicht nur Winterfell gebaut hat, sondern – was noch eindrucksvoller ist – auch die Mauer. Andere Große Häuser können ihre Ahnenreihe bis zur Invasion der Andalen oder auch, im Fall der Targaryens, bis in die Zeit vor dem Untergang Valyrias zurückverfolgen. Wie auch der mittelalterliche Adel glauben die Angehörigen der Großen Häuser, dass ihre Privilegien, ihre Autorität und ihr ideologisches Selbstverständnis als „Edle“ durch das Blut weitergegeben werden. Diese Ansicht ist nicht auf Westeros beschränkt, denn nicht umsonst gebrauchen die Dothraki unter sich den Ausdruck „Blut von meinem Blut“. Auch ist die Überzeugung, welche Macht das Blut hat, keine bloße Metapher, denn das reale Blut von Königen besitzt in den Augen von Melisandre und vielleicht auch im Kult des Roten Gottes, dem sie dient, besondere Kräfte. So wirft Stannis drei Blutegel, die sich vorher an Gendry, dem Bastardsohn Robert Baratheons, vollgesogen haben, in ein Kohlebecken und verflucht dabei seine Widersacher – Robb Stark, Balon Graufreud und Stannis’ vermeintlichen Neffen Joffrey. Hat das ihr Schicksal besiegelt? Melisandre mag das behaupten, wir allerdings können für ihren Tod jeweils andere direkte Ursachen angeben. Gleichwohl ist die Blutmagie mächtig und aus diesem Grund generell ein Tabu; ihre Ergebnisse – etwa der vegetative Zustand Drogos, das Schlüpfen der Drachen, die Weissagung der maegi für Cersei oder die Ermordung Renlys – sind unberechenbar und gefährlich.
Eine eheliche Abstammung ist unerlässlich, weil es lebenswichtig ist, zu wissen, mit wem man verwandt ist, also muss man vor Bastarden und denjenigen, die ihre Herkunft verschweigen oder verschleiern, auf der Hut sein. Jon Schnees uneheliche Geburt bestimmt sein ganzes weiteres Schicksal; sie steht hinter seiner Entscheidung, der Nachtwache beizutreten, und später hinter seinem Aufstieg zu deren Kommandanten. Teilweise wird Jons Entschluss, sich der Wache anzuschließen, auch durch seine Heldenverehrung für seinen Onkel Benjen gefördert, hauptsächlich aber treibt ihn die Einsicht an, dass es in Winterfell keinen Platz für ihn gibt. Er kann nicht darauf hoffen, einen Herrensitz zu erben oder in der Burg selbst eine Aufgabe zu finden, die sich mit denen seiner Brüder messen kann. Auch Roose Boltons widerlicher Bastard Ramsay ist ein Schnee, bis ihn Roose offiziell als Sohn und Erben adoptiert. Häufig geraten Ramsays Bemühungen, sich des Namens seines Vaters würdig zu erweisen, in Konflikt mit seinen sadistischen Impulsen, doch in der Szene, in der Roose ihn legitimiert (4.8), ist sehr deutlich zu spüren, wie sehr Ramsay sich nach der Anerkennung durch den Vater gesehnt hat. In ähnlicher Weise schließen die Folgen der unehelichen Herkunft Joffrey und Tommen davon aus, rechtmäßig auf dem Eisernen Thron zu sitzen. Nicht so sehr der Inzest, aus dem sie stammen, ist daran das Problem als vielmehr, dass sie – anders als ihr schwarzhaariger älterer Bruder, der als Kind an einem Fieber starb (so erinnert sich Cersei in „Der Königsweg“: 1.2) – kein Baratheon-Blut in den Adern haben. Zwar stellen die vielen Bastarde, die Robert mit Frauen aus der Unterschicht in Königsmund gezeugt hat, keine große Gefahr für den Thronanspruch dar, aber ähnlich wie König Herodes im Neuen Testament oder auch König Artus in Sir Thomas Malorys Morte d’Arthur, einem Werk des 15. Jahrhunderts, hält Joffrey es für sicherer, alle potenziellen Rivalen beseitigen zu lassen.
Malory zufolge weissagt Merlin, dass ein im Inzest gezeugter und im Mai geborener Artussohn den Untergang des Königreichs herbeiführen wird. Der Versuch des Königs, Mordred zu beseitigen, scheitert, denn das Schiff, welches das Baby von den Orkneys (wo Artus’ Halbschwester es geboren hat) nach London bringen soll, erleidet unterwegs Schiffbruch; das Kind wird an Land gespült und von einem Fischer großgezogen. Die anderen im Mai geborenen Jungen setzt Artus in ein Boot und lässt sie aufs Meer hinaustreiben; alle kommen um. Dennoch lässt sich die Prophezeiung Merlins nicht abwenden, denn Mordred überlebt trotz allem und spielt seine schicksalhafte Rolle zu Ende. In gleicher Weise glaubt Cersei, alle Kinder Roberts seien tot, Gendry aber hat allen redlichen Bemühungen Melisandres zum Trotz überlebt. In der Fernsehserie ist seine Rolle mit der von Edric Sturm verschmolzen, einem weiteren Bastard Roberts, und er kann mit Davos’ Hilfe von Drachenstein fliehen. In den Romanen arbeitet Gendry als Schmied in jener Herberge an der Wegkreuzung, wo es zu so vielen schicksalhaften Begegnungen kommt, und sein weiteres Geschick bleibt der Spekulation überlassen. Dass er der einzige überlebende Sohn des Hauses Baratheon ist, Legitimität hin oder her, umgibt ihn mit einer besonderen Aura. Ned Stark jedenfalls hat etwas Besonderes an Gendry bemerkt und bot seinerzeit an, ihn selbst zu trainieren: „Sollte der Tag je kommen, an dem der Bursche lieber ein Schwert schwingen will, als es zu schmieden, schickt ihn zu mir“ (1.4). Auch in Versromanen des Mittelalters kommt es manchmal so, dass der erfahrene Ritter dem jungen Mann, der ein ganz gewöhnlicher Bursche zu sein vorgibt, anmerken kann, dass er von höherer Abkunft sein muss, als er behauptet. In Malorys „Tale of Sir Gareth“ beschließt Gareth, der Sohn des Königs von Orkney, seine Identität geheim zu halten, als er nach Camelot kommt, und darf auf eigenen Wunsch ein Jahr lang in der Küche arbeiten, ehe er die Bitte äußert, in ein Abenteuer geschickt zu werden. So will Gareth sich von seinen Brüdern und seinem Vater lösen, denn er will wegen seiner Fähigkeiten und seines Charakters geachtet sein, nicht wegen seiner Abstammung. Sein Mentor wird Sir Lancelot, und so sicher dieser ist, dass Gareth edlen Geblüts ist, geht er doch aus Höflichkeit auf die Maskerade ein und übernimmt es am Ende des Jahres schließlich auf eigene Verantwortung, Gareth zum Retter zu schlagen. In einer anderen Geschichte Malorys wird der Sohn eines Rinderhirten, den das Rittertum fasziniert –, und der mit der Landwirtschaft hoffnungslos überfordert ist – von Merlin als der uneheliche Sohn König Pellinores identifiziert. Artus schlägt den jungen Tor zum Ritter und er wird ein geschätztes, tüchtiges Mitglied der Tafelrunde.4 Ob auf Gendry auch eine solche Standeserhöhung wartet, ist schwer vorherzusagen; die Serie gibt uns keinen Hinweis, wohin er gegangen ist, nachdem Davos ihn aus dem Verlies befreit hat.
Adlig zu sein heißt also ein besserer Mensch zu sein als das gemeine Volk. Die Aristokratie – so möchte sie wenigstens glauben – benimmt sich besser, hält ihr Wort, ist mutig, unerschrocken und, wo sie das kann, auch großzügig. Für Männer ist das militärische Können entscheidend, seien sie nun Ritter oder schlichte Krieger wie Ned und Robb Stark. Die Frauen des Adels führen ein beengteres Leben als Schachfiguren bei der Schließung von Ehebündnissen und als Mütter, aber auch als Ratgeberinnen und Strateginnen (besonders innerhalb der häuslichen Sphäre). Man verlangt von ihnen Schönheit und Intelligenz, aber auch Gehorsam und Anstand. Allerdings unterscheidet sich Westeros von seinem mittelalterlichen Vorbild insoweit, als man sich anscheinend nicht darauf beruft, dass die Götter den Status quo vorschreiben oder unterstützen. Die Denker des Mittelalters erklärten, Gott habe die verschiedenen Stände geschaffen – den kämpfenden (den Adel), den betenden (die Kirche) und den arbeitenden (die Bauern). Zweifellos hatte Gott sein Gefallen am aufkommenden Bürgertum aus Handwerkern, Händlern, Kaufleuten und Verwaltungsmitgliedern, die keinen richtigen Platz im alten Modell hatten, allerdings ist fraglich, inwieweit sich seine Zustimmung auch auf den sogenannten „vierten Stand“, die Frauen, erstreckte. Eine offensichtliche religiöse Untermauerung des Ständesystems in Westeros fehlt; um die relative Entfremdung der meisten handelnden Personen von ihrer Religion wird es in Kapitel 2 und 3 gehen. In den südlichen Teilen der Sieben Königreiche (oder „Königslande“), wo der Glaube an die Sieben vorherrscht, ist der Adel fest ans Konzept des Rittertums gebunden, das mit dem mittelalterlichen Begriff der Ritterlichkeit praktisch identisch ist. Um Näheres zum Rittertum und den Konsequenzen daraus wird es in Kapitel 3 gehen.
Einem Adelsgeschlecht anzugehören verleiht den Adligen das, was wahrscheinlich den wichtigsten Bestandteil jeder Einzelfigur bildet: ihr persönliches Ehrgefühl. Bei der Ehre dreht es sich – besonders im Fall eines Mannes – darum, dass man sein Wort hält, sich von anderen nicht beleidigen lässt und sich der Geschichte seines Hauses bewusst ist. Ist der Mann ein Bastard, startet er mit einem Nachteil ins Leben; hat er dagegen zum Beispiel überhaupt keinen Nachnamen, sind seine Aussichten, sich Ehre zu erwerben, äußerst gering. Theon ist von einigen Teilen der Verantwortung ausgeschlossen, welche die Zugehörigkeit zum Haus Stark mit sich bringt, was an seinem fragwürdigen Status liegt – der erst nach und nach in den frühen Episoden der ersten Staffel erkennbar wird. Theons Stellung als Geisel verletzt sein Ehrgefühl, besonders angesichts der unnachgiebigen Ansichten seines Vaters, worin die Ehre eines Graufreuds besteht, und das hat schreckliche Folgen, politisch wie persönlich.
Das Leben als Individuum hat nicht so viel mit jener wesentlichen, unabdingbaren Kernidentität zu tun, die wir Menschen der Gegenwart zu besitzen glauben. Ganz wie im Mittelalter (vor der geistigen Revolution des 12. Jahrhunderts, die manchmal als „die Geburt des Individuums“ beschrieben wird) wird in der bekannten Welt die Identität eines Menschen von der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen geprägt. Wer jemand ist, das hängt in erster Linie vom Geschlecht und dann von seiner Stellung ab – davon, wer seine Eltern, seine Verwandtschaft und sein Haus sind, welche Götter er verehrt, ob er ein Ritter ist oder nicht, wo er lebt und welchen Kandidaten er als rechtmäßigen Inhaber des Eisernen Throns ansieht. Soweit die Persönlichkeit eines Mannes aber einen unabdingbaren Kern hat, besteht er wahrscheinlich in dem Wert, den der Mann auf seine Ehre legt.
Die Ehre ist eng verknüpft mit den Vorstellungen von Wahrheit und Moral, damit, was man für richtig hält. Angesichts der verschiedenen Religionen, welche auf den beiden Kontinenten vorherrschen, bleibt ungewiss, ob die Moral zwangsläufig sehr eng mit den religiösen Glaubensüberzeugungen verknüpft ist. Ehre ist wechselhaft, ist Verhandlungssache und kann verloren, gewonnen, geopfert werden oder auch allmählich schwinden; dafür sorgen die Entscheidungen, vor die man sich in den Wirren der Sieben Königreiche gestellt sieht. Jenseits des Meeres in Essos ist vieles anders, so grübelt zumindest Barristan Selmy: „In dieser Schlangengrube namens Meereen war der Gedanke an Ehre so albern wie das Gewand eines Narren“ (TD 18 = DD 55). Und wirklich liegt einer der stärksten Unterschiede zwischen den östlichen Kulturen und der westlichen, wie wir ausführlich in Kapitel 5 sehen werden, im westlichen Begriff der persönlichen Verantwortung, einer Ethik der Schuld (die nicht besonders stark von der Auffassung abhängt, dass die Götter, ob nun alt oder neu, auf uns blicken) sowie in einem ausgeprägten Schamgefühl hinsichtlich des sozialen Verhaltenskodex für den Adel. Im Osten ist die Ethik situationsabhängig; die Menschen sagen Daenerys das, was sie ihrer Meinung nach hören will, und Verstellung ist ein Mittel zum Zweck. Ein treffendes Beispiel ist Hizdahr zo Loraqs mutmaßliche Verbindung zu den Söhnen der Harpyie; Daario Naharis ist fest von ihr überzeugt und rät dazu, ihn und alle anderen Großen Herren zu töten. Daenerys’ Ehrgefühl verbietet es ihr dagegen, jemanden ohne Beweise hinzurichten. Nicht, als hätte Essos ein Monopol in Sachen Doppelzüngigkeit, aber Walder Frey und Roose Bolton haben ihren Ruf durch den Bruch aller ethischen Normen auf der Roten Hochzeit immerhin unheilbar ruiniert, und Robb empfindet bittere Schuldgefühle, als er sein Versprechen bricht, ein Frey-Mädchen zu heiraten. Hizdahr dagegen spielt das Ehrenspiel der Westerosi nicht mit und hat wenig Gewissensbisse, die Königin zu belügen. Keinen Auftritt in der Fernsehserie hat die Grüne Grazie, die Daenerys als Hohepriesterin der alten Religion der Ghiscari, welche in Meereen praktiziert wird, aus der Sicht einer Insiderin berät, und so bleibt die Khaleesi angewiesen auf den Rat anderer Zugezogener oder auf den von Einheimischen, die ihre eigenen Schäfchen ins Trockene bringen wollen.
Ned Starks Ehrgefühl, das sich in seiner Entschlossenheit äußert, die Wahrheit über Cerseis Kinder ans Licht zu bringen, ist sein Verhängnis. Als Varys ihn in seiner Kerkerzelle besucht, erhält Ned die Chance, sein Leben zu retten, indem er die Wahrheit leugnet; in diesem Fall werde man ihm erlauben, das Schwarz anzulegen und sich zur Mauer zu begeben. Zornig weist Ned das Angebot von sich: „Denkt Ihr, mein Leben ist mir von solchem Wert, dass ich meine Ehre eintauschen würde gegen ein paar Jahre mehr von … wovon? (…) Ich habe schon vor langer Zeit zu sterben gelernt.“ (1.9) Doch für Ned erweist sich das Leben seiner Töchter gegenüber seiner Ehre letztendlich als wichtiger, und so legt er öffentlich ein entehrendes Geständnis ab, er sei ein Verräter – alles umsonst.
Die Vorstellung des Ansehens, des „Gesichts“, ist ein fester Bestandteil der Ehre: man respektiert den sozialen Stellenwert eines anderen Mannes und erwartet von ihm, dass er einem ebenfalls Respekt entgegenbringt. Reagiert ein Mann nicht auf eine Beleidigung, dann verliert er sein Gesicht und damit auch seine Autorität. Khal Drogos Macht über sein Khalasar hängt entscheidend vom Ansehen ab; er gerät schnell in Zorn und duldet keinen Widerspruch gegen seine Befehle. In den Augen seiner Männer schwächt Daenerys’ Einfluss auf ihn seine Position; obwohl sie Drogos kühner Behauptung zustimmen, sie wollten die Meerenge überqueren, führen Daenerys’ Eingreifen zur Rettung von Mirri Maz Duur und ihre Bereitschaft, Befehle zu erteilen, die dem Khalasar zuwider sind – gestützt auf ihre Beziehung zum Khal als Machtgrundlage –, letztendlich den Untergang Drogos herbei. Zwar gewinnt er seinen Kampf gegen Mago, doch seine eiternde Wunde bedeutet, dass er sich nicht länger auf seinem Pferd halten kann – „ein Khal, der nicht reiten kann, ist kein Khal“ (1.9) –, und seine Autorität verflüchtigt sich. Die Blutreiter innerhalb des Khalasars lassen ihren sterbenden Anführer und seine Khaleesi bereitwillig im Stich.
Im Lauf seiner Ehe mit Daenerys lernt Drogo Geduld; er hält es mit Viserys länger aus, als man erwarten sollte. Doch Viserys’ letzte Forderung, Drogo solle sein Wort halten, und seine Verletzung des Tabus, keine Waffen in Vaes Dothrak zu tragen, lassen sich nicht ignorieren. Dass Drogo den nörgeligen Bruder seiner Frau bestraft, indem er ihm jene goldene Krone gibt, nach der Viserys giert, lässt den Leser dessen Besessenheit auf ironische Weise zur Kenntnis nehmen, zeigt aber auch die Unbarmherzigkeit und die Raffinesse Drogos. Viserys hat auf das Verbot gesetzt, Blut in Vaes Dothrak zu vergießen, und glaubt Drogo ungestraft beschimpfen zu können, Drogo aber erkennt augenblicklich, wie er das Tabu umgehen und Viserys ein für alle Mal die passende Antwort erteilen kann. Und indem er ihm ein schreckliches Ende bereitet, gewinnt er Ansehen nicht nur bei seinem Khalasar, sondern sogar bei Daenerys.
Könige haben mehr Spielraum als Normalsterbliche, wenn sie sich missachtet sehen; Robert lässt sich von Ned aufziehen, während er bei anderen auf seiner Würde besteht. Joffrey dagegen hat keinerlei Humor und seine tief sitzende Unsicherheit auf dem Thron macht sich bemerkbar, noch ehe er gekrönt ist. Der Sänger Marillion, dem wir zuerst in dem Gasthaus begegnet sind, wo sich Catelyns und Tyrions Wege gekreuzt haben, wird von Joffrey grausam bestraft, weil er eine anzügliche Ballade über Robert, den Eber und den „Löwen (…) der nächtens bei mir liegt“ gedichtet hat. (1.10) Marillions Verse sind allerdings hart an der Grenze und deuten an, dass Cerseis Geheimnis inzwischen Stadtgespräch ist. Joffreys Unbarmherzigkeit verbindet sich mit seinem Sadismus und so lässt er dem Sänger durch Ilyn Payn die Zunge herausreißen.