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FORSCHUNGSSCHIFF KELDYSH

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2.



Richard kehrte im Schutz der Dunkelheit zu seinem Forschungsschiff, der Keldysh, zurück, die 11 Seemeilen südlich vor der Küste auf 51° 25' Nord 8° 33' West vor Anker lag. Das Schiff war ein Gemeinschaftsunternehmen des North American Institute Of Maritime Research, kurz NAIM, und der Royal Canadian Navy. Sah man genau hin, konnte man die übermalten Embleme am Rumpf des ehemaligen Eisbrechers der Coast Guard noch erkennen.

Die Einrichtung wurde aus staatlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Mitteln als institutseigene Gesellschaft der University of Victoria gegründet. Ihre Aufgabe bestand in erster Linie in der Untersuchung der unzähligen Flugzeug-,

Schiffs- und U-Bootwracks vor der kanadischen Küste und den Risiken, die von ihnen für das Ökosystem der Meere, Küsten und den zivilen Schiffsverkehr ausgingen. In Zeiten des Kalten Krieges war es üblich gewesen, dass sich Russen und Amerikaner mit ihren U-Booten gern mal durch den arktischen Ozean jagten und den Kanadiern dabei ihren Schrott hinterließen. Dieser Nachlass machte inzwischen nicht nur mehr Umweltschützer nervös. So lag es in der Natur der Sache, dass die Militärs, Geheimdienste und Politiker ihrem Treiben besondere Aufmerksamkeit schenkten und zu ihren Auftraggebern gehörten.

Die NAIM finanzierte das Schiff in erster Linie aus Forschungs- und Drittmitteln. Das bedeutete, dass die Crew normalerweise aus zivilen Personen bestand, im Ernstfall jedoch der Marine unterstellt werden konnte. Das war im wahrsten Sinne des Wortes ein Minenfeld, durch das sich der Leiter des Instituts, Paul Cunningham, erst einmal geschickt hindurchmanövrieren musste.

Richard hingegen rannte für gewöhnlich einfach erst mal durch und formulierte seine Fragen erst dann, wenn der Sprengstoff bereits hochgegangen war. Er tat, was er für richtig hielt. Meist kam er damit durch, weil er das »Grundproblem« dabei löste. Er gehörte zu der Spezies von Wissenschaftlern, deren Motivation aus ihrer kindlichen Neugier genährt wurde. Wenn er loszog und in seinen Gastvorlesungen und Vorträgen von seinen Unternehmungen berichtete, hatten die Zuhörer bald das Gefühl, in eine Fortsetzung von Indiana Jones geraten zu sein. Weder Karrierestreben noch Geld trieben ihn an, sondern die Suche nach dem Abenteuer. Cunningham hatte ihm einmal vorgeworfen, er habe die Welt seiner »Was ist Was«-Bücher niemals verlassen, sei lebensmüde und benötige dringend einen Therapeuten. So wie 2005, auf einer Expedition zu einem havarierten russischen Atom-U-Boot in der Baffin Bay. Damals kam ein US-amerikanisches Team von Wissenschaftlern an Bord. Die Männer waren schweigsam und erstaunlich gut durchtrainiert – Navy Seals. Selbst Richard konnte ihnen nicht entlocken, welches Ziel ihre Forschungsarbeiten im Detail verfolgten. Nachdem der Mannschaft der Keldysh der Zugang zu weiten Teilen ihres eigenen Schiffs verwehrt wurde, kabbelte sich Richard mit den Jungs das erste Mal richtig. Noch während der laufenden Arbeiten tauchten im Internet Bilder eines amerikanischen Atom-U-Bootes auf, das nur wenige Meilen vor der kanadischen Küste die Eisdecke durchbrach. Kanada betrachtete diese Aktion als eine Verletzung seiner Hoheitsgewässer und verwies die Amerikaner vorerst von Bord. An Richard blieb der Verdacht kleben, dass die Veröffentlichung der Fotos auf sein Konto ging. Beweisen konnte man es ihm allerdings nie.

Nun ließ Cunningham ihm nicht einmal die Zeit, die durchnässte Kleidung zu wechseln, geschweige denn, eine warme Dusche zu nehmen. Richard kippelte vor dem abgenutzten Stahlrohrrahmenschreibtisch auf einem grauen kunstleder-bezogenen Metallstuhl vor und zurück und fummelte mit einem maßstabgetreuen Modell der Keldysh herum.

»Hör auf zu kippeln und stell das wieder hin! Wir brechen ab.«

»Was brechen wir ab?«

»Die Expedition zur Lusitania ist beendet.«

»Das kannst du nicht machen.«

»Befehl von oben.«

»Nun sei doch nicht so einsilbig, verdammt. Wir haben jetzt endlich die Beweise, dass sich Konterbande auf der Lusitania befunden hat.«

»Tut mir leid, Richard. Eine Sondereinheit der Briten, genauer gesagt der SAS, war bereits an Bord und hat alles, was mit der Lusitania in Zusammenhang stand, beschlagnahmt.«

»Wann?«

»Die sind vor einer halben Stunde wieder weg.«

»Das lassen sich die Amis gefallen?«

»Falsche Frage. Ist das nicht ein eindeutiges Indiz für deine Theorie, dass die Tommies etwas verheimlichen wollen, wenn sie es wagen, ein amerikanisches Schiff auf Expedition zur Lusitania außerhalb der Dreimeilenzone zu kapern und zu plündern? Ich soll dich übrigens von einem Lieutenant des SIS grüßen. Sei froh, dass der dich da oben auf den Klippen nicht erwischt hat.«

»Was meinst du? Welche Klippen?«

»Lass gut sein. Wir haben neue Order bekommen.« Cunningham deutete auf einen Aktendeckel vor sich.

Richard zog das Dossier vom Tisch. »Forsetas, der germanische Gott der Winde. Windkraftanlagen in der Nordsee. Nicht mein Metier. Kann das nicht jemand anderes machen?«

»Reinschauen, sagte ich. Ich habe sonst niemanden. Außerdem will ich dich aus der Schusslinie haben.«

»Ich wollte nächste Woche meine Söhne besuchen.«

»Dein Urlaub ist gestrichen. Nimm sie mit.«

»Das ist nicht dein Ernst? Ich habe sie drei Monate nicht gesehen, und jetzt soll ich sie vier Wochen mit einem Haufen schrulliger Wissenschaftler auf diesem Kahn hier einbuchten. Ich wollte Ferien in Dänemark machen und nicht meine Kinder zwangsinternieren.«

»Da mache ich mir keine Sorgen, Richard. Bisher hast du

deine Unternehmungen immer noch zu einem Abenteuer für alle Beteiligten gemacht. Denen wird schon nicht langweilig werden. Wie geht´s den beiden überhaupt?«

»Gut … nehme ich an. Viel bekomme ich ja nicht mit.«

»Spielt der Kleine noch Fußball? Wie heißt er noch?«

»Jackson. Ja, er ist Torwart. Sie nennen ihn ›die Katze‹,

weil er jedem Ball hinterherhechtet.«

»Und der Große? Freddy? Fotografiert er noch?«

»Mit wachsender Begeisterung. Er hat mir zu Weihnachten eine digitale Spiegelreflexkamera aus dem Kreuz geleiert.«

»Na, perfekt, dann kann er ja die Fehltritte seines Vaters dokumentieren.«

»Ha, ha, ha.«

»Ganz der Daddy. Was ist, wenn ich dir sage, dass dort das U-Boot vor der Küste liegt, das angeblich die Lusitania versenkt haben soll. Und wir sollen es untersuchen.«

»Wo?«

»Aha! Jetzt habe ich dich bei den Eiern.«

Cunninghams gesellschaftlicher Hintergrund ließ nur selten derart verbale Entgleisungen zu. Er war der älteste von sechs Geschwistern aus einer streitbaren »Dynastie« von schwarzen Bürgerrechtlern aus Toronto.

Während seine Brüder sich auf Demonstrationen mit dem Ku-Klux-Klan prügelten, strebte er konsequent eine Karriere als Wissenschaftler an und machte sich schnell einen Namen in der Tiefseeforschung. Nach einer Ausbildung zum Marinetaucher studierte er am Geo Engineering Centre des Royal Military College of Canada. Im Anschluss an seine Militärzeit wurde er an die University of Victoria als Professor auf einen Lehrstuhl des Fachbereichs Meereswissenschaften berufen. Den bei den Streitkräften üblichen Jargon konnte er, besonders wenn er in Rage war, nicht ablegen.

Mit einer Größe von ein Meter sechsundneunzig und hundertdreißig Kilo bot er ein imposantes Erscheinungsbild. Sein ergrautes Haar unterstrich sein selbstbewusstes und seriöses Auftreten in der immer gleichen Kombination aus einem dunkelblauen Anzug mit weißem, gestärktem Hemd und roter Krawatte. Seine Augen hinter der randlosen Brille waren trotz seiner 62 Jahre hellwach, und der kugelige Bauch, der ihm das Aussehen eines Teddybären verlieh, konnte nicht über die ausgesprochene Agilität und Tatkraft hinwegtäuschen.

Richard und er hatten sich an der Universität Bremen kennengelernt. Damals studierte Richard Geografie und im Nebenfach Ozeanografie und Geologie. Cunningham hatte zu der Zeit eine Gastprofessur an der Fakultät für maritime Geowissenschaften, dem MARUM, angenommen. Die beiden waren sich von Anfang an sympathisch und frönten manchen Abend bei einem guten kanadischen Whisky gemeinsamen Leidenschaften, wie dem Mythos um die Lusitania oder dem Gesang von Klassikern der Musikgeschichte. Kombinierten sie beides, schmetterten sie auch gern einmal alte Seemannslieder.

Richards fundierte Kenntnisse über den Untergang der Lusitania waren der Grund, warum Cunningham Richard davor bewahrte, durch die Abschlussprüfung zu rasseln und eine Karriere als Erdkundelehrer einschlagen zu müssen. Er wollte ihn in seinem Team haben. Seither konnte Richard sich darauf verlassen, wann immer er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte, der alte Herr wäre für ihn da.

So auch vor zwei Jahren. Da holte Cunningham ihn aus der Beugehaft. Richards Ehefrau war in Deutschland mit einem seiner Kumpels durchgebrannt und hatte sich scheiden lassen. Richard verlor völlig den Boden unter den Füßen. Seine kleine Firma ging den Bach runter, er selbst kehrte zurück nach Kanada. Dort verkroch er sich für Monate in den einsamen Wäldern der Coast Mountains.

Als er sich wieder soweit aufgerappelt hatte, um seine Söhne in Deutschland zu besuchen, wurde er von ein paar freundlichen Beamten in Zivil am Flughafen abgefangen, die ihm einen internationalen Haftbefehl wegen Unterhaltsschulden und Körperverletzung unter die Nase hielten. Richard hatte seinem Kumpel mit schlagenden Argumenten die Freundschaft gekündigt. Da er kaum mehr als seinen alten Pickup, die Klamotten, die er auf dem Leib trug, und seine Kameraausrüstung besaß, reagierte Richard weniger nett, widersetzte sich der vorläufigen Festnahme und landete in U-Haft.

Nach wenigen Tagen im Gefängnis überwand er seinen Stolz und rief Cunningham an. Der gab ihm einen gut bezahlten Job als Analytiker, und von da an konnte seine Ex mithilfe der Justiz einiges an Unterhaltsgeld auf den Kopf hauen und der »Spacken«, wie er ihren neuen Lover gern bezeichnete, sein Schmerzensgeld verjubeln.

»Du bist mit deiner Aktion einigen hochrangigen Beamten gewaltig auf die Füße getreten. Ich sorge nur dafür, dass du mit ein bisschen Glück deinen Job behältst. Außerdem bist du Geograf.«

Richard wusste, was nun kam, hob die Hände und begann zu dirigieren, damit Cunningham seine alte Leier abspulen konnte. Fast zeitgleich wiederholten sie den wohlbekannten Satz: »… und deshalb der ideale Allrounddilettant, der von nichts eine Ahnung hat, aber überall seine Nase hineinsteckt.«

Wie ihm dieser Spruch auf den Geist ging.

»Komm rüber an den Kartentisch, und ich zeige dir im Detail, worum es geht. Ich brauche dich für die Recherche, weniger wegen deiner fundierten Kenntnisse in Meeresgeologie. Also hör jetzt zu. Alle Details über das Windparkprojekt findest du in dem Bericht. Unser Kunde Eric Fisher will dort achtzig Windräder errichten, um, wie er es ausdrückt, den Kreislauf von nachhaltiger Energiegewinnung und umweltfreundlicher Nutzung zu schließen. Der Mann ist dir sicherlich bekannt. Er ist Gründer der Fisher-Automobile. Er besitzt Werke in Virginia und Kalifornien.«

»Kenne ich. Baut Elektroautos der Luxusklasse.«

»Richtig. Ein einflussreicher Mann.«

»Warum hat man uns dazu beordert?«

»Die gesamte dänische Küste war Teil des Atlantikwalls der Nazis. Damit ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass man in diesem Gebiet nach dem Krieg Munition und Kampfstoffe aus den Bunkern verklappt hat. Vor einigen Monaten ist ein Fischkutter in die Luft geflogen. Unser Auftraggeber hat Angst, dass das seinen Schiffen auch passiert. Und dort, wo die Kabeltrasse an Land trifft, liegt besagtes U-Boot, die U-20. Die wollen wissen, wie viel davon übrig ist und ob man das Ganze sowohl aus kulturhistorischer Sicht wie auch aus Sicherheitsgründen unangetastet lassen oder besser bergen sollte. Du kennst dich in der Region aus und weißt am ehesten, wen du was fragen musst, wenn wir auf Probleme stoßen.«

»Ich habe den Fall in der Presse verfolgt. Den offiziellen Darstellungen nach könnte sie aber auch mit einem anderen Boot kollidiert sein. Egal.«

»Ich sehe, du bist wie immer gut vorbereitet.«

»Ich bin nicht vorbereitet. Ich will da nicht hin und ich kann lesen!«

»Das ist erstaunlich. In diesem Fall allerdings Qualifikation genug. Spaß beiseite, damit wir das Budget nicht sprengen, solltest du mit den Recherchen während der Überfahrt beginnen und ein Beprobungsraster entwickeln, nach dem wir vor Ort arbeiten können. Spätestens in Esbjerg benötige ich eine erste Kalkulation von dir.«

»Wieviel Zeit haben wir?«

»Zwanzig Tage.«

»Also hast du den Strömungsversatz für die nächsten fünfzig Jahre bereits berücksichtigt?«

»Richtig. Wie hoch schätzt du das Risiko für unser Team und für das Schiff?«

»In der Nordsee lagern Tausende Tonnen von dem Zeug. Die Chance, etwas zu finden, wenn man danach sucht, tendiert gegen hundert Prozent. Die Frage ist, wer kommt zu wem. Wenn wir da so heftig rumbuddeln, dass wir Minen zum Auftreiben bringen, wird es gefährlich. Die Mannschaft braucht eine ordentliche Einweisung, damit sie alles liegen lässt, was sie nicht kennt und was nach einer Giftgasgranate aussieht. Ich schreibe ein Memo dazu und schick es rum. Wer räumt das Zeug weg, das wir finden?«

»Der Windpark wird in dänischen Hoheitsgewässern errichtet. Damit fällt die Entsorgung in den Verantwortungsbereich der dortigen Regierung. Fisher hat bereits alle schriftlichen Verträge mit den Militärs, die die Beseitigung durchführen werden, in der Tasche.«

»Kann ich mir vorstellen. Die europäischen Küstenanrainer haben sich mit der Verklappung von Munition im Meer eine ökologische Zeitbombe vor die Tür geschüttet. Über kurz oder lang müssen die sowieso handeln, wenn sie ihre Fischgründe nicht für alle Zeiten verseuchen wollen.«

»Okay, dann haben wir,s«, sagte Cunningham.

»Eines noch. Was die Lusitania betrifft, denk dran, du hast eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschrieben. Mach, was du willst, aber lass dich nicht dabei erwischen, und mach vor allen Dingen deinen Job. Ist das klar? Das kostet Fisher ’ne gute Million.«

»Fahren wir deswegen nach Dänemark? Wegen der Lusitania oder besser gesagt wegen etwas, was alle vermuten auf ihr zu finden?«

Cunningham wich der Frage aus.

»Hau ab jetzt und zieh den Kopf ein, bis wir aus den britischen Hoheitsgewässern raus sind.«

Das reichte Richard als Antwort. Er stand stramm und grüßte militärisch. »Yes Sir, Master Sergeant, Sir.«

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