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HARBOØRE, DÄNISCHE NORDSEEKÜSTE - 4. NOVEMBER 1916

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Der kleine Erich machte sich an diesem tristen Novembertag des Jahres 1916 zusammen mit Hunderten anderer Menschen aus dem dänischen Jütland auf den Weg, einem spektakulären Ereignis beizuwohnen. Vor der Küste von Vejlby war das deutsche U-Boot U-20 gestrandet.

Die Kälte hatte für ihn nur einen Vorteil. Er musste keine Kniebundhosen mehr tragen, die ihn als das enttarnten, was er war: ein zehnjähriger Rotzlümmel, der permanent auf der Flucht vor dem Teppichklopfer seiner Mutter und dem Ledergürtel seines Vaters war. Oben auf den Dünen fiel ihm ein Fotograf auf. Ob das ein Kriegsberichterstatter war? Bestimmt nicht. Der hatte noch so eine alte Plattenkamera. Auch so ein Gerät, das alle Jahre wieder für Ärger sorgte. Nämlich immer dann, wenn seine Eltern ihn in seinen Matrosenanzug zwängten, ihm einen Mittelscheitel verpassten und er eine gefühlte Ewigkeit für das alljährliche Familienfoto beim Fotografen in Holstebro stillhalten musste. Das letzte Mal hatte er statt »Käsekuchen« »Ameisenscheiße« gesagt, als der Fotograf sie aufforderte zu lächeln. Er handelte sich eine schmerzliche Kopfnuss von seinem Vater ein.

Er sah auf die Taschenuhr, die er seinem Großvater gemopst hatte. 12 Uhr. Es war so weit. Polizeimeister Janssen aus Lemvig, um den Erich gern einen großen Bogen schlug, machte den vier- bis fünfhundert Menschen am Strand mit Worten und Gesten klar, dass sie sich in Sicherheit bringen sollten.

Der Kommandant des U-Boots verließ jetzt als Letzter sein Schiff und setzte die Reichsflagge am Turm auf Halbmast.

Eine Stunde später, Erich hatte sich inzwischen ein Gewehr aus einem Stück Treibholz geschnitzt, herrschte gespenstische Stille am Strand. Nur hier und da lugten ein paar Mutige zwischen dem Strandhafer über eine Düne hinweg. Selbst die Möwen, deren Fressgier sie normalerweise zu den waghalsigsten Manövern verleitete, waren nicht mehr in Sichtweite. Doch der Mann stand unbeirrt wie ein Fels in der Brandung wogender Weltgeschichte.

Erich sah hinüber zu dem Kommandanten des U-Bootes, der zusammen mit einem nervös dreinblickenden Matrosen zwei schwere Holzkisten auf eine Barkasse lud. Was konnte da wohl drin sein, wenn selbst ein Offizier sich für diese Aufgabe nicht zu schade war?

Plötzlich knallte es wie Schüsse aus Gewehrläufen. Erich drückte sein Gesicht in den Sand. Nichts passierte. Er hob den Kopf und sah wieder hinüber zu dem Boot.

Falscher Alarm. Es waren Fehlzündungen des Barkassenmotors gewesen. Der Motor soff ab, und das Boot driftete mit der Strömung nach Norden. Hektische Rufe ertönten. Der Kapitän und seine Männer paddelten mit den Händen und eilig herausgerissenen Planken, um den Abstand zwischen sich und dem U-Boot zu vergrößern. Einen kläglichen Anblick bot die kaiserliche Kriegsmarine da, als U-20 einem gestrandeten Wal gleich mit jeder Welle tiefer in den Sand eingegraben wurde.

Der Fotograf hielt den Finger auf dem Auslöser. Minute um Minute verstrich. »Warten, warten, warten«, flüsterte Erich immer wieder vor sich hin. Er fühlte sich wie ein Soldat im Schützengraben, auf den die feindlichen Truppen mit lautem Hurrageschrei zustürmten.

»Bum!« Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Stille, ein Feuerball stieg senkrecht in die Luft, und schwarzer Rauch wurde trichterförmig in alle Richtungen geschleudert. Noch ehe er den Auslöser betätigen konnte, erfasste den Fotografen die Druckwelle und katapultierte ihn zusammen mit Kamera und Stativ nach hinten, vom Dünenkamm hinunter.

Splitter waren wie Schrapnellgeschosse in die Dünen eingeschlagen, hatten die Linse der Kamera getroffen und zerstört. Glück gehabt, Kamerad, dachte Erich und sah sich um. Metallplatten von der Größe eines Esszimmertisches waren bis zu hundert Meter weit geschleudert worden und nur wenige Meter entfernt in den Sand eingeschlagen. Langsam erhoben sich die Menschen um ihn herum aus dem Sand. Einige standen so sehr unter Schock, dass sie ihre Körper nach Verletzungen abtasteten.

Erich sprang auf. »Bäng, endlich ist hier mal was los!« In großen Sprüngen strebte er dem Strand entgegen. Als er an dem Fotografen vorbeikam, blieb er kurz stehen und schaute auf das Blut, das in den Sand tropfte.

»Kann ich Ihnen helfen, mein Herr?« fragte er.

»Nein, nein danke«, antwortete der geistesabwesend. »Es

geht schon.«

Das Ausmaß der Zerstörung war gewaltig. Einige hundert Meter entfernt dümpelte die durch die Wucht der Explosion gekenterte Barkasse in der Brandung. Der Kommandant schleppte sich mit hängendem Haupt in Richtung Ufer.

»Wir haben die Deutschen kalt gemacht«, rief Erich. »Schnappt euch die Beute!« Zielstrebig steuerte er auf eine Kiste zu, wuchtete sie hoch und gab Fersengeld.

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