Читать книгу Wenn Wolken Wandern - Carsten Freytag - Страница 10

Mein Schneckenhaus

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Meine Mama war noch immer wütend auf mich und sprach tagelang kein einziges Wort mit mir. Sie hatte wieder ihren Ocampo-Anfall, wie Hans-Jürgen immer sagte, wenn meine Mama auch mit dem Mann im Haus kein einziges Wort sprach. Dann herrschte, wie er sagte, dicke Luft. Dann saß meine Mama auf der Couch, furchtbar schmallippig, und starrte Löcher in die Wand oder schaute fern, die Augen starr auf den Fernseher fixierend, als wollte sie die Glotze hypnotisieren. Alle Aktivitäten im oder um das Haus herum wurden in dieser Situation auf null gefahren. Mama kochte kein Essen, Mama fuhr nicht mehr einkaufen, Mama kümmerte sich zum Glück nicht um mich, die Wäsche blieb ungewaschen, weil Mama nur noch die Wand oder den Fernseher anglotzte. „Sag, doch mal … was ist denn dein Problem? Sag mir, was ich wieder falsch gemacht habe“ waren jämmerliche, wenn nicht sogar peinliche Versuche des Mannes im Haus, meine Mama zum Sprechen zu bewegen. Ihm in diesen Augenblicken zuzuhören, wenn ich von oben heimlich lauschte, wie er versuchte, wie ein reuiger Köter erbärmlich winselnd, die emotionale Blockade meiner Mama zu durchbrechen, war für mich wie eine Erlösung. Nicht nur ich hatte ein Problem mit meiner Mama, auch der Mann im Haus hatte ein Problem mit seiner Frau. Die Verachtung für den Mann im Haus vermischte sich mit einer herrlichen Schadenfreude, die ich als eine Befreiung empfand, und ich verspürte zugleich als Folge dieses Gefühls der Erleichterung den Wunsch, dass sich meine Mama nie mehr von dem Ocampo-Anfall erholen würde, so dass sie mir nie mehr ihre Liebe beweisen müsste.

Die geringste Kleinigkeit konnte diesen typischen Ocampo-Anfall auslösen: ein falsches Wort, eine falsche Entscheidung, zum Beispiel mit den Kindern zu segeln anstatt mit meiner Mama im Einkaufszentrum zu shoppen, ein längeres Gespräch zwischen Hans-Jürgen und einer hübschen Nachbarin auf der Straße und … peng … schon verfiel meine Mama in diese eiserne Kältestarre. Bei mir allerdings war der Auslöser dieses Ocampo-Anfalls keine Kleinigkeit, obwohl meine Verhaftung im Nachhinein, wenn ich es mir so recht überlegte, meiner Mama wirklich keinen Grund gegeben hatte, mich, wie sagt man so schön, windelweich zu hauen und mich tagelang zu ignorieren, nur weil ich eine kleine Flasche L’ARISÈ 119 im Sonderangebot für lächerliche vierzehn Euro neunundneunzig mitgehen lassen hatte. Ab jetzt, so meine Entscheidung, würde ich nur noch teure Sachen klauen, teurer als ein Kaschmir-Pullover, so dass es sich wirklich lohnen würde, von meiner Mama halbtot geprügelt zu werden.

Leider wurde mein Wunsch nicht erfüllt. Als hätte meine Mama nur darauf gewartet, dass die Spuren ihrer übergroßen Fürsorge für mich in meinem Gesicht nicht mehr nachzuweisen waren, stürmte meine Mama eines Abends in mein Zimmer. Von Anklopfen hielt sie wenig. Vom Ocampo-Anfall sichtlich erholt, stürzte sich meine Mama auf mich, so überraschend schnell, dass ich keine Chance hatte, meine Hände als Zeichen der Gegenliebe hochzureißen, und demonstrierte erneut ihre aufopferungsvolle Liebe für mich, indem sie meine Wangen nicht mit Küssen, sondern mit harten Schlägen liebkoste. Sie wählte Tagalog, wie immer, wenn es etwas Unangenehmes zu berichten gab.

„Was soll mal aus dir werden, Geraldine? Sag es mir! Deine Lehrerein hat mich angerufen“, schrie meine Mama mir ins Gesicht, so nah, dass ich eine unerwartet angenehme Nässe in meinem Gesicht spürte, bevor sie mit weiteren Liebkosungen meine bereits rot angelaufenen Wangen zum Brennen brachte, dass ich aus Freude vor so viel Liebesbekundungen zu weinen begann. Und ich hoffte zugleich, während ich verzweifelt versuchte, den Grund für ihre Wut zu erahnen, dass mein Wimmern meine Mama milde stimmen müsste.

„Frau Meyer hat mir mitgeteilt, dass du vier Tage hintereinander unentschuldigt gefehlt hast. Was machst du während der Schulzeit? Kannst du mir das mal erklären?“

Meiner Mama die Wahrheit zu sagen, hätte wohl weitere schmerzhafte Zeichen ihrer Liebe zur Folge gehabt. Hätte ich ihr sagen sollen, dass ich keinen Bock mehr auf Schule hatte? Keinen Bock auf Mathematik. Keinen Bock auf Physik und Chemie. Wozu brauchte ich all das? Ich hatte keinen Bock mehr auf Frau Meyer, die mich in ihrem Deutschunterricht ständig zum Lesen motivieren wollte, indem ich immer als erste irgendwelche Seiten aus dem Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ vorlesen sollte, wo ein Pfarrer die Holzfigur „Den lesenden Klosterschüler“ vor den Nazis retten wollte. Dabei wusste doch Frau Meyer, dass ich keine Lust hatte, vor der Klasse zu lesen, und dennoch forderte sie mich ständig auf: „Geraldine, fängst du bitte an zu lesen“, „Geraldine, lies doch bitte die nächsten beiden Seiten“, „Geraldine, noch drei Abschnitte. Komm, das schaffst du“, während die anderen Schüler schon lange vorher zu kichern begannen, weil sie wussten, wie sehr ich das Vorlesen hasste.

Dabei las ich zu Hause sehr gerne, zumal ich beim Lesen nicht nur die quälende Einsamkeit in der Familie überwinden konnte, sondern mich in den Romanen tatsächlich wiederfand. Es gab Romane, die mich berührten. Die Mutprobe in dem Roman „Die Vorstadtkrokodile“ fand ich interessant, weil sie mich an meine Mutprobe erinnerte, nur mit dem Unterschied, dass Hannes als Zeichen seines Mutes nur auf das Dach einer Ziegelei steigen und nicht einen Kaschmirpullover klauen musste. Ein anderes Mal, als die Kinder des Mannes im Haus wieder einmal mit ihrem Vater im Wohnzimmer oder im Garten wild herumtobten und ich verloren auf meinem Bett lag, fühlte ich mit Schocker, der von seiner Mutter nicht geliebt wurde. Vielleicht konnte seine Mama auch keine Gefühle zeigen. „Du hast mich nicht lieb“, hatte Schocker zu seiner Mama gesagt und für einen Augenblick musste ich „Die große Flatter“ zur Seite legen, weil Tränen meine Augen verklebten. Wenn es eine Person in dem Roman gab, die ich am meisten mochte, dann war es Richy. Richy erging es so wie mir. Nur wurde er nicht von seiner Mama, sondern von seinem Vater verprügelt. Und Richy wartete nur darauf, größer und stärker zu werden, um es seinem Vater irgendwann heimzuzahlen. Richy ließ sich nichts gefallen. Wenn einer blöd kam, gab es was auf die Fresse. Für Richy war Schule genauso eine Zeitverschwendung wie für mich, nur dass er häufiger blau machte als ich. „Scheiß auf die Schule“ sagte Richy und ich fühlte mich so verstanden. Richy war cool. Der Überfall auf den Juwelier allerdings war dumm. Den Juwelier mit einem Teleskop-Schlagstock totzuschlagen, war noch dümmer. Nein, das hätte ich besser geplant. Schocker war total uncool. Als Schocker und Richy im Kaufhaus etwas klauen wollten, versagten seine Nerven. Was für ein Versager. Auf jeden Fall, das war mir klar, würde ich auch irgendwann die Flatter machen. Weg von meiner Mama und von der ganzen Familie, die mich nicht vermissen würde.

Und weil ich wie Richy Schule hasste, hatte ich mir einen genialen Trick ausgedacht. Ich verließ das Haus wie immer gegen 7 Uhr, wartete in der nahegelegenen Bäckerei, bestellte dort eine heiße Schokolade bei der netten, aber neugierigen Verkäuferin, die mich stets verwundert anschaute, weil ich schon wieder den Bus verpasst hatte, der mich zur Schule bringen sollte. Ich setzte mich in die hinterste Ecke der Bäckerei, spielte mit meinem Handy so lange, während ich den Kakao trank, bis ich mir sicher war, dass alle aus dem Haus waren und kehrte dann zurück. Ich legte mich dann wieder ins Bett, hörte später Musik oder schaute fern. Gegen Mittag verließ ich dann erneut das Haus mit meiner Schultasche, bummelte ein wenig durch die Altstadt, bis es Zeit wurde, laut Stundenplan nach Hause zu kommen. Es war ein perfekter Plan, bis Frau Meyer aufgrund ihrer vollkommen übertriebenen Fürsorgepflicht bei meiner Mama schon nach vier Tagen überraschend schnell angerufen hatte. Nun musste eine Ausrede her, unter Druck erzeugt, die meine Mama beruhigte, nicht weil sie sich besondere Sorgen um mich machte, sondern weil sie besorgt war, die Rolle der besorgten Mutter bei der Klassenlehrerin nicht überzeugend genug rüberzubringen.

„Ich war bei Monika im Krankenhaus“.

„Im Krankenhaus? Was machst du im Krankenhaus, Geraldine? Sag mir das mal. Und lüg mich nicht an, sonst prügele ich dich windelweich.“

„Monika ist eine meiner besten Freundinnen. Sie liegt mit Krebs im Krankenhaus. Vielleicht wird sie sterben. Sie hatte mich angerufen und mich gebeten, bei ihr vorbeizukommen. Jeden Tag, weil sie jeden Tag Angst hatte, zu sterben. Verstehst du das denn nicht?“

Meine Mama war verstummt. Ein gutes Zeichen. Sie überlegte wohl, was sie von dieser Aussage halten soll. Ein Anruf bei meiner Klassenlehrerin würde ergeben, dass eine meiner besten Freundinnen tatsächlich schon seit zwei Wochen unentschuldigt fehlte. Aber nicht, weil sie Krebs hatte, sondern weil Monika genauso allergisch auf Schule reagierte wie ich. Mamas Verstummen betrachtete ich als einen Sieg, und weil ich mich plötzlich überlegen fühlte, ging ich ein großes Wagnis ein.

„Ruf doch meine Klassenlehrerin ein. Komm, mach schon. Sie wird dir bestätigen, dass Monika schon lange fehlt.“

Meine Mama schaute mich für eine Weile an, prüfte meinen Blick, in dem sie meine große Sorge um Monika entdeckte, und entschied nach einer kurzen Zeit der Prüfung, dass es ein aus menschlicher Sicht durchaus ehrbares Motiv gewesen war, die Schule zu schwänzen, um der sterbenskranken Freundin Beistand zu leisten. Ein Verhalten, dass meine Mama bei mir nicht erwartet hätte. Sie verließ nachdenklich mein Zimmer ohne weitere Worte. Triumphierend setzte ich mich auf meinen Stuhl vor dem Spiegel und kämmte mir ausgiebig und lustvoll mein langes Haar, das so wunderschön glänzte und auf das ich so stolz war, das nun nach unten fiel, während ich meinen Kopf nach vorne beugte. Vielleicht würde mir ein Dutt gutstehen. Monika und Ute hatten in der Schule immer ihr Haar aufgesteckt. Mit der linken Hand mein langes Haar am Kopf festhaltend, ergriff ich mit der Rechten das Haarband auf meinem Tisch, richtete mich wieder auf und wickelte mit zwei Umdrehungen das Haarband um mein Haar. Ich befestigte das nun aufrechtstehende Haar mit einer Haarnadel und betrachtete das Ergebnis meines ersten Versuchs im Spiegel. Es konnte sich sehen lassen. Ich hatte den Eindruck, älter auszusehen. Reifer. Erfahrener. Erwachsen. Mit dem Makeup, das ich nun gleichmäßig in meinem Gesicht verrieb, fühlte ich mich wie achtzehn, mit den falschen Wimpern und dem Lidschatten, den ich vorsichtig auftrug, wie zwanzig, mit einer Parfümwolke von L’ARISÈ 119 umgeben, hatte ich das Gefühl, das Alter erreicht zu haben, um endlich aus diesem Haus zu verschwinden. Wie Schocker, der die große Flatter versuchte. Raus aus der Siedlung. Mit Mario im LKW nach San Remo ans Mittelmeer. Sein Traum. Seine Sehnsucht. Sein Ziel, ein neues Leben zu beginnen. Leider gescheitert. Und ich? Ich träumte davon, mein neues Leben in Deutschland mit einem neuen Leben auf den Philippinen eintauschen zu können. Weit weg von meiner Mama, von dem Mann im Haus und von seinen Kindern. So weit weg, dass sie mich nie mehr finden würden. Weit weg von der Schule, die ich nicht vermissen würde. Ich würde Schmuck stehlen wie Richy und den Schmuck für viel, viel Geld auf den Philippinen verkaufen. Für so viel Geld, dass ich mir ein Haus wie die Zuckerbarone in Bacolod kaufen könnte. Mit richtigen Fenstern, Zimmern mit Tapeten, ein Badezimmer mit Fliesen so wie hier bei meiner Mama und ein Swimmingpool. Oma Ocampo könnte darin schwimmen und Noel, aber nicht Jeffrey, der mir immer Angst bereitet hatte.

Doch das Klopfen an der Tür verriet mir, dass der Traum noch lange nicht in Erfüllung gehen würde. Das Klopfen an der Tür wies zu meiner Erleichterung zudem darauf hin, dass nicht Mama vor meiner Tür stehen konnte. Ein erneutes Klopfen an der Tür zwang mich dazu, mein Schneckenhaus zu öffnen.

„Ja?“

„Geraldine, kann ich reinkommen?“

Der Mann im Haus verlangte nach mir.

„Ja.“

Der Mann im Haus öffnete vorsichtig die Tür, schaute irritiert in mein Zimmer hinein, da er eine reife Frau auf dem Stuhl vor dem Spiegel sitzen sah.

„Ehm, kommst du runter zum Abendessen, Geraldine. Deine Mutter hat Chicken Adobo gekocht.“

Ich spürte seine Unsicherheit in seiner Stimme. Ich spürte sein Verlangen, etwas zu sagen, etwas zu ergänzen, vielleicht ein Wort bezüglich meiner Transformation, doch

er unterdrückte seinen Impuls und schluckte die gedachten Worte hinunter.

„Kann ich hier in meinem Zimmer essen?“

„Du weißt, Geraldine, dass deine Mutter dich lieber unten am Tisch sitzen sieht“.

„Bitte. Ich möchte lieber hier oben essen.“

Der Mann im Haus überlegte kurz. Ich spürte, soweit hatte ich ihn schon durchschaut, wie er überlegte, ob seine Entscheidung, mich hier oben in meinem Zimmer allein essen zu lassen, einen Konflikt mit Mama hervorrufen würde.

„Nun gut, ich werde dir etwas in dein Zimmer bringen.“

„Ich danke dir, Hans-Jürgen.“

Wie ein Luftzug im heißen Sommerwind bei geöffneten Fenstern wehten die Worte gehaucht in sein Ohr.

„Du bist so nett zu mir.“

Einen letzten Blick auf mich werfend, schloss er die Tür leise und seine Schritte verloren sich im Korridor.

Meine Mama hatte es nicht gerne, wenn ich in meinem Zimmer die Speisen zu mir nahm. In der Regel erwartete sie, dass ich nach unten ins Esszimmer kam. Dabei ging es ihr nicht so sehr um die Sorge meines seelischen Wohlergehens, das sie vielleicht durch meinen Rückzug in mein Schneckenhaus hätte gefährdet sehen können, nein, ihr ging es mehr um die Effizienz ihrer Hausarbeit. Unordnung im Haus war verpönt. Und das Essen in meinem Zimmer bedeutete eventuell mehr Unordnung und somit mehr Putzarbeit. Nach der Erholung von einem Ocampo-Anfall, der ihr jeglichen Antrieb, bestenfalls für Stunden, schlimmstenfalls für Tage raubte, verlagerte sich der Arbeitsantrieb meiner Mama exakt in das Gegenteil. Dann wurde geschrubbt, gebohnert, gesaugt, gewischt und gefegt, dass keiner mehr im Haus Ruhe fand. Dabei ihre Lieder singend, betonte sie ein jedes Mal ihre Vorliebe für Sauberkeit und Ordnung im Haus, die ihre Arbeitgeber in Manila, eine reiche Kaufmannsfamilie, zu schätzen gelernt hatten. Nur wunderte ich mich ein jedes Mal, wenn sie diese Tatsache hervorhob, ob sie den Kindern der reichen Kaufmannsfamilie auch eine geballert hatte, wenn sie vergessen hatten, so wie ich manchmal, das benutzte Geschirr in die Spülmaschine zu stellen. Und so gesehen konnte die Entscheidung des Mannes im Haus, mein Abendessen in meinem Zimmer einnehmen zu dürfen, durchaus einen Konflikt mit meiner Mama provozieren.

„Geraldine! Gaba ka agad !

Die Entscheidung war getroffen. Natürlich gegen den Mann im Haus. Der herrische Ton meiner Mama forderte mich auf, sofort nach unten zu kommen, um am Essenstisch Platz zu nehmen. Schlechtgelaunt verließ ich mein Schneckenhaus und schlurfte mürrisch die Treppe zum Wohnzimmer hinunter.

„Wie sieht denn Geraldine aus“, rief Jakob zum Erstaunen aller aus, als ich mich an den Tisch setzte.

„Geraldine, wie siehst du denn aus!“, rief meine geliebte Mama, „du siehst ja aus wie eine Nutte.“

Ihre Worte trafen mich so hart wie ihre Schläge in meinem Gesicht. Einen inneren Impuls unterdrückend, einfach mit einem heftigen Ruck aufzustehen und den Ort der Demütigung zu verlassen, schaute ich starr auf den Boden, beinah wie Mama, wenn sie ihren Anfall hatte, und versuchte, die entglittene Kontrolle zurückzugewinnen.

„Nun lass doch Geraldine endlich einmal in Ruhe“, verteidigte Hans-Jürgen meine Verwandlung in eine reife Frau; eine Verteidigung, die wohl darauf abzielte, es seiner Frau heimzuzahlen, die sich über seine Entscheidung, mir zu erlauben, das Abendessen in meinem Zimmer zu verzehren, hinweggesetzt hatte.

Vielleicht war der Grund, warum ich mich lieber in mein Schneckenhaus zurückzog, nicht nur die Angst vor meiner Mama und ihrer Unberechenbarkeit, sondern auch Zeuge eines ständigen Machtkampfes zwischen meiner Mama und dem Mann im Haus zu sein. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der Mann im Haus nicht der Mann im Haus war, weil meine Mama den Ton angab.

„Geraldine, geh nach oben und wisch die die Schminke aus dem Gesicht, bevor wir essen!“

„Ich möchte aber nicht. Mir gefällt es so.“

„Geraldine, ein letztes Mal. Geh nach oben oder du wirst mich kennen lernen.“

Die Worte kamen so laut gebrüllt wie auf einem Kasernenhof. So laut, dass nicht nur die Nachbarn in der Reihenhaussiedlung den Befehl mithören konnten, sondern so scharf im Ton, dass der kleine Jakob zu weinen anfing.

„Komm, Geraldine, tu, was deine Mama sagt“, flüsterte Hans-Jürgen, der sich nun eingestehen musste, seinen Kampf gegen seine Frau wieder einmal verloren zu haben. In Erinnerung der letzten Schläge war die Drohung meiner Mama, sie kennen zu lernen, eigentlich völlig überflüssig, aber dennoch erneut ernst zu nehmen, so dass ich mich ohne Worte von meinem Stuhl erhob und die Treppe zu meinem Zimmer hinaufflog, wo ich mich auf das Bett fallen ließ und meine Gefühle mich überwältigten. Auch das Klopfen an der Tür konnte mein Weinen nicht unterdrücken, als Hans-Jürgen mir einen Teller Chicken Adobo ohne zusätzlichen Untersatz auf den Schreibtisch stellte.

„Komm, du musst was essen“, sagte er leise und schlich, ohne auf eine Antwort zu warten, aus meinem Zimmer.

Eigentlich war Hans-Jürgen gar nicht so übel, aber irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mich nur als einen Gast betrachtete, der irgendwann wieder das Haus verlassen würde. „Das ist deine Tochter“, sagte er immer, wenn meine Mama glaubte, Probleme mit mir zu haben, „du hast sie hierhergeholt und du musst nun mit ihr klarkommen.“ Und er fügte immer wieder hinzu, dass er nicht der Vater sei und sie – gemeint war ich – nicht auf ihn hören würde. Immer wenn Mama und Hans-Jürgen sich stritten, ging es um mich. Und immer, wenn ihre Stimmen lauter wurden, schlich ich mich aus meinem Zimmer und lauschte vorsichtig, dass seine Kinder mich nicht beim Lauschen ertappten, was dort unten besprochen wurde.

„Ich komme mit meiner Tochter nicht mehr zurecht“, sagte Mama. Und der Mann im Haus sagte: „Das ist deine Tochter, du hast sie hierhergeholt. Du musst mit ihr klarkommen.“ Es klang wie eine Erleichterung, nicht für mich verantwortlich zu sein. Und er fügte hinzu, dass er sich wirklich um mich bemüht habe, aber ohne Erfolg. Nun müsse meine Mama entscheiden, besonders nach dem Diebstahl und der Verhaftung, was mit mir geschehen sollte. Ich hielt den Atem an, um nur nicht ein Wort zu verpassen.

„Ich habe es satt“, sagte meine Mama, „ich schicke Geraldine zurück auf die Philippinen.“

„Du kannst doch deine Tochter nicht hin- und herschieben, wie du willst. Du hast sie doch erst vor vier Jahren aus den Philippinen zu uns nach Hause gebracht.“

„Ich kann mit ihr machen, was ich will.“

„Nun, es ist deine Entscheidung“, sagte der Mann im Haus seufzend, als wäre eine schwere Last von ihm genommen, und nahm die Tageszeitung, um meiner Mama das Zeichen zu geben, dass er das Gespräch für beendet hielt, jedoch nicht ohne erneut hinzuzufügen: „Es ist deine Tochter und du hast sie hierhergeholt.“

Ich schlich mich leise zurück in mein Zimmer, legte mich mit dem Rücken aufs Bett und versuchte, die Bedeutung der Worte meiner Mutter zu ergründen, was keine besondere Schwierigkeit bereitete, denn es wurde mir nun eindeutig klar, dass meine Mutter mich nicht liebte, dass sie mich nie geliebt hatte, dass sie mich vielleicht sogar hasste, so sehr, dass sie mich wieder auf die Philippinen zurückzuschicken gedachte, nur weit weg, so weit wie möglich, so dass sie mich nicht mehr zu besuchen brauchte. Die Reaktion des Mannes im Haus war mir egal. Er war nicht mein Vater und ich würde niemals eine väterliche Beziehung zu ihm aufbauen können. Sicherlich wäre auch er froh, wenn ich aus dem Haus wäre. Ich konnte es ihm aber nicht übelnehmen.

Das Einschlafen an jenem Abend fiel mir schwer. Im Bett liegend schaute ich aus dem Fenster und erblickte eine graue, tiefliegende Wolkendecke von ineinander gewachsenen Wolkenballen. Sie hingen so tief und schwer über mir, dass ich glaubte, sie berühren zu können, wenn ich auf das Dach des Hauses hätte steigen können. Es schien beinah so, als hätten sie Mitleid mit mir. Sie verharrten in ihrer Position, wollten nicht weiterwandern, um mich zu beschützen. Sie weinten um mich. Ihre Tränen klopften sanft an mein Zimmerfenster.

In dem Nachbarzimmer tobte der Mann im Haus mit seinen Kindern, bevor sie zu Bett gingen. Er las ihnen oft aus Kinderbüchern vor oder er erzählte ihnen eine erfundene Geschichte. Ich stellte mir vor, wie er sich über seine im Bett liegenden Kinder beugte, um die Umarmung seiner Kinder zu empfangen, bevor er ihnen einen Gute-Nacht-Kuss gab. Gute Nacht, Papa. Gute Nacht, Kinder. Zu mir kam niemand. Ich schaltete das Licht der Nachttischlampe aus und versuchte, Schlaf zu finden.

Wenn Wolken Wandern

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