Читать книгу Wenn Wolken Wandern - Carsten Freytag - Страница 8
Momente des Glücks
ОглавлениеNachdem Hans-Jürgen und seine Kinder das Haus verlassen hatten - ich wusste nicht, was sie noch am frühen Abend vorhatten, sie sprachen selten mit mir -, schlich ich mich ins Badzimmer, um das Blut aus dem Gesicht zu waschen. Meine Mama schaute unten im Wohnzimmer Fernsehen. GZSZ war ihre Lieblingssendung, die sie nicht verpassen durfte. Ich konnte hören, wie sie ab und zu lachte, wenn ihr eine interessante Szene in GZSZ Freude bereitete. Dann lachte sie so ungeniert, als hätte sie vergessen, was sie mir Stunden vorher angetan hatte. Manchmal sang sie fröhliche Lieder, nachdem sie mich verprügelt hatte, so, als wäre nichts geschehen. Ich schaute mir die Wunden im Spiegel an. Ich schob mein Unterhemd zusammen mit meiner blutverkrusteten Bluse hoch. Mein Oberkörper war ein blauroter Fleckenteppich, ein schönes Muster, wobei ich mir bereits eine plausible Lüge für den Sportunterricht am nächsten Tag zurechtlegen musste, um das Zeichen der Mutterliebe zu erklären. Wenn Dorentina und die anderen meiner Clique die Verletzungen entdeckten, benötigte ich keine Erklärung. „Hat deine Mutter dir wieder die Fresse poliert?“, würde Dorentina grinsend fragen, und ich würde wieder einmal die sportliche Freizeitbeschäftigung meiner Mama mit einem stummen Kopfnicken beantworten.
Für meine Sport- und Klassenlehrerin Frau Meyer, wenn sie sich denn für die Herkunft der blauen Flecken interessieren sollte, müsste jedoch ein Reitunfall herhalten. Ein Sturz vom Pferd hinunter während des Reitunterrichts. Hoffentlich würden dann nicht meine Freundinnen Ohrenzeugen dieser Geschichte sein. Ihr breites Grinsen oder ihr unverhohlenes Gelächter würde die Glaubwürdigkeit meiner erfundenen Geschichte so sehr beeinträchtigen, dass Frau Meyer womöglich noch Rücksprache mit meiner Mama wünschte. Aber ich machte mir wieder einmal zu viele Gedanken, denn immer, wenn mir dieses unvergessliche Zeichen der Liebe wiederfuhr, durfte ich zwei Tage zu Hause bleiben. Ein Entschuldigungsschreiben hatte meine Mama, fröhlich ein Lied aus der Heimat summend, noch am Abend aufgesetzt, um es am nächsten Tag per Email an meine Klassenlehrerin zu senden. Starke, krampfhafte Unterleibsschmerzen sind bei pubertierenden Mädchen immer ein hervorragender und plausibler Entschuldigungsgrund.
Zwei Tage allein zu Hause zu sein, war unter diesen Umständen das Schönste, was ich mir vorstellen konnte. Ich hatte meine Ruhe und konnte tun, was ich wollte. Der Mann im Haus war aus dem Haus, um seiner Arbeit als Elektroingenieur nachzugehen, Jacob war im Kindergarten und die beiden älteren Brüder besuchten eine Grundschule, um die gymnasiale Empfehlung zu bekommen. Und Mama arbeitete als Haushälterin bei einer katholisch-philippinischen Gemeinde. Halbtags, damit sie sich noch um ihre Tochter kümmern könne, wie sie einmal während der katholischen Messe laut verkündete, so dass alle Gläubigen in der Kirche es vernehmen konnten. Nur kümmerte meine Mama sich nicht viel um mich. Sie nannte es stolz Erziehung zur Selbständigkeit. Immer stand ich morgens alleine auf, bereitete mir mein Frühstück alleine zu, machte mir ein Pausenbrot zurecht, wenn denn noch Zeit war, und verließ das Haus ohne einen Abschiedsgruß. Mama schlief noch. Kein „Bis nachher, Liebes“ oder „Viel Spaß in der Schule heute, Geraldine“ oder „Wenn du von der Schule kommst, bereite ich dir was Leckeres zu“. Ich verließ das Haus auf leisen Sohlen im dunklen Winter wie im hellen Sommerlicht und schloss leise die Haustür. Es tat mir weh, wenn ich manchmal bei späterem Unterrichtsbeginn sah, wie der Mann im Haus seine Kinder liebevoll betreute, ihre Kleider für den Tag zurechtlegte, das Frühstück und die Pausenbrote zubereitete und sie zum Kindergarten oder zur Schule fuhr. Eine ungewohnte Fröhlichkeit, eine unbekannte Vertrautheit, eine Zärtlichkeit und eine Harmonie, die ich in meinem Leben niemals erlebt hatte. In diesen Augenblicken fühlte ich Wut und Enttäuschung, ja sogar Neid auf die Kinder, und ich zog mich mehr und mehr in mein Schneckenhaus zurück.
Nur wenn ich allein im Haus war, zum Beispiel weil ich erneut an unerklärlichen Unterleibsschmerzen litt, verließ ich mein Schneckenhaus. Ich badete ausgiebig und lang in der herrlichen Badewanne. Ich probierte den Sitz meiner neuen Klamotten, testete das neue Parfüm und schminkte mich wie ein Vamp, so dass niemand mein Alter von vierzehn Jahren nur ansatzweise erahnt hätte. Nicht einmal der Mann im Haus hatte mich auf den ersten Blick wiedererkannt, als ich irgendwann einmal total aufgemotzt von der Schule kam. „Hat dir deine Mutter nicht erklärt, wie man sich dezent schminkt?“, hatte er mir nachgerufen, als ich schon die Treppe zu meinem Zimmer hochgerannt war, um jedes Gespräch mit dem Mann im Haus zu vermeiden. Ich hörte Musik im heiligen Wohnzimmer – Rihanna, Lady Gaga, Pussycat Dolls, Kate Perry dröhnten aus der wuchtigen Stereoanlage - oder ich schaute, auf dem herrlich weichen Sofa sitzend, Comics im Fernsehen, dabei das leckere Eiscreme verschlingend, die mir oft als Nachtisch entging, weil ich keine Lust hatte, zu lange am Essenstisch zu verweilen, wo die Konversation an Lebendigkeit verlor, wenn ich mich zu Tisch setzte. An diesen Tagen meiner Unpässlichkeit fühlte ich mich so frei und unbeschreiblich wohl, so dass ich mir wünschte, sie alle würden nicht mehr wiederkommen. Das ganze Haus wäre für mich ganz allein. Und so beglückt in meinen Gefühlen verspürte ich zugleich erneut ein plötzlich aufkommendes, herrliches Kribbeln zwischen meinen Schenkeln, so dass meine Hand mit einem wohligen Schauer die feuchte Grotte meiner Lust berührte, um meinen fordernden Trieb genüsslich zu befriedigen. Seit zwei Jahren überkam mich dieses neue Gefühl immer häufiger und ich begann, dieses lustvolle Kribbeln mit dem Bild eines jungen Mannes zu verknüpfen, der zärtlich in mich eindrang.
Allerdings sollten diese kurzen Stunden des Glücks, das war mir stets bewusst, nicht lange vorhalten. Sobald meine Mama von der Arbeit zurückkam, zerstörte sie mein Leben als Vamp und Glamourgirl, indem sie mich zur Putzfrau degradierte und ich Aufgaben im Haus erledigen musste, während sie sich, bevor sie das Essen zubereitete, auf die Couch legte, um sich von dem anstrengenden Vormittag zu erholen. Erziehung zur Selbständigkeit erfolgte auf der Basis folgender Anordnungen: „Putz das Klo, auch das Gästeklo, trag den Müll raus, saug die Kinderzimmer, räum die Küche auf und wisch den Boden, und wenn dann noch Zeit ist, räum die Abstellkammer auf, die schrecklich aussieht.“ Erziehung zur Selbständigkeit ist auch das eigenständige Zurechtkommen mit den Problemen und Irritationen, die mit den körperlichen Veränderungen einer jungen Frau einhergehen. Mein Blut hatte ich mit elf. Ich hatte schreckliche Angst, als ich das Blut auf dem Bettlacken entdeckte. Hatte ich eine fürchterliche Krankheit? Meine Mama kam, registrierte, was geschehen war, und gab mir eine knappe Minute, um mich aufzuklären. Von da an musste ich alleine mit den Wundern der Natur klarkommen. Wenn ich Fragen hatte, wendete ich mich meistens an Dorentina. Sie wusste bereits aus eigener Erfahrung, was Petting und Cunnilingus war, und sie gab mir Tipps, um nicht ungewollt schwanger zu werden. Von ihr erfuhr ich aus erster Hand, wie es sich anfühlt, wenn das harte Glied in die feuchte Vagina eindringt.
Und so bedeutete die Erziehung zur Selbständigkeit selbstverständlich auch, dass ich mich nach der Prügelattacke meiner Mama selbst verarzten musste. Der Umgang mit Pflastern und Mullbinden war mir bereits vertraut, das Jod brannte wie immer höllisch und zur Linderung meiner Schmerzen nahm ich eine Paracetamol oder auch zwei, wenn die Schmerzen nicht weggehen sollten. Niemand kam in mein Zimmer. Niemand fragte danach, wie es mir ging. Unten hörte ich die Kinder mit ihrem Vater spielen. Ich setzte mich auf mein Bett, hörte ein wenig Musik über mein Handy, schrieb einige SMS an meine Freundinnen und kämmte mir vor dem Spiegel ausgiebig mein langes schwarzes Haar, auf das ich stolz war, wenn es so schön glänzte, bevor ich ins Bett ging, um zu versuchen, irgendwie einzuschlafen. Ich hatte Hunger, aber ich wagte es nicht mehr, die Treppe hinunterzuschleichen, um mir in der Küche leise und unbemerkt ein Butterbrot zuzubereiten.
Wahre Liebe in der Welt der Unmoral
Ich zwinge mich dazu, die Gedanken an meine Kindheit zu verdrängen. Nur weg mit diesen Gedanken, die doch zu nichts führen und mich in meiner Freiheit einengen, mich gefangen halten. Das Abblendlicht eines Autos lässt meine dunkle Wohnung für Sekunden in weißem Licht erstrahlen. Ich schiebe die Gardine zur Seite, um besser sehen zu können. Doch zu meiner Enttäuschung fährt der Wagen am Haus vorbei und nimmt das Licht mit. Seufzend setze ich mich zurück auf den Stuhl, nicht ohne einen ängstlichen Blick auf die Uhr an der Wand zu werfen, deren tickender Sekundenzeiger bedrohlich die Stille durchbricht. Null Uhr 23. Er muss doch kommen! Er kann mich doch nicht jetzt alleinlassen!
Ich lernte Werner am amerikanischen Independence Day kennen, als ich zwanzig wurde und wo, nur acht bis elf Flugstunden entfernt, ein gigantisches Feuerwerk den denkwürdigen Tag der amerikanischen Geschichte umrahmte. Die Ironie, die diese zeitliche Konstellation mit sich brachte, kam mir erst viel später in den Sinn. Folglich war ich nicht bereit, meine Geburt an diesem glorreichen Tag vor zwanzig Jahren als einen historischen Akt der Geschichte zu betrachten. Für meine Mutter war mein Geburtstag, da bin ich mir nun sicher, stets der Tag der qualvollen Erinnerung an die gescheiterte Hochzeit in Manila und die Schande, die sie über ihre Familie in Negros brachte, ein uneheliches Kind in die Welt gesetzt zu haben.
Und so war der Umtrunk zur Feier meines Geburtstags am 4. Juli 2015 an der Theke der Hamburger Bar mit dem bezeichnenden Namen Goldener Stern mit meinen halbnackten Kolleginnen, die noch nicht in männlicher Begleitung waren, eher eine Art ungewollter Zeitvertreib, bevor der nächste Freier zur Tür hereinkam. Und weil es noch für vier meiner Kolleginnen nichts zu tun gab, hatte Manni, der ausnahmsweise gut gelaunt war, eine Flasche Sekt, keinen Champagner, zur Feier des Tages spendiert. „Wir trinken auf Melody, dass sie uns noch viele Jahre hier im Club erhalten bleibt“, rief er laut in die Runde, „von ihr könnt ihr alle noch etwas lernen“. Manni grinste, als er dieses Lob aussprach und sein Glas erhob und mir lächelnd zuprostete. Seine blendendweißen Zähne funkelten im Neonlicht so gefährlich wie die todbringenden Zähne eines mächtigen Hais kurz vor dem Zuschnappen und Verschlingen seiner Beute. Sein Lob bedeutete mir wenig, galt es doch wohl vorwiegend meiner zweifelhaften Fähigkeit, Freier gnadenlos auszunutzen, wenn es um die Entleerung ihrer Brieftaschen und ihrer Hodensäcke ging. Ein Lob als Zeichen seiner Anerkennung für gute Arbeit bedeutete noch nicht, von Manni aufrichtig respektiert und gewürdigt zu werden. Manni regierte mit Zuckerbrot und Peitsche. Wenn mir die Redewendung, von Kolleginnen oft benutzt, am Anfang unbekannt war, so sollte ich doch schnell lernen, was es mit dem Zuckerbrot und der Peitsche auf sich hatte. Seine inszenierte Unberechenbarkeit, die es ihm erlaubte, mir brutal ins Gesicht zu schlagen, wenn er der Meinung war, dass ich nicht genug anschaffte, wandelte sich noch am gleichen Abend in Sanftmut, wenn ich einen Freier dazu gebracht hatte, zwei Flaschen Champagner für jeweils hundertdreißig Euro zu bestellen, noch bevor ich mit ihm auf mein Zimmer ging, um es ihm zu besorgen, wozu er nach dem Alkoholkonsum gar nicht mehr in der Lage war. So unterschiedlich wie der Wechsel der Gezeiten in Ebbe und Flut, so unterschiedlich war die Wortwahl Mannis, die uns stets in gefährlicher Anspannung hielt. War seiner Meinung nach nicht genug Geld in die Kasse geflossen, drohte er mit Schlägen, was in der Regel keine leere Drohung war. „Was sitzt du hier rum Melody, du nichtsnutzige faule Schlampe? Geh auf die Straße anschaffen, bevor ich dir deine Scheißfresse poliere“ war Ausdruck seiner Unzufriedenheit, die aber schnell in Wohlgefallen umschlagen konnte. „Melody, komm mal her. Lass dich umarmen. Du bist meine beste im Stall.“ Ein kleiner Klapps auf den Po und ein Küsschen auf die Wange unterstützten seine Worte ein jedes Mal, wobei er gefährlich lächelte. Man wusste bei Manni nie, woran man war. Gefährlich war auch sein attraktives Äußeres, das ihm das unverwüstliche Bewusstsein verlieh, bei Frauen nicht nur auf Grund seiner Position das zu bekommen, was er wollte. Manni sah im wahrsten Sinne des Wortes blendend aus. Manni war groß gewachsen und durchtrainiert, ohne überschüssiges Fett. Mannis Körper war bewundernswert. Ganz im Gegensatz zu der Vielzahl an ungepflegten, korpulenten und altersschwachen Freiern, die ausschließlich meinen Körper als menschliche Mülltonne für ihre Körperflüssigkeiten benutzten. Alle neuen Kolleginnen, die Manni von konkurrierenden Zuhältern abgekauft oder selbst ins Milieu eingeführt hatte, kamen um das Vergnügen nicht umhin, besonders einen Teil seines Körpers näher kennen zu lernen, da er sich das Recht vorbehielt, die neue Ware auf ihre Qualität hin genauestens zu überprüfen.
So trugen auch seine langen blond gelockten Haare, die bis zu den Schultern herunterhingen, sein ebenes, feines, makelloses Gesicht, seine blaue Augen, die einen freundlich anstrahlen oder eisige Kälte ausstrahlen konnten, zu seiner dominanten Erscheinung bei. Wie Diamanten funkelten seine weißen Zähne im halbdunklen Neonlicht der Bar, wenn er lächelte. Zu seiner Lieblingskleidung zählten neben dem langen Pelzmantel aus Fuchsfell auch seine besonders weichen schwarzen Nappalederhosen, wobei er gerne spitze Cowboystiefel trug. Gerne trug er auch Westen aller Art. Eine goldene Rolex als Statussymbol glitzerte an seinem linken Handgelenk. Er war, wie Chantal, seine Lieblingshure, sagte, die Inkarnation eines Verführers. Was auch immer das heißen mochte.