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6. Juli – Nachmittag. Tag der Abfahrt

Wir haben uns samt Gepäck und dem Essens-Koffer in der Einfahrt von Ollis Elternhaus versammelt. Sein Vater und sein älterer Bruder Michael bringen uns zum Bus am Massa-Markt in Mainz-Bretzenheim. Es ist bewölkt und wir können es kaum erwarten in die südliche Sonne zu kommen.

Trotz Abfahrts-Euphorie wirkt Pudding etwas bedrückt:

»Die hat sich einfach nicht mehr gemeldet.«

Er erzählt uns, dass seine Freundin vor ein paar Tagen mit einer Bekannten in den Urlaub gefahren ist, ohne sich zu verabschieden. Dieses Verhalten wertet Pudding als endgültigen Schlusspunkt der kriselnden Beziehung. Etwas trotzig erklärt er abschließend:

»Die kann mir gestohlen bleiben. Mal gucken, was in Lloret so im Angebot ist.«

Jochen wirkt ebenfalls nachdenklich. Seit kurzem ist er mit Susan zusammen. Sie ist seine erste, richtige Freundin. Natürlich fällt es den beiden frisch Verliebten schwer, 14 Tage getrennt voneinander zu verbringen. Susan hat sogar angefragt, ob sie denn nicht mitkommen könnte. Sehr zu unserer Beruhigung hat Jochen ihr das aber ausgeredet.

Wir verteilen uns auf den Rekord von Ollis Vater und Michaels Ascona. Dann starten wir die erste Etappe. Jochen, Pudding und ich fahren bei Michael mit. Michael ist nur wenige Jahre älter als wir, aber musikalisch schon im Seniorenalter angekommen. Er hört gerne Volksmusik. Als Zugeständnis an unseren Rock- und Metal-Hintergrund lässt er sich immerhin dazu hinreißen, den »Zillertaler Hochzeitsblues« der Schürzenjäger einzulegen. Er findet das hart. Ich finde das unerträglich, bleibe aber entspannt.

Als wir den Ausgang unseres dreitausend Seelen Ortes passieren, drehe ich mich um und schaue zu, wie das Ortsschild »Wallerstädten« unter dem grauen Himmel kleiner und kleiner wird.

Mir wird bewusst, dass ich jetzt bald in der Sonne liege.

Mir wird bewusst, dass ich jetzt zwei Wochen lang mit meinen Jungs unterwegs sein werde.

Mir wird bewusst, dass ich am Montag nicht zur Arbeit muss.

Ich habe Urlaub!

In Mainz regnet es und der Bus ist noch nicht da. Wir sind trotzdem gut gelaunt und suchen Schutz unter dem Vordach einer kleinen Schwarzwald-Hütte in der Garten-Ausstellung vor dem Massa Markt. Ollis Vater und Michael wünschen uns viel Spaß und fahren wieder ab. Wir öffnen die ersten Bierdosen. Karlskrone war anscheinend bei allen die erste Wahl. Himo hat sogar eine komplette Palette für die Fahrt dabei.

»Wo bleibt der scheiß Bus? Es wird frisch hier.«, beklagt sich Pudding nach ein paar Minuten. Er ist schon komplett im Urlaubs-Modus und nur mit Beach-Shorts und einem »Wallersteerer Kerweborsch« T-Shirt bekleidet.

Während Pudding friert, präsentiert uns Himo einen alten 10 Watt Kassettenrekorder, den er für fünf Mark auf dem Flohmarkt erstanden hat. Der soll am Strand für Unterhaltung sorgen und zum Abschluss des Urlaubs »freigegeben« werden. Als »freigegeben« bezeichnet man im Jugendclub vor allem alte Elektrogeräte und Möbelstücke, die zur allgemeinen Belustigung kurz und klein geschlagen werden.

Im Eingangsbereich des Massa Marktes entdecken wir unsere Mitreisenden. Zumindest steht dort eine Gruppe ebenfalls sommerlich gekleideter Menschen mit Koffern und Reisetaschen. Ein paar Jungs in unserem Alter, ein junges Pärchen und eine Familie mit zwei Teenagern. Die Familie tut mir jetzt schon ein wenig leid. Erst werden sie stundenlang mit einer Meute Feierwütiger in einen Bus gepfercht und landen dann in einem Urlaubsort, der meiner Meinung nach völlig ungeeignet für einen Familienurlaub ist.

Heiko hat andere Sorgen:

»Blöd, da fahren ja nur Kerle mit.«, meint er enttäuscht.

»Ist egal, Mann.«, sage ich aufmunternd und knuffe ihm mit meiner Karlskrone-Dose in die Rippen. »Geht ja gerade erst los!«

Kurz darauf kommt der Bus. Ein Doppeldecker. Im unteren ­Abteil gibt es zwei Sitzgruppen mit Tischen, wie Himo beim vorbeirollen des Busses sofort bemerkt. Das sollen unsere Plätze werden. Der Fahrer und eine junge, blonde Frau steigen aus und dirigieren uns in Richtung Kofferraum. Ich werde etwas nervös. Müssen wir blöde Fragen beantworten, wenn der Busfahrer unseren zentnerschweren Proviant-Koffer in das Gepäckabteil wuchtet? Ich wette, das Ding ist das schwerste Gepäckstück am Platz. Doch alles läuft glatt. Der kräftige Fahrer schaut zwar etwas irritiert, als er versucht, den Fress-Koffer locker anzuheben, bekommt ihn aber beim zweiten Versuch mühelos vom Boden hoch und sortiert ihn wortlos in den Kofferraum ein. Entspannt klettere ich in den Bus.

Die anderen haben die Plätze um die Tische schon besetzt und schießen lachend die ersten Urlaubsfotos. Olli, Heiko und Pudding belegen die eine – Jochen, Himo und ich die andere Sitzgruppe. Ich hoffe, dass wir niemanden mehr auf die freien Plätze lassen müssen, denn der mir gegenüberliegende Sitz ist leer und ich kann meine langen Beine ausstrecken. Die anderen Jungs aus dem Massa sind ins Oberdeck geklettert, das Pärchen und die ­Familie haben sich zu uns ins Untergeschoss gesetzt. Um die unmittelbar bevorstehende Abfahrt standesgemäß zu feiern, holt jeder von uns eine Dose Bier heraus und stellt sie vor sich auf den Tisch. Erstmal folgt natürlich die Ticketkontrolle durch die junge Frau und eine kurze Einleitung:

»Hallo, mein Name ist Alexandra und ich bin ihre Reisebegleitung auf der Fahrt nach Lloret de Mar.«

Bis auf die Eltern der Teenies quittieren alle Businsassen diesen Satz mit freudigem Gegröle. Sie fährt lächelnd fort:

»Die voraussichtliche Reisedauer beträgt 18 Stunden.«

Bis auf die Eltern der Teenager quittieren alle Businsassen diese Info mit unerfreutem Gegröle.

Der weitere Vortrag gestaltet sich folgendermaßen:

In Karlsruhe und Freiburg steigen weitere Passagiere zu.

Unerfreutes Gegröle.

Getränke können bei Alexandra ­erworben werden.

Freudiges Gegröle.

Die Toilette soll nicht ­benutzt werden.

Buhrufe.

Der Fahrer läßt den Motor an und der Diesel im Heck erwacht vibrierend zum Leben. Als der Bus den Massa-Parkplatz verlässt, öffnen wir unsere Bierdosen und prosten uns ausgelassen zu.

»So Männer!«, ruft Pudding, »Jetzt gibt’s kein zurück.«

Wir fahren in den Nachmittag, trinken Bier und ­albern herum. Außerdem blättern wir lachend und kopfschüttelnd Puddings sogenannte »Bildungslektüre« durch. Er hat mehrere Ausgaben der Sex- und Sensationspostille »Coupé« dabei. Kurz hinter Heidelberg probiert Pudding die Sitzverstellung aus und landet mit voller Wucht und der kompletten Rückenlehne auf dem Schoß des Familienvaters. Der nimmt ihm das zum Glück nicht übel, kommentiert den Vorfall aber mit einem lauten:

»Was ein Vieh!«.

Immerhin kommen wir auf diese Art ins Gespräch mit der ­Familie. Pudding möchte nach einer kurzen Entschuldigung wissen, ob die Familie »zur Erholung« nach Lloret fährt. Eine Frage, die bei Olli für Heiterkeit sorgt.

»Na selbstverständlich.«, meint der Vater überzeugt »Wir machen zwei Wochen gemütlich Strandurlaub.«

Olli hat Probleme ein lautes Lachen zu unterdrücken und ich denke bei mir, wir werden auf der Rückfahrt ja sehen, ob sich die Familie nach zwei Wochen Urlaub in der Partymetropole gut ­erholt hat.

Die Passagiere, die in Karlsruhe zusteigen, klettern direkt nach oben. Wieder fast nur junge Leute, aber kaum Mädels. Immerhin ist der Sitz mir gegenüber frei geblieben. Beruhigt strecke ich mich wieder aus und öffne mein drittes Bier.

Himo hat schon ein paar Dosen mehr geleert und der Inhalt seiner Palette ist merklich geschrumpft. Als Olli seinen Rucksack auf der Suche nach seinem Walkman durchwühlt und eine Packung Milchschnitten auf den Tisch legt, regt sich bei Himo anscheinend der Hunger und er fordert mit glasigem Blick:

»Jürgen, gib mal ’ne Michschnitte!«

Olli schaut verwirrt und wir prusten los.

Wer ist Jürgen?

Und wie zur Hölle kommt Himo auf diesen Namen?

Das hastig nachgeschobene: »Olli, gib mal ne Milchschnitte, bitte!« hilft auch nicht mehr. Noch lacht Olli mit, aber wir machen ihm mit lauten »Jürgen«-Sprechchören klar, dass er für die nächsten zwei Wochen einen neuen Namen trägt.

Es wird dunkel, als wir Freiburg erreichen und vor dem Bahnhof stehen eine Menge Leute mit Koffern und Reisetaschen. Jetzt füllt sich der Bus bis auf den letzten Platz und ich muss die Beine einziehen. Himo setzt sich rüber zu den anderen Jungs und Jochen und ich bekommen Gesellschaft von Dieter und Heinz.

Dieter ist ein schlaksiger, blasser Typ mit Seitenscheitel und Nickelbrille. Heinz ist füllig und sonnengegerbt. Seine wasserstoffblonden Haare sind zu einem Vokuhila frisiert und sein Gesicht ziert ein ebenso wasserstoffblonder Schnauzer. Ein Anker-Tattoo auf seinem Unterarm rundet das Gesamtbild ab. Beide sind vielleicht Ende vierzig und riechen nach Kneipe. Sie begrüßen Alexandra wie eine alte Bekannte und bestellen bei ihr zwei Piccolos. Den Sekt trinken sie direkt aus der Flasche und verfallen für die nächste Stunde, bis auf weitere Piccolo-Bestellungen, in Schweigen. Irgendwann regt sich Dieter:

»Diesmal gehen wir aber mal ins Möff. Ich setz mich nicht wieder jeden Abend ins Bayrische Haus.«

»Dann geh doch!«, murrt der Anker-Mann, »Du immer mit ­deinen Discos!«.

Ich vermute, die zwei haben vorhin in der Bahnhofskaschemme bereits hitzig hinsichtlich der Abendgestaltung am Zielort diskutiert.

Pudding hat mitgehört und klinkt sich in die Unerhaltung ein.

»Kennt ihr Euch in Lloret aus?«

Beide nicken nur, weil sie gerade wieder einen Schluck aus ihren Piccolos genommen haben.

»Wart ihr schon öfter da?«, fragt Jochen nach.

Heinz lehnt sich zurück und winkt lässig ab:

»Ja klar! Wir fahren da schon seit 16 Jahren hin. Dieses Jahr sogar zweimal. Oktober ist auch schon gebucht.«

Wir starren die beiden mit einer Mischung aus Respekt und Erstaunen an. Lloret muss entweder die geilste Stadt der Welt sein oder Dieter und Anker-Mann haben einfach einen veritablen Dachschaden. Wer fährt denn bitte sechzehn Jahre lang in ein und denselben Ort, um Urlaub zu machen?

Pudding möchte noch ein paar Insider-Tipps von dem schrägen Pärchen haben:

»Welche Läden könnt ihr empfehlen?«

Heinz: »Das Bayrische Haus.«

Dieter: »Moef Gaga. Ist ’ne Disco.«

Mitten in der Nacht. Nach einer Pause irgendwo in der Schweiz ist es still geworden im Bus. Meinen Metal Hammer habe ich trotz der dürftigen Beleuchtung von vorne bis hinten durchgelesen und dabei drei Musikkassetten gehört. Um mich herum schlafen alle und ich habe mittlerweile bemerkt, was ich Zuhause vergessen habe: Mein Kissen. Die Dosenbiere machen zwar müde, aber um auf dem unbequemen Sitz tatsächlich einzuschlafen reicht es nicht. Da müsste mich schon jemand KO schlagen. Außerdem bläst mir die Klimaanlage eisig ins Gesicht. Um mich im Mittelgang hinlegen zu können, müsste ich umständlich über Jochen drüberklettern. Aber der schläft, den Kopf auf ein mitgebrachtes, kleines Kissen mit »Biene Maja« Aufdruck gebettet und ich möchte ihn nicht wecken. Vielleicht sollte ich bei Alex einen Piccolo bestellen? ­Dieter und Heinz schnarchen jedenfalls entspannt vor sich hin. Kann allerdings auch an der Tatsache liegen, dass das schräge Pärchen dieses Programm schon seit 16 Jahren durchzieht.

Ich öffne mir eine weitere Dose Karlskrone, decke mich mit meiner Bomberjacke zu und lese den Bericht »Swinger-Alarm! So wild treibt es Bielefeld« in einem von Puddings Tittenheftchen.

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