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KAPITEL 5

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Als Gavin Daniels zum Lager zurückkam, waren Blair, das kleine Kind und Wynne eingeschlafen. Nur Kelly und Frazer erwarteten ihn mit gespannten Gesichtern.

»Nein«, beantwortete er ihre stumme Frage und ließ sich neben dem Feuer in den Sand fallen. »Nicht eine Menschenseele, kein Geräusch, kein Licht, keine Hütte, kein Weg, kein Boot. Nichts. Ich bin mir vorgekommen wie bei einem Spaziergang auf dem Mond, so einsam ist es da draußen.«

»Wie weit sind Sie gegangen?« fragte Frazer.

»Drei, vielleicht vier Meilen. Bis ich nicht mehr weiter konnte – an einer Stelle, wo Felsklippen senkrecht ins Meer stürzen. Im Dunkeln wollte ich nicht über die Felsen klettern, das war mir zu gefährlich. Wenn ich ins Wasser gestürzt wäre, hätte mich die Brandung zerschmettert.«

Er schaute sich um. »Sind Zach und Alita noch unterwegs?«

»Ja.«

Es gab nicht viel zu sagen. Die drei schwiegen, jeder hing seinen Gedanken nach, horchte auf das Knistern der Flammen und auf die Wellen, die rhythmisch gegen den Strand schlugen. Und wartete. Jeder hoffte, Zach und Alita würden bessere Nachricht bringen. Jeder versuchte, nicht an den Absturz zu denken, was keinem gelang. Jeder fragte sich, ob die Maschine vermißt wurde, ob ihre Angehörigen informiert waren, ob sie ebenso angstvoll auf Nachrichten warteten, wie die kleine Schar Überlebender angstvoll auf Rettung hoffte.

Alita war bereits zu hören, ehe man sie sehen konnte. Sie stieß spanische Flüche aus und sang dazwischen ein Lied von einem Mann, den sie sich aus dem Herzen reißen wollte. Die letzten Meter taumelte sie und ließ sich wie ein Sack in den Sand plumpsen.

»Und wo ist Zach?« fragte Gavin, als Alita von sich aus keine Auskunft gab.

»In der Hölle, hoffe ich«, krächzte Alita gereizt. »Caramba! Meine Stimme klingt wie eine verrostete Gießkanne. Ich brauche was zu trinken.«

Kelly reichte ihr eine halbe Kokosnuß.

Alita verzog das Gesicht. »Ich hasse Kokosnuß! Ich will Wasser.«

»Drehen Sie sich um, da ist genügend Wasser«, empfahl Kelly ihr. »Ein ganzer Ozean voll. Sie sind hier nicht im Hilton. Es gibt entweder Kokosmilch oder gar nichts. Es sei denn, Sie lutschen an einer Banane.«

»Stecken Sie sich die Banane sonstwohin«, entgegnete Alita patzig, ergriff aber widerwillig die Kokosnuß. »Bäh! Widerlich!«

»Stellen Sie sich vor, es ist eine Pina Colada«, schlug Frazer vor.

»Ich stell mir lieber vor, Sie wären unsichtbar«, blaffte sie.

»Keifen Sie rum, so lange Sie wollen, aber erzählen Sie uns vorher, was los ist. Haben Sie und Zach etwas gefunden? Wo bleibt er?« entgegnete Gavin, dessen Geduld am Ende war.

»Er kommt zurück, wann er es für richtig hält. Nein, wir haben nichts gefunden außer Sand, Felsen und Urwald. Ich bin irgendwann umgekehrt. Dieser Kerl rennt wie ein Marathonläufer. Der Mann kennt kein Erbarmen. Ich habe ihn gebeten, langsamer zu gehen. Ich habe ihm gesagt, daß ich müde bin und hungrig und daß ich vor Durst sterbe. Und was antwortet der Typ? Er sagt, er habe mich gewarnt, und geht einfach weiter!«

»Wie weit sind Sie gekommen, bevor Sie umdrehten?«

»Bis zum Ende der Insel. Jedenfalls macht die Küste weit hinten einen scharfen Knick nach links, und ich sah kein Land mehr.«

»Wie viele Meilen?« drängte Gavin.

Alita schaute ihn finster an. »Wie, zum Teufel, soll ich das wissen?« Sie hielt ihm ihr Handgelenk hin, an dem eine goldene, mit Diamanten besetzte Armbanduhr funkelte. »Wofür halten Sie das? Es ist eine Uhr und kein ... kein ...«

»Meilenzähler«, half er ihr aus.

»Genau.«

»Haben Sie Lichter gesehen? Irgendwelche Pfähle im Meer? Oder Stege? Spuren? Nichts?« fragte Kelly mutlos.

»Nada«, antwortete Alita knapp. »Überhaupt nichts.«

»Haben Sie wenigstens Süßwasser gefunden?« wollte Frazer wissen.

Alita schüttelte den Kopf, und ihre langen Ohrringe glitzerten in ihrer zerzausten schwarzen Mähne. »Wenn wir welches gefunden hätten, wäre ich nicht zurückgekommen. Ich würde trinken, trinken, trinken und meinen armen geschundenen Körper darin baden.«

Kelly wußte nicht, was sie geweckt hatte. Als sie sich umblickte, hatte sich nichts verändert, nur das Feuer war heruntergebrannt. Sie richtete sich vorsichtig auf, um die anderen nicht zu stören, und unterdrückte ein Stöhnen. Jeder einzelne ihrer geschundenen Knochen schmerzte. Sie griff nach einem Stück Treibholz, und dann fiel ihr auf, daß es zu still war. Die Wellen schlugen nach wie vor an den Strand, der Gefangene murmelte etwas im Schlaf, und Gavin schnarchte leise. Doch etwas fehlte. Etwas, das die ganze Zeit dagewesen war.

Und dann wußte sie es. Die Frau. Sie röchelte nicht mehr. Das Rasseln und Keuchen mit jedem Atemzug war verstummt. Beklommen ging Kelly zu ihr hinüber und kauerte sich neben sie. Das Gesicht der Frau war friedlich entspannt, nicht mehr schmerzverzerrt. Und während sie ihr Handgelenk ergriff, um ihren Puls zu fühlen, wußte Kelly bereits, daß sie ihn nicht finden würde. Die Frau war tot.

»Sie ist vor etwa einer halben Stunde von uns gegangen.«

Erschrocken fuhr Kelly herum. Wynne lag auf einen Ellbogen gestützt und beobachtete sie. »Ist sie ...? War es ...?«

»Nein, sie ist nicht aufgewacht«, antwortete Wynne mit einem matten Lächeln. »Sie ist im Schlaf gestorben, so wie wir alle gern gehen würden, wenn das ein Trost ist. Ich habe für sie gebetet.«

Kelly wischte die Tränen weg, die ihr die Wangen hinunterliefen. »Ich weiß gar nicht, warum ich weine. Ich kannte sie doch nicht. Es ist nur so traurig. Wir ... wir wissen nicht einmal, wie sie heißt! Der Mann und der Junge haben Brieftaschen bei sich, aber über die Frau wissen wir gar nichts. Sie ist ganz allein gestorben.«

»Aber nein. Wir waren bei ihr. Gott war bei ihr.«

»Ach tatsächlich?« entgegnete Kelly sarkastisch. »War er bei dem Flugzeugabsturz auch dabei, bei dem so viele unschuldige Menschen sterben mußten?«

»Aber Kelly«, beschwichtigte Wynne sie. »Seien Sie nicht bitter. Sie wissen, daß Er Seine Hand schützend über uns hielt und dafür sorgte, daß Sie und ich und die anderen überlebten.«

»Warum nur wir? Warum nicht alle anderen?«

»Es steht uns nicht zu, an den Ratschlüssen des Herrn zu zweifeln, mein Kind. Er allein weiß, wen Er aus welchem Grund und zu welchem Zeitpunkt zu sich holt. »Wynnes Augen verdunkelten sich. »Er hat auch meinen James geholt. Das ist mir jetzt klar, obwohl mein Verstand es den ganzen Tag über nicht wahrhaben wollte. Auch ich bin versucht, Gottes Ratschluß in Zweifel zu ziehen. Doch was würde mir das nutzen? Nein, es ist besser, den Willen Gottes demütig hinzunehmen. Auch für uns kommt einmal die Stunde.«

Kelly seufzte tief. »Leichter gesagt als getan.«

»Ich weiß«, entgegnete Wynne leise. »Ich trauere sehr um James. Wir waren so viele Jahre zusammen. Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn weiterleben kann. Ich hoffe, unser himmlischer Vater läßt mich ihm bald folgen. Und irgendwie habe ich das Gefühl, er erfüllt mir diesen Wunsch.«

Kelly kroch zu der alten Frau hinüber, nahm ihre welke Hand und streichelte sie. »Es tut mir leid, Wynne. Wenn ich etwas tun kann, um Ihnen den Verlust zu erleichtern, sagen Sie es mir bitte.«

»Danke, mein Kind. Aber ich glaube, im Augenblick kann mir nur Gott helfen.«

Die Morgendämmerung begann den Himmel bereits perlgrau und rosig zu färben, als Zach sich zu Tode erschöpft zum Lager zurück schleppte. Er war die ganze Nacht marschiert, hatte sich nur kurze Ruhepausen gegönnt. Seine Fußsohlen glühten, seine Rippen und die verletzte Schulter schmerzten. Sein Kopf fühlte sich an, als würde eine Zwergenarmee mit Spitzhacken auf seine Schädeldecke einhämmern. Seine Augen tränten vor Schlafmangel und Sand, den der Wind ihm ins Gesicht trieb. Seine Kehle war ein einziges trockenes Brennen. Jeder Muskel, jede Sehne in seinem überstrapazierten Körper revoltierte. Er konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen.

Das Schlimmste war, daß er mit schlechter Nachricht zurückkehrte. Er hatte auf seiner nächtlichen Wanderung die gesamte Insel umrundet, mit Ausnahme eines Abschnitts im Norden, wo Felsen eine unüberwindliche Barriere bildeten, die ihn zur Umkehr zwangen. Er hatte schätzungsweise dreißig Meilen zurückgelegt, fünfzehn Meilen hin und fünfzehn zurück. Die Insel mußte etwa acht Meilen in nordsüdlicher Richtung lang und in westöstlicher Richtung vier Meilen breit sein.

Und seine ganze Mühe war vergeblich gewesen. Er hatte nicht einen Menschen unterwegs getroffen, kein Haus, keine verfallene Hütte oder gar ein Dorf. Nicht einmal einen verrotteten Ankerplatz oder eine verkohlte Feuerstelle. Das einzige Zeichen von Leben, dem er begegnet war, abgesehen von ein paar Vögeln, die er aus dem Schlaf geschreckt hatte, war eine Sandkrabbe, die versucht hatte, seine Zehen anzuknabbern.

Wenn sich nicht irgendwo im Landesinnern eine Ansiedlung befand, war die Insel unbewohnt. Einsam. Und Zach mußte nicht lange nach dem Grund suchen. Er hatte nirgends Wasser entdeckt. Wenn sich nicht landeinwärts ein Bach oder ein Weiher befand, gab es auf dem Eiland kein Süßwasser – und das bedeutete, daß die Überlebenden sich in einer katastrophalen Notlage befanden.

Seine einzige Hoffnung war, daß Daniels Anzeichen von menschlichem Leben entdeckt hatte und Hilfe im Anmarsch war. Zach mußte schleunigst von hier fortkommen, aus einer Reihe von persönlichen Gründen, die nichts mit seinem nächsten Auftrag zu tun hatten. Er wußte nicht, wer ihm größere Sorgen bereitete – seine Tochter oder sein Vater. Seine ganze Familie würde die Nachricht des Flugzeugabsturzes wie ein Keulenschlag treffen, alle würden mit dem Schlimmsten rechnen. Becky würde völlig verstört reagieren. Zachs Mutter würde jammern und beten und sich an den kleinsten Hoffnungsschimmer klammern. Seine beiden Schwestern würden den Angestellten der Fluggesellschaft mit Fragen und bitteren Anklagen in den Ohren liegen. Aber es war sein Vater, um den Zach sich die meisten Sorgen machte.

Ike Goldstein war ein liebenswerter, eigensinniger alter Mann, der die Familie mit seiner Sturheit beinahe zur Verzweiflung brachte. Seit einiger Zeit klagte er über Schmerzen in der Brust, Kurzatmigkeit und Schwindelanfälle, weigerte sich aber hartnäckig, einen Arzt aufzusuchen. Zachs Mutter Sarah hatte es mit allen Mitteln versucht. Anfangs mit Bitten, dann mit Vorwürfen, Nörgeln und Beschimpfungen bis hin zu offener Erpressung. Sie wandte jede Taktik einer Mutter und Ehefrau an, um Schuldgefühle bei ihm zu wecken.

Vergebens. Ike behauptete starrsinnig, es sei nur eine Magenverstimmung, vielleicht der Anflug einer Erkältung, jedenfalls nichts Ernsthaftes, was den Besuch bei einem »Quacksalber« nötig machen würde, der ohnehin nichts von seinem Geschäft verstünde und nur himmelschreiend hohe Rechnungen für einen Haufen nutzloser Ratschläge schickte.

In einem zweistündigen Telefongespräch war es Zach schließlich gelungen, den alten Goldstein weichzukochen, allerdings nur unter gewissen Bedingungen. Ike wollte sich den notwendigen Untersuchungen, die der Arzt bereits aufgrund von Sarahs Schilderungen seiner Symptome empfohlen hatte, nur unterziehen, wenn Zach ihn begleiten würde. Zach hatte sich dazu bereit erklärt und die Eltern angewiesen, einen Arzttermin für den ersten Montag nach seiner Rückkehr nach Seattle festzusetzen. Auf diese Weise blieben ihm ein paar Tage, um seine Mannschaft zusammenzustellen und einem zuverlässigen Mann die Vertretung der Bauaufsicht in Las Vegas zu übertragen.

Zach hatte vorgehabt, von Las Vegas nach Seattle zu fliegen und so lange wie nötig zu bleiben. Er wollte mit seinen Leuten per Telefon und Fax Kontakt halten und ein paarmal hin und her fliegen. Er war fest entschlossen, alles daranzusetzen, daß sein Vater sich den Untersuchungen unterzog. Nur dann konnte der Arzt eine genaue Diagnose stellen und die erforderlichen Maßnahmen ergreifen – sei es eine medikamentöse Behandlung gegen Bluthochdruck oder möglicherweise auch ein operativer Eingriff. Zach jedenfalls mußte ihm zur Seite stehen. Sein Vater haßte Krankenhäuser nicht nur, er hatte eine tiefsitzende Angst davor und glaubte, sobald jemand in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, kam er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur mit den Füßen voran wieder heraus – schon gar, wenn der Bedauernswerte sich einer Operation unterziehen mußte.

»Ich seh es doch ständig im Fernsehen und kenne tausend Geschichten«, hatte Ike immer wieder beteuert. »Sie geben dir verseuchtes Blut, sie nehmen unsterile Instrumente, und sie lassen einen Wattebausch oder eine Schere in deinem Bauch, wenn sie dich wieder zunähen. Du bist einer Horde unfähiger Idioten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wenn sie dich erst mal aufschneiden, kannst du davon ausgehen, daß du ein toter Mann bist.«

Zu dieser höchst einseitigen Sichtweise kam, daß Ike eine seltene Blutgruppe hatte. Zach war der einzige in der Familie mit der gleichen Blutgruppe. Selbstverständlich hatte er sich bereit erklärt, für seinen Vater Blut zu spenden, falls er operiert werden müsse. Ike würde niemals zulassen, daß fremdes Blut in seine Adern geträufelt wurde. Und wenn die düsteren Weissagungen seiner Mutter und die Befürchtungen des Arztes stimmten, war mit einer Operation zu rechnen.

Zach hoffte inständig, daß der alte Herr bei der furchtbaren Nachricht über den Flugzeugabsturz nicht einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erlitten hatte. Zach mußte dringend nach Seattle zurück, und zwar so schnell wie möglich. Doch er war auf einer einsamen Insel mitten im Ozean gestrandet und konnte nichts tun, als geduldig auf Hilfe zu warten.

Als er endlich in Sichtweite des Lagers kam, wurde ihm das Herz noch schwerer. Seine Leidensgefährten lagen da, so wie er sie verlassen hatte – ein abgerissenes, unglückliches Häuflein Schiffbrüchiger um das heruntergebrannte Lagerfeuer.

Zach hätte keine zehn Schritte mehr geschafft. Völlig erschöpft sackte er in die Knie, ließ den Kopf hängen und keuchte schwer. Hoffentlich wachte niemand auf. Er wollte die schlechte Nachricht noch nicht überbringen, wollte die Angst und Enttäuschung nicht in ihren Gesichtern lesen. Andererseits konnte er die Wahrheit nicht verbergen wie ein kleines Kind, das ein Spielzeug zerbrochen hat und es nicht eingestehen will. Hier ging es um Leben und Tod.

Er kauerte immer noch im Sand, als ihm jemand leicht auf die Schulter klopfte. Mühsam öffnete er die Augen und sah eine braune Hand, die ihm eine halbe Kokosnuß hinhielt.

»Hier Mann, trinken Sie«, sagte Daniels leise. »Ich wollte, ich könnte Ihnen was Stärkeres anbieten, aber wie die Dinge liegen ...«

Zach trank gierig. Die Kokosmilch floß wie Nektar seine ausgedörrte Kehle hinunter. »Wenigstens haben wir das« krächzte er heiser. »Damit verdursten wir vorläufig nicht.«

Gavin setzte sich zu ihm. »Vermutlich haben Sie nichts gefunden, genausowenig wie ich.«

Zach schüttelte den Kopf. »Nichts. Niemand. Keinerlei Anzeichen, daß vor uns schon einmal ein Mensch seinen Fuß auf diese Insel gesetzt hat. Und auch kein Süßwasser. Aber vielleicht finden wir etwas im Innern der Insel.«

»Scheiße!«

»Richtig. Wie geht’s den anderen? Ist Alita zurückgekommen?«

»Ja, sie war wütend wie eine Hornisse. Sie konnte wohl nicht glauben, daß Sie nicht an ihrem Angebot interessiert waren.«

»Als würde mir danach der Sinn stehen!« erklärte Zach matt und schüttelte den Kopf. »Was ist mit den anderen?«

»Ich jedenfalls platze gleich«, rief Roberts herüber, um auf seine Zwangslage aufmerksam zu machen.

»Schlagen Sie die Beine übereinander und halten Sie die Luft an. Wir kommen gleich«, riet Gavin ihm. Und an Zach gerichtet, fuhr er fort: »Die Frau ist gestorben.«

»Welche Frau?« Zach hob den Kopf.

»Die wir vom Berg runtergetragen haben. Jane«, ergriff Kelly das Wort.

Zach wandte ihr den Kopf zu. Sie lag auf den Ellbogen gestützt im Sand. »Jane?«

»Jane Doe, wenn Sie wollen«, antwortete sie leise. In ihren grünen Augen schimmerten Tränen. »Wir müssen ihr einen Namen geben. Wir können Sie nicht einfach so begraben.«

»Noch eine scheußliche Aufgabe«, seufzte Gavin. »Keine Ahnung, womit wir ein Grab für sie schaufeln sollen.«

»Dann sollten Sie sich möglichst rasch etwas überlegen«, meinte Wynne, die sich aufgerichtet hatte. »In diesem Klima kann man eine Leiche nicht lange rumliegen lassen.«

»Entzückende Vorstellung.« Diese spitze Bemerkung kam von Frazer, der ebenfalls aufgewacht war.

»Dios mio! Kann man denn hier keine Minute schlafen?« brummte Alita und spähte mit einem von schwarzer Wimperntusche verschmierten Auge in die Runde. »Es ist noch nicht mal hell!«

»Aber gleich, Alita. Der Morgen dämmert bereits. Wir wollten nicht, daß Sie den Sonnenaufgang verpassen«, spottete Frazer. »Wir wollten sehen, ob Sie schmelzen wie die Hexe im Zauberer von Oz

»Sehr komisch. Stecken Sie den Kopf in den Sand und ersticken Sie.«

»Sie bringen etwas durcheinander«, klärte Kelly ihn sachlich auf. »Die Hexe schmolz, als sie mit Wasser übergossen wurde. Es sind die Vampire, die sich in Rauch auflösen, wenn der erste Sonnenstrahl sie trifft.«

»Gütiger Himmel, Zach!« entfuhr es Gavin mit gespieltem Entsetzen. »Sie hat Sie doch hoffentlich nicht in den Hals gebissen, da draußen, mitten in der Nacht?«

»Pah!« Alita bedachte Zach mit einem boshaften Blick. »Dafür rannte er viel zu schnell. Ich glaube allmählich, unter euch ist kein einziger richtiger Mann.« Ihr Blick heftete sich auf den Steward. »Sie können sich die Hände reiben, Frazer. Für Sie muß das ja wie eine festlich gedeckte Tafel sein, und Sie brauchen sich nur das Beste herauszupicken.«

»He! Moment mal!« empörte sich Gavin. »Ich habe eine Verlobte zu Hause, und zudem gibt es ein paar knackige Schönheiten, die nur darauf warten, daß ich meine Meinung ändere.«

Alita zog eine Braue hoch. »Na und? Was beweist das?«

»Sie sind ein richtiges Miststück.«

»Bitte! Nicht vor dem Baby!« mischte Blair sich ein.

»Kein Baby! Großes Mädchen!« widersprach die Kleine schläfrig.

Blair kam auf die Füße und streckte der Kleinen die Hand hin. »Hallo, mein großes Mädchen! Na komm, es ist Zeit, aufs Töpfchen zu gehen.«

»Nein.« Die Kleine schob schmollend die Unterlippe vor. »Mit Mami auf Töpfchen.«

»Ehm ... Deine Mami ist nicht da, Schätzchen«, sagte Blair. »Diesmal geh ich mit dir, einverstanden?«

»Ich muß auch mal!« erklärte Roberts. »Ich halt es nicht mehr länger aus, Leute.«

Keiner achtete auf ihn, auch nicht die Kleine. »Will zu Mami!« beharrte sie, verzog das Gesicht und fing an zu weinen. »Will zu meiner Mami! Mami!«

Blair kniete sich zu ihr, nahm sie in die Arme und wiegte sie. »Ich bin auch eine Mami«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich hab einen kleinen Jungen, er heißt Bobby. Er geht in die dritte Klasse. Und eine kleine Tochter. Nancy ist ungefähr zwei Jahre älter als du. Und ein drittes Baby ist unterwegs, aber ich weiß noch nicht, wie es heißen soll. Wir werden sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Und wie heißt du, Süße?«

Das Kind stammelte etwas Unverständliches.

»Cindy? Das ist ein hübscher Name.«

Die Kleine schüttelte heftig den Kopf, daß ihre blonden Locken wackelten. »Nein. Sirdley«, schniefte sie.

»Shadley?« wiederholte Kelly stirnrunzelnd.

»Nein.« Das Mädchen stampfte mit dem Fuß auf und wiederholte den seltsamen Namen.

»Vielleicht heißt sie Shirley«, meinte Wynne.

Die Kleine schmollte weiter.

»Auch nicht. Wie wär’s mit Susie?« schlug Zach vor.

Das kleine Gesicht verfinsterte sich.

Nun rieten alle der Reihe nach.

»Shelby?«

»Sally?«

»Shelly?«

Die Kleine schrie immer wieder ihren unverständlichen Namen.

»Ich versteh nicht, was sie sagt. Klingt irgendwie gar nicht englisch für mich«, seufzte Gavin genervt.

»Das kommt daher, weil Ihr Amis die Sprache so verhunzt habt«, meinte Frazer. »Sie ist Australierin. Sie stieg mit ihren Eltern in Sydney zu.«

»Und? Verstehen Sie die Kleine?« fragte Alita.

»Nein«, gestand er kleinlaut. »Wir sollten sie Sheila nennen, so nennt man in Australien alle hübschen Mädchen.«

Alle verzogen die Gesichter, auch das kleine Mädchen.

»Genausogut könnten wir sie Blondie oder Lassie nennen«, wandte Zach ein. »Wie wär’s mit Sydney?«

Das Gesicht der Kleinen erhellte sich.

»Heißt du so, Liebling?« fragte Kelly. »Heißt du Sydney?«

»Nein«, antwortete das Kind.

»Aber es ist ein hübscher Name, findest du nicht?« warf Blair rasch ein. »Dürfen wir dich Sydney nennen?«

Das Mädchen lächelte und zeigte kleine Mausezähnchen. »Mhmhm«, nickte sie.

»Okay. Darm also Sydney.« Damit nahm Blair die Kleine wieder bei der Hand. »Komm, Syd. Dann wollen wir mal. Ich kann nicht länger warten.«

»Ich auch nicht!« brüllte Roberts. »Hey! Seid ihr alle taub oder was?«

Zach drückte Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel im vergeblichen Versuch, den pochenden Schmerz in seinem Kopf zu lindern. »Dieses Problem hätten wir gelöst. Bleiben nur noch tausend andere. Was tun wir beispielsweise mit unserem vorlauten Strafgefangenen mit der Konfirmandenblase?«

Insel der Versuchung

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