Читать книгу Männer weinen nicht - Catherine Herriger - Страница 5
1. Die Jäger
ОглавлениеSchön sind sie nicht, unsere Vorfahren! Erst bei sehr genauem Hinsehen können wir anhand der Geschlechtsmerkmale Mann und Frau überhaupt unterscheiden. Beide haben denselben Körperbau: klein und stämmig, dabei stark behaart. Sie sind ja auch den gleichen Umweltbedingungen und -anforderungen ausgesetzt. Die fortwährende harte Arbeit, zum größten Teil im Freien, der ständige, gemeinsame Kampf ums Überleben, haben den Körper von Mann und Frau abgehärtet und gestählt. Die Haut am ganzen Körper ist rissig, zerfurcht und dabei hart wie Leder. Die Finger- und Zehennägel sind kurz und schaufelartig geformt. Die Gelenke sind verdickt und treten stark hervor. Unter der niedrigen Stirne verlaufen die buschigen Augenbrauen, fast ohne Zwischenraum, über der flachen, fleischigen Nase, der Unterkiefer ist stark ausgebildet und vorgeschoben. Die Lebenserwartung liegt etwa bei 30 Jahren.
Der Jäger lebt in einer Sippe von etwa dreißig bis vierzig Müttern, ihren Kindern und Männern. Er selbst hat ›eingeheiratet‹, d. h. er wurde von einer Frau ausgesucht, die ihn mit seiner Einwilligung in ihre Sippe mitnahm. Sollte die Beziehung auseinandergehen, muß er die Sippe seiner Frau wieder verlassen und in die seiner Mutter zurückkehren, es sei denn, eine andere Frau wählte ihn zum Manne.
Es hat sich bereits eine Form von Arbeitsteilung herausgebildet: während die Männer in Horden auf die Jagd gehen, bemühen sich die Frauen um die vegetabile Nahrungsbeschaffung und die Kleintierjagd mit dem Netz. Sie sind auch zuständig für den Hüttenbau, wenn die Sippe in eine fruchtbarere Gegend ziehen muß. Der gesamte häusliche Bereich untersteht also der Frau.
Noch vor wenigen Jahrhunderten jagten sie mit den Männern, weil die Sippen zu klein waren, und es daher den Einsatz jedes einzelnen brauchte, um mit den allereinfachsten Waffen ein größeres Tier zu erlegen. Die Jagd ist häufig unergiebig und von daher unzuverlässig für das Überleben der Sippe – deswegen sichern Pflanzen und Beeren den täglichen Nahrungsbedarf.
Der schlichten Tatsache wegen, daß die Frauen das Überleben der Sippe garantieren durch tägliche Nahrungsbeschaffung und durch das Gebären von Kindern, stehen sie in hohem Ansehen. In der religiösen Welt wurde die Mutter zur Fruchtbarkeitsgöttin, also zur obersten Gottheit, in der Sippe zum sozialen Mittelpunkt. Deswegen steht ihr auch die erste Partnerwahl zu. In den meisten Fällen ist der Sippensprecher eine Frau. Anliegen und Streitigkeiten werden vor den Frauenrat gebracht.
Es ist die friedvolle, die ›goldene‹ Zeit des Mutterrechtes, des Matriarchates. Alles gehört allen, es gibt noch keinerlei Art von Privateigentum, daher kaum Neid noch Rivalität. Machtstreben und Geltungstrieb des einzelnen haben gar nicht die nötigen sozialen Bedingungen, um sich durchsetzen zu können. Der jeweilige würde verlacht, ausgestoßen oder gar getötet, hätte er bereits Schaden angerichtet. Jedes Sippenmitglied ist für alle verantwortlich, jeder trägt zum gemeinsamen Wohl sein Möglichstes bei, Kinder und Alte sind aufgehoben im Kollektiv. Da es kein Privateigentum und keine bestimmende ›Autorität‹ gibt, sondern Beschlüsse nur im gemeinsamen Einverständnis getroffen werden, können keine Klassen, keine Hierarchien entstehen.
Die Zuordnung der Geschlechter basiert auf gegenseitiger Zuneigung. Da sowohl Mann wie Frau ihre eigene Arbeitsdomäne und Wichtigkeit haben, sind sie einander ebenbürtig. Der gegenseitige Respekt und die allgemeine Achtung sind gewährleistet. Beide teilen dasselbe große Interesse: das Überleben und den Fortbestand der Sippe.
Der Wert des Mannes mißt sich an seinem Einsatz im Kollektiv und an seiner Geschicklichkeit im Herstellen von Waffen, Werkzeug und Schmuck. Ihm gehört die Bewunderung aller für seine ›technischen‹ Findigkeiten; es sind seine Arbeiten, die der Sippe Ansehen verschaffen.
Aus geheimnisvollen Gründen wird die Frau manchmal schwanger, genauso unberechenbar wie die Erde, die den Menschen mit Fruchtbarkeit beglücken kann. Neues Leben entsteht nur im Weib und aus der Erde – noch wird kaum ein Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Zeugung hergestellt, d. h. es gibt keine eigentliche Vaterschaft. Der Begriff ›Vater‹ im heutigen Sinne existiert noch nicht!
Vor kurzem hat die Sippe aufgehört, ihren Toten deren jeweils beste handwerkliche Erzeugnisse ins Grab mitzugeben; man hat erkannt, daß den Lebenden mehr damit gedient ist, bereits bewährte Waffen und Werkzeuge weiter zu verwenden. Natürlich stellte sich die Frage, wem denn die Güter zur Obhut und Pflege übergeben werden sollten. Die Sippe entschloß sich zur Weitergabe in direkter mütterlicher Abstammung. Das erste ›Erbrecht‹ in der Geschichte der Menschheit ist da!
Vorläufig erben beim Ableben einer Frau ihre Töchter, dann ihre Schwestern, dann ihre Tanten. Stirbt ein Mann, so erben die Söhne seiner Schwester, dann die Brüder der Mutter, dann die eigenen. Da man ja nur die Mutterschaft kennt, kann der Mann selbst nichts vererben – er hat keine ihm blutsverwandten Nachkommen.
Im Laufe der nächsten Jahrhunderte werden die Jäger allmählich seßhaft – die Frauen entdecken den Ackerbau. Die Sippen sind nicht mehr auf Gedeih und Verderb der Natur ausgeliefert, sie haben erkannt, daß Boden zum Teil von Menschenhand urbar gemacht werden kann. Diese Erkenntnis bedeutet einen ungeheuren Sprung in der Geschichte: der Mensch versteht erstmals den Zusammenhang zwischen Säen und Ernten. Auf dieser Erkenntnis wird die gesamte technische Entwicklung der folgenden Generationen fußen, bis in unser Jahrhundert!
Es ist selbstverständlich, daß der Ackerbau fast ausschließlich die Domäne der Frau ist. Sie verkörpert Fruchtbarkeit – und ist somit auch für die Fruchtbarkeit der Erde zuständig.
Dank dem Ackerbau leben unsere Vorfahren erstmals im Überfluß – sie können sogar Vorräte anlegen. Zwar hat der Boden für sich und als Bleibe noch wenig Bedeutung. Sobald die Erde erschöpft ist, zieht die Sippe weiter auf der Suche nach neuem, fruchtbarem Boden, der jeweils gemeinsam bebaut wird.
Aber allmählich lernen die Menschen, die Äcker so zu bepflanzen, daß sie abwechselnd wieder bebaubar werden. Die Fruchtwechselwirtschaft ist da – die Sippe kann endgültig seßhaft werden. Der Jäger hat sich vom Nomaden zum Ackerbauer entwickelt. Alljährlich wird der Boden parzellenweise je nach Größe der verschiedenen Sippeneinheiten aufgeteilt. Eine solche Einheit besteht aus einer Mutter, ihren Kindern und den angeheirateten Männern.
Wenn die Sippe früher für die Verpflegungsmöglichkeiten zu groß wurde, spaltete sich eine Einheit ab und zog unter der Führung der ältesten Frau in ein anderes Gebiet. Jetzt, wo die Sippe seßhaft ist, entstehen Dörfer, d. h. wenn ein Haus zu klein wird, so baut die jüngste Tochter mit ihrem Anhang ein neues Haus. Wird dann das Dorf zu groß, so spaltet sich die Gemeinschaft, und die jüngsten Sippeneinheiten gründen wiederum ein Dorf. Die Dörfer bleiben in engem Kontakt zueinander und bilden bei Bedarf größere Arbeitsgemeinschaften. Sie betrachten sich alle der gleichen Stammesmutter zugehörig, und somit muß nach wie vor jede Frau ihren Mann aus einer anderen Sippe als der ihrigen auswählen. Durch den Nahrungsüberfluß steigen die Geburtsraten gewaltig. Aus den Sippen bilden sich schnell Dörfer – aus einer Vielzahl einander verwandter Dörfer entstehen Stämme. Werden die Stämme zu groß, so gilt wieder dasselbe Prinzip wie in der Sippe: sie spalten sich und gehen untereinander ›Bündnisse‹ ein. Einige solcher Bündnisse bilden dann ein ›Volk‹.
Es ist die Hochblüte des Matriarchates.