Читать книгу Die Masken des Todes - Catherine Hunter - Страница 4
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ОглавлениеWie eine Giftschlange hielt Kelly Quirk den schwarzen Telefonhörer von sich weg. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Dann hob sie den Hörer vorsichtig wieder ans Ohr.
»Hallo?«
Keine Antwort. Nur ein fernes Geräusch – Verkehr vielleicht, oder Meeresgeplätscher. Weißes Rauschen. Sie lauschte eine Weile, zu lang, ehe sie den Hörer auflegte.
Das konnte einfach nicht wahr sein. Und doch war die Stimme deutlich zu hören gewesen. Zuerst die elektronische Ansage: Ein R-Gespräch von ... und dann der Name.
Der Name.
Ganz genau hatte sie diese Silben gehört, gesprochen von jener tiefen, vertrauten Stimme. »James Grayton.«
Sie sank aufs Sofa und schaute eine Weile verstört um sich. Mit den weichen Polstern, den vielen Vorhängen, Teppichen und Kissen war dieses Zimmer eine Art Zufluchtsstätte für sie. Sanfte Erdfarben, keine scharfen Kanten. Oberflächlich betrachtet wirkte es so warm und behaglich wie immer, und doch war nichts mehr wie zuvor. Sie ließ den Blick durch den Raum wandern, über die vielen Gemälde und Schnitzereien, die James eigenhändig gemacht hatte.
James Grayton. Geliebter James. Wenn sie die Augen schloss, hatte sie sein jugendliches Gesicht vor sich, seine dunkelgrünen, goldgesprenkelten Augen.
Ihren Mann.
Ihren verstorbenen Mann. Tot seit anderthalb Jahren. Seit sechzehn Monaten und zehn Tagen.
Darl Grayton versuchte, seinen sechsjährigen Sohn in einen übergroßen Tigeranzug zu stecken und drückte dem Jungen ungeduldig den Arm durch einen der gestreiften Ärmel.
»Dad! Du tust mir weh!«
»Entschuldige, Alex. Entschuldige! Aber wir müssen los, okay? Du musst um fünf bei Angel sein, wenn du in der Nachbarschaft Süßigkeiten einsammeln willst, und Dad hat vorher noch einen Haufen Sachen zu erledigen.«
»Was denn für Sachen?«
»Sachen eben!« Darl stand auf und lächelte seinen Sohn an. »He, du siehst ja ziemlich niedlich aus!«
Alex runzelte die Stirn. »Also Tante Kelly hat gesagt, ich seh Furcht ein ..., ich seh furchtbar aus.«
»Furcht einflößend«, sagte Darl. »Sie hat gesagt, du siehst Furcht einflößend aus. Na komm, lass uns gehen.« Er ergriff Alex’ Übernachtungstasche und eilte mit seinem Sohn aus dem Haus. Im Truck half er Alex rasch beim Angurten und Türenschließen, und los ging’s.
Den ganzen Nachmittag über fuhren sie durch Winnipeg und erledigten Botengänge. Es war schon reichlich spät, als Darl den Truck durch ein Schlaglochlabyrinth zu Angels heruntergekommener Straße bugsierte. Er parkte ordentlich und zog von hinten zwei große Einkaufstüten nach vorn.
»Muss ich wirklich zu Angel?«, fragte Alex. Er zottelte hinter seinem Vater her zur Haustür, seinen schweren Rucksack über den Kiesweg schleifend.
»Ja.«
»Könnte ich denn nicht zu Kelly?«
»Aber Kelly und ich gehen doch heute zusammen aus. Na komm, Alex. Das letzte Mal hat’s dir hier doch gefallen, erinnerst du dich?«
»Nein«, erwiderte Alex. Doch Darl hörte es nicht. Er klopfte auf die abblätternde Farbe der Haustür.
Kelly war klar, dass sie aufstehen sollte. Sie sollte das Haus aufräumen, ihre Näherei beenden und sich für die Party fertig machen.
Ja, sie musste wirklich mal wieder Ordnung schaffen. Nichts mehr war zu finden. Ihr Haus, normalerweise tipptopp aufgeräumt, zeigte Anzeichen der Hektik der vergangenen Woche, der Teppich war voller Flusen und wahrscheinlich auch Nadeln, der Couchtisch voller Teetassen, halb gelesener Bücher und den umgeworfenen Figuren eines Schachspiels, das Darl und sie vor Tagen abgebrochen hatten. Eine feine Staubschicht bedeckte die Schachfiguren, einschließlich der leeren Garnrolle, die sie als Ersatz für den weißen Springer genommen hatten. Die letzten unfertigen Teile des Kostüms, an dem sie gearbeitet hatte, lagen auf der Couch.
Sie nahm die Maske in die Hand, die sie am Abend tragen wollte. Das traurige Gesicht einer schönen, jungen Frau blickte sie an, an deren Wange zwei helle Tränen glitzerten. Der letzte Schliff fehlte noch – etwas Glitter auf den Augenlidern. Kelly wusste, dass sie in ihrem Nähkästchen einen hatte.
Aber sie rührte sich nicht.
Angel öffnete mit einem vagen Lächeln die Tür. »Hi, Tiger! Oh, Darl, danke!« Sie nahm ihm eine der Einkaufstüten ab und zockelte durch den Flur zur Küche. Als Darl ihr folgte, blieben seine Schuhe auf dem Linoleum kleben. Er musste einen Stapel schmutzigen Geschirrs beiseite räumen, um die Lebensmittel auf dem Küchentisch abstellen zu können.
»Wo ist Paul?«
Angel deutete auf die Kellertreppe. »Er lebt praktisch da unten. Weiß der Himmel, was er tut.«
Darl zog eine Grimasse. Sowohl Kelly als auch ihre Schwester Angel hatten sich labile Männer ausgesucht. Kelly hatte Darls Bruder James geheiratet, und Angel Paul. Paul war ein Problem. War es schon immer gewesen. Als Paul auf der Highschool wegen Einbruchs verhaftet worden war, hatte Darl Angel ins Gewissen geredet, aber sie wollte nicht hören. Sie hatte ihr Leben verpfuscht, und nun kaufte Darl für sie ein, während ihr Mann im Keller Trübsal blies.
»Nun«, meinte er, »und das mit Alex heute Nacht geht klar?«
»Japp. Wir werden an jede Tür in der Nachbarschaft klopfen und uns mit den Süßigkeiten voll stopfen!« Sie lächelte Alex an, der noch immer zögernd in der Tür stand. »Das wird bestimmt lustig, hm?«
Hoffentlich, dachte Darl. Manchmal hatte er Bedenken, Alex herzubringen, aber Angel liebte Kinder, das wusste er. Alex’ Gegenwart schien ihr Auftrieb zu geben, schien den Nebel zu lichten, der sie umgab, seitdem sie vor fast vier Jahren das eigene Kind durch plötzlichen Kindstod verloren hatte. Wenn Darl in der Riverside Clinic die Mitternachtsschicht übernahm oder hin und wieder mal abends mit Freunden ausging, übernachtete Alex im alten Zimmer des verstorbenen Jungen.
»Du schaust dir die Süßigkeiten an?«, erkundigte er sich.
»Aber ja, natürlich. Ab mit dir, du Sorgenfritze! Ich dachte, du hättest eine heiße Verabredung mit meiner Schwester?« Angel zog ihn am Ärmel nach draußen und brachte ihn zum Auto.
»Und du hast auch sicher alles, was du brauchst?«, wollte er wissen.
»Alles bestens. Los jetzt! Amüsier dich!« Sie winkte und machte dann kehrt.
»Ich habe auch Steaks besorgt«, rief er ihr nach. »Und Brokkoli. Achte bitte darauf, dass er Brokkoli isst!«
Darl beobachtete, wie Angel im Haus verschwand. Durch ihr T-Shirt hindurch zeichneten sich ihre Schulterblätter deutlich ab. Sie hatte sich den Hinterkopf rasiert, und ihr knochiger Hals lugte aus dem Kragen hervor, wie bei einer Stockpuppe. Er hoffte, das Steak würde sie reizen.
Im Garten sah es aus wie Kraut und Rüben, und er wusste, auch da sollte er was tun. Alles war von Unkraut überwuchert. Diesen Sommer hatte Angel nicht einmal versucht, etwas anzupflanzen. Lass doch den Wind einfach Samen herwehen. Ein paar Mohnblumen hatten gekeimt und geblüht, doch ansonsten waren bloß Löwenzahn, Fingergras und Disteln gewachsen. Nun war alles verfilzt und verrottet. Vermutlich würde das den ganzen Winter über unter dem Schnee so bleiben. Vielleicht bekam Angel im Frühling ja wieder Aufwind, doch Darl bezweifelte das.
Das war ein Missverständnis gewesen. Bestimmt war es ein Missverständnis gewesen. Vielleicht jemand, der James Grayton anrufen wollte. Irgendein Handelsvertreter oder Versicherungsmakler mit einem veralteten Telefonbuch. Das war in den ersten Monaten nach seinem Tod ein-, zweimal vorgekommen.
Oder es handelte sich um irgendeinen Witzbold mit einem kranken Humor.
Oder vielleicht hatte Kelly sich das nur eingebildet. Ihr Hirn hatte die Nachricht durcheinander gebracht, so dass sie dachte ... Nein. Darüber war sie hinaus.
Hoffte sie zumindest.
Ein ganzes Jahr nach James’ Tod hatte sie partout nicht von der Vorstellung ablassen wollen, er könne noch am Leben sein. Gequält von Visionen, sah sie ihren Mann überall, in der Stadt, in Restaurants, in vorbeifahrenden Autos. Mitunter folgte sie einem völlig Fremden, weil er James ähnelte. Sie fuhr in Stadtteile zurück, wo sie ihn gesehen zu haben glaubte, und suchte dort die Straßen ab. Aber das war, wie ihr nun klar war, eine Art des Wahnsinns.
Mit Hilfe von Dr. Leon Chartrand hatte Kelly schließlich eingesehen, dass es sich um Halluzinationen handelte. James gab es nicht mehr. Dennoch brauchte sie lange, um die immer wiederkehrenden Träume loszuwerden, dass James noch am Leben war. Manchmal konnte sie in diesen Träumen spüren, wie sie von süßer, fast unerträglicher Erleichterung erfasst wurde. Dann wachte sie auf und wollte am liebsten sterben. Wollte auf eine Brücke laufen und sich hinunterstürzen. Sich ein Messer ins Herz stoßen, die ganze verdammte Welt in Brand setzen und mit sich in die Hölle ziehen.
Solche Träume gebe es bei Hinterbliebenen häufig, erklärte Leon Chartrand ihr. Solange ihr der Unterschied zwischen Träumen und Realität klar sei, sei das okay. Doch das war Kelly ein schwacher Trost. Jede Nacht träumte sie, James wäre am Leben, und jeden Morgen musste sie erneut erfahren, dass es ihn nicht mehr gab. Allmorgendlich war die Trauer heißer, heftiger.
Kelly konnte sich gut an diesen Schmerz erinnern. Davon hatte sie ein für alle Male genug. Es hatte all ihre Kraft gekostet zu akzeptieren, dass das Leben auch ohne James weitergehen musste. Aber sie hatte es geschafft. Schließlich hatte sie die Besuche bei Dr. Chartrand eingestellt. In den letzten Monaten hatte sie gespürt, wie sie wieder zu Kräften kam.
Und nun das.
Zu Hause angekommen, schleppte Darl die eigenen Lebensmittel ins Haus. Ehe er sich für Sams und Lilas Party umziehen konnte, musste er noch einiges erledigen. Er freute sich schon darauf, Kelly zu sehen, obgleich von einer »heißen Verabredung«, wie Angel das nannte, kaum die Rede sein konnte. Kelly sah er dieser Tage kaum noch. Immer war sie unterwegs, arbeitete viel zu viel, war mit ihren Näharbeiten beschäftigt. Oder vielleicht traf sie sich auch wieder mit Joe Delany.
Nein. Diesen letzten Gedanken verwarf er auf der Stelle. Dafür kannte er Kelly zu gut, kannte sie schon seit Kindertagen. Er sprach täglich mit ihr. Unvorstellbar, dass sie sich ohne sein Wissen mit jemandem traf. Und Joe Delany hatte seine Chancen bei Kelly dadurch verspielt, dass er zu viel Druck machte.
Bei Kelly musste ein Mann vorsichtig sein. Bloß kein Druck! Darl hatte gemerkt, wie sie darauf reagierte. Zwar war sie diesen Sommer mit ein paar Typen ausgegangen, aber sobald es einer ernst meinte, machte sie einen Rückzieher. Sie war viel zu dickköpfig, oder, nein, sie war scheu. Wie ein nervöses Fohlen. Gegenüber Männern – und der Liebe – war sie vorsichtig, und das aus gutem Grund.
Beim Einräumen des Gemüses verfluchte Darl nicht zum ersten Mal seinen jüngeren Bruder. Er hatte ihnen allen das Leben versaut! Einen Haufen Scherben hinterlassen.
Er ging ins Wohnzimmer und sammelte Alex’ Spielsachen vom Boden auf. Alex hatte mit den Wasserfarben gemalt, die Kelly ihm zum Geburtstag geschenkt hatte; ein großes Bild von einem kleinen Jungen, der vor einem Apfelbaum mit riesigen, roten Äpfeln stand, dazu eine gelbe Sonne. Ein Selbstporträt, dachte Darl.
Er räumte alles vom Kaminsims herunter und wischte mit einem feuchten Tuch darüber. Dann stellte er die ganzen Nippes – hauptsächlich Fotos, die er Alex zuliebe aufbewahrte – wieder hinauf. Die Illusion einer Familie.
Er ergriff die größte der gerahmten Fotografien, die am Tag von Alex’ Geburt gemacht worden war. Da waren sie alle miteinander, drängten sich in dem Krankenhauszimmer. Glücklichere Tage. James und Kelly. Angel und Paul. Sam und Lila. Er selbst und Diane. Die launenhafte Diane, die er aus einem Impuls heraus geheiratet hatte, ohne die Chance gehabt zu haben, sie kennen zu lernen. Er seufzte. Zugegeben, ganz unschuldig war er nicht daran. Er neigte dazu, Druck auszuüben, inzwischen wusste er das. Aber das hatte er zu spät gemerkt. Diane war fort. Fürs Familienleben war sie nicht geschaffen, meinte sie, oder zumindest nicht für ein Familienleben mit Darl. Alex war erst drei, als sie Darl wegen eines anderen Mannes verlassen hatte. Noch dazu wegen eines Profiwrestlers. Dem »Hooded Masher« oder so ähnlich.
»Klingt wie eine Küchenmaschine«, hatte James gesagt.
Zum Teufel mit ihm!
Als das Telefon erneut klingelte, saß Kelly noch immer gedankenverloren auf der Couch. Beim ersten Klingeln fuhr sie hoch und merkte, dass es bereits dunkel wurde.
Sie packte den Hörer und schrie beinahe hinein.
»Wer ist dran?«
»Kelly? Was ist denn los?« Es war Lila.
»Nichts. Ich bin ... nichts. Was gibt’s denn?« Kelly warf einen Blick auf ihre Uhr. Sechs Uhr. Eigentlich hätte Lila bis über beide Ohren in Vorbereitungen für die heutige Party stecken müssen.
»Oh, hier sieht’s aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Du kannst es dir nicht vorstellen. Ich wollt dir nur rasch erzählen, dass ich heute mit Taylor Grant gesprochen habe und mir dabei eine fabelhafte Idee gekommen ist!«
Lila war berühmt für ihre fabelhaften Ideen. Die Party an diesem Abend, durch die Gelder für die Kunstgalerie ihres Mannes locker gemacht werden sollten, war das letzte von zahlreichen Projekten, die sie sich einfallen ließ, um Freunden und ihrer Familie zu helfen. Kelly schwante, dass sie als nächstes an die Reihe kommen könnte.
»O nein«, sagte sie.
»Nein, wirklich. Sie ist toll! Du brauchst Arbeit, das weißt du doch, und ...«
»Ich habe Arbeit!«, fiel Kelly ihr ins Wort.
»Ich meine richtige Arbeit. So eine, wie du sie machen solltest. Nicht diese Kinkerlitzchen, Kinderaufführungen und Aufträge für Kostümwerkstätten. Ich spreche von richtigem Theater. Shakespeare. Den guten alten Tagen. Na komm!«
»Was für ein Stück denn?«
»Das Stück. Hamlet.«
»Wow! In Minneapolis?« Kelly wusste, dass Lila danach lechzte, in Taylor Grants bevorstehender Hamlet-Produktion den Job der Kostümbildnerin zu ergattern.
»Allerdings! Ich habe den Job. Taylor sagt, ich soll mir eine Gehilfin suchen, und ich will dich!«
»Mich?«
»Dich. Ich hab Taylor gesagt, dass ich das meiste allein machen kann, aber dich für das Ausgefallene, Besondere brauche. Wie damals bei Caliban und Ariel, du weißt schon, das bringst nur du so hin!«
Der Sturm. Das war zwei Jahre her. Ewigkeiten. Ehe Kelly der Ehrgeiz abhanden gekommen war.
»Ich hab ihm gesagt, dass ich dich vor allem für den Geist brauche«, fuhr Lila fort. »Niemand bekommt diese unirdischen Sachen so hin wie du. Außerdem ist das eine zu große Produktion, und damit mein ich, wirklich groß. Eine echte Chance, mit deinen Talenten zu wuchern und deine Karriere wieder anzukurbeln. Und was meinst du wohl, wer eine Hauptrolle spielt? Michael Black!«
Lila wartete auf eine Reaktion, aber umsonst.
»Kelly? Erinnerst du dich an Michael Black? Den aus New York?«
»Er stammt aus New York?«
»Nein, aus ... ach, keine Ahnung, irgendwo aus Europa. Aber wir haben ihn in New York getroffen, weißt du nicht mehr? Am Set von Rising Heat?«
»Ach, der Kinostar!«
»Jesses! Kell! Du wirst dich doch noch erinnern, dass er mit dir ausgehen wollte?«
»Das war vor vier Jahren«, sagte Kelly. In New York hatten viele Männer mit ihr, der jungen aufstrebenden Designerin, ausgehen wollen. Aber sie war zu sehr mit James beschäftigt gewesen, um auf andere zu achten.
»Wie auch immer, ich muss mich beeilen. Hier geht’s drunter und drüber. Kann ich Taylor sagen, dass du einverstanden bist?«
»Ich denk drüber nach«, erwiderte Kelly.
»Aber bitte gründlich!« Lila legte auf.
Hamlet. Vielleicht keine schlechte Idee, überlegte Kelly. Leise Erregung beschlich sie. Ein gutes Zeichen.
Sie trug noch den Glitter auf die Maske auf, breitete ihr Kostüm aus und ging unter die Dusche. Wenn sie sich beeilte, war sie bei Darls Ankunft fertig. Sie holte tief Luft und ließ sich das Wasser übers Gesicht laufen. Sie war bloß müde, sagte sie sich, weil sie immer bis tief in die Nacht hinein arbeitete, über das Skizzenbuch oder die Nähmaschine gebeugt. Zu viel Stress. Heute würde sie sich entspannen und amüsieren.
Nach dem Duschen fühlte sie sich besser. Erfrischt. Sie trocknete sich ab und langte dann in den Schrank nach ihrem bequemsten Hemd. James’ abgetragenem Jeanshemd, das ihr bis zu den Knien reichte. Das, das sie so oft geflickt hatte, dass es inzwischen wie eine Patchworkarbeit aussah. Sie zog es oft in kalten Nächten an, und nun hatte sie ein Bedürfnis danach.
Aber es war nicht da. Es hätte zwischen ihren Nachthemden hängen müssen, wo sie es erst tags zuvor noch gesehen hatte.
Noch immer ins Handtuch gehüllt, lag Kelly auf ihrem Bett und rollte sich zusammen. Wie konnte das Hemd verschwunden sein? Was hatte sie damit gemacht?
Sie wollte dieses Hemd mehr als alles andere auf der Welt. Sie wollte alles, was James einmal gehört hatte. Sie wollte James zurück.
Sie versuchte dagegen anzukämpfen, aber sie verlor. Der Schmerz erfasste sie mit der Wucht einer Flutwelle.