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Die ersten Anzeichen für James’ Zusammenbruch blieben unbemerkt. In diesem Winter vor fast vier Jahren war Kelly in New York und arbeitete mit Lila am Set für Rising Heat, während James in Winnipeg seine erste Vernissage in Sams Galerie vorbereitete. Zwar war er erst dreiundzwanzig, für eine Ausstellung sehr jung, aber Sam hatte Vertrauen in ihn.

Noch nie zuvor hatten Kelly und James sich getrennt. Ihre Freunde wunderten sich über die Innigkeit ihrer Beziehung. »Ihr werdet am Hungertuch nagen«, warnte Darl, als sie so jung heirateten. Sogar Angel, selbst kaum ein Vorbild für verantwortungsbewusstes Leben, erklärte Kelly trocken, dass man allein von Luft und Liebe nicht leben könne. Aber die beiden hatten Glück. Auf Sams Empfehlung hin erhielt James ein Stipendium an der Kunstakademie, wo er bald den Ruf eines begabten und vielversprechenden Studenten hatte. Kelly machte an den örtlichen Theatern eine Ausbildung als Kostümbildnerin, und sobald sie genug Erfahrung hatte, nahm Lila sie zu Arbeiten außerhalb der Stadt mit. Der Trip nach New York war für Kelly eine Einstiegsmöglichkeit in die lukrative Kinowelt, und sie war entschlossen, das Beste daraus zu machen. Sie würde James vermissen, aber beide waren der Meinung, dass es das wert war.

Zuerst rief James sie jeden Abend an, voller Neuigkeiten von seiner Arbeit, von Freunden und Familie. Von Darls Fortschritten auf der Uni und seinen Hoffnungen auf ein Medizinstudium. Er hielt sie auf dem Laufenden über die Entwicklung ihrer beiden Neffen, dem Baby Allan und dem zweijährigen Alex. Kelly ihrerseits versorgte ihn mit Tratsch über die Reichen und Berühmten. Noch nie waren ihr so aufgeblasene Leute wie diese Kinostars begegnet. Und sie beschwerte sich über ihre Mutter, die sich für ihre Rückkehr nach New York ausgerechnet diese Zeit ausgesucht hatte und von Kelly Hilfe bei der Wohnungssuche erwartete.

Aber allmählich wurden seine Anrufe deprimierend und eintönig, James vermisste sie, wollte, dass sie nach Hause kam. Oft hatte er wenig mehr zu sagen. Dann stand er eines Abends vor ihrer Wohnungstür in Manhattan, unrasiert und wirr. Wenn er zu intensiv arbeitete, war er oft verwirrt, sagte sie sich. Er war einfach müde. Aber James konnte nicht schlafen. Die ganze Nacht klammerte er sich an sie.

Tags darauf tauchte er am Set auf, stand allen im Weg und verlangte, dass Kelly mit heimkam. Sie weigerte sich. War wütend. Zuerst hatte er sie die ganze Nacht wach gehalten, und nun machte er ihr eine Szene. Sie sagte ihm, er solle gehen, aber das machte alles nur noch schlimmer. James begann zu schreien, erklärte ihr, für alle gut hörbar, dass sie ihn nicht mehr liebe. Ein paar von den Hilfskräften mussten ihn rauswerfen.

Kelly wäre am liebsten im Erdboden versunken. Für den Rest des Tages arbeitete sie mit hängendem Kopf, konnte den anderen nicht in die Augen schauen. Als sie heimkam, fand sie einen Entschuldigungsbrief von James. Er sei erschöpft, sagte er. Der Druck, der wegen der bevorstehenden Vernissage auf ihm laste, bringe ihn um. Es tue ihm Leid. Er sei nach Winnipeg zurückgefahren und hoffe, sie verzeihe ihm.

»Ein süßer Brief«, sagte Lila, als Kelly ihn ihr zu lesen gab. »Aber irgendetwas stimmt mit diesem Jungen nicht.«

Danach rief James nur noch selten an. Sam berichtete, er würde nicht arbeiten. Er trank. Er brachte nichts zu Ende, und die Ausstellung musste schließlich abgesagt werden. Dann trank James eines Abends eine Flasche Whisky, schluckte ein paar Pillen und fuhr mit Pauls Motorrad geradewegs durch das Schaufenster eines Autohändlers in der Portage Avenue.

Kelly flog sofort nach Winnipeg.

Schmerzvoll erinnerte sie sich daran, wie verraten sie sich bei diesem ersten Selbstmordversuch gefühlt hatte. Dass James seinen schönen Körper, den Körper, der ihr gehörte, zerstören wollte, machte sie wütend. Den ganzen Heimflug über malte sie sich aus, was sie ihm sagen würde, wie sie ihn strafen würde. Aber bei ihrer Ankunft wurde ihr nicht erlaubt, James zu sehen. Sie durfte nur mit Dr. Chartrand sprechen.

Dr. Leon Chartrand war ein knochiger, nervöser Mann mit langen, schwarzen Haaren, und für einen Psychiater sehr jung. Man hatte ihn wegen seines Spezialgebietes zur psychiatrischen Beratung von der Riverside Clinic hinzugezogen. Aber da wusste Kelly noch nicht, was sein Spezialgebiet war.

Dr. Chartrand war freundlich, blieb aber eisern. James befände sich in einem Erschöpfungszustand, sagte er. Er brauche mindestens zwei Wochen absolute Ruhe. Keinen Besuch. Nicht einmal von Kelly.

»Ich bin seine Frau«, wandte sie ein. »Ich habe ein Recht darauf, ihn zu sehen. Ich habe ein Recht zu wissen, wie es ihm geht!«

»Er ist in guter körperlicher Verfassung«, sagte der Arzt. »Darüber hinaus kann ich mit Ihnen über diesen Fall nicht reden. Ich hoffe, Sie verstehen, Mrs Quirk, dass Ihr Mann gerade eine äußerst schwierige Zeit durchmacht. Wir müssen seine Wünsche respektieren.«

»Seine Wünsche?«

Leon Chartrand nickte. »Er lehnt jeglichen Besuch ab. Er möchte Sie nicht sehen«, erklärte er.

Kelly glaubte ihm nicht.

Aber es stimmte. Aus zwei Wochen wurden vier, und Kelly war vor Sorge außer sich. Zum ersten Mal in ihrem Leben wohnte sie allein, und James im Ostflügel des St. Boniface Hospitals. Jeden Tag ging sie hin und starrte zu den Fenstern der psychiatrischen Abteilung hinauf. Jeden Tag bat sie darum, ihn sehen zu dürfen – jedes Mal umsonst. Jeden Tag kehrte sie allein nach Haus zurück.

Als Alan in seinem Kinderbettchen starb und Angel sich in einen Zombie verwandelte, hatte Kelly niemanden mehr, an den sie sich wenden konnte. Angel machte sich endlose Vorwürfe wegen des Tods ihres Kindes, und Kelly versuchte ihr klarzumachen, dass sie keine Schuld träfe. Doch in Angels Augen sah sie ihr eigenes Schuldgefühl. Sie hatte die Warnzeichen übersehen. Gegenüber der einzigen Person, die sie über alles liebte, war sie blind gewesen.

Schließlich stimmte James einem Besuch Kellys zu. Leon Chartrand bestand darauf, bei ihrer Begegnung dabei zu sein.

Als James hereinkam, schlang Kelly die Arme um ihn. An ihrer Brust spürte sie die hervortretenden Knochen. Er roch nach Desinfektionsmittel. Was hatten sie mit ihm gemacht? Sie wollte ihn auf der Stelle mitnehmen, ihn baden und füttern und wieder zu sich bringen. Aber so einfach würde das nicht gehen.

James hielt sie locker in den Armen. Tröstend tätschelte er ihren Rücken, wie es ein geistesabwesender Vater bei seiner Tochter tun würde, machte sich aus ihren Armen frei und sagte: »Es tut mir Leid.«

Zum ersten Mal in ihrem gemeinsamen Leben spürte Kelly, dass er weit, weit von ihr entfernt war. Er wusste etwas, hatte etwas gesehen, ohne sie.

»Wo bist du gewesen?«, fragte sie.

»Ich war ... in der Hölle.« Er benutzte das Wort nicht im üblichen Sinn. Er sprach von dem wahren Ort. Von dem Feuer, das brennt, ohne Licht zu spenden.

»Erzähl mir davon«, sagte sie.

James schüttelte den Kopf. »Ich nehme dich nicht mit hinunter.«

»Ich bin sowieso auf dem Weg dorthin.«

Langes Schweigen. Dann streckte James seine Hand aus. Nicht zu Kelly, sondern zu Leon.

Leon schloss seine Hand so eng um die von James, dass Kelly an seinem Unterarm die Venen hervortreten sah. Sie hielten einander fest. Leon sagte ihm, er solle tief einatmen. »Hier sind Sie in Sicherheit. Machen Sie weiter. Sprechen Sie mit ihr.«

Und so schritt sie mit James in die Unterwelt hinab.

Kam er nun von dort? Aus der Unterwelt, wo Schatten einem die Haut versengen und es keinen Himmel gibt?

Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war, stand Kelly auf. Sie wanderte durchs Haus und machte alle Lampen an, als wolle sie den Geist ihres Mannes vertreiben.

Warum kehrte er jetzt zurück? Jede Nacht erschien er in ihren Träumen, und manchmal verfolgte er sie auch in wachem Zustand. Scheinbar wollte er ihr etwas sagen. Aber was war denn ungesagt geblieben? James hatte ihr zu Lebzeiten alles erzählt. Sie hatte ihn in den Armen gehalten und ihm gelauscht. Hatte zugehört, bis ihr die Galle hochgekommen war, heiß und feurig. Sie war ihm hinunter gefolgt, jeden einzelnen Schritt des heimtückischen Weges.

Zuerst kamen die Geschichten nur stockend. James erzählte sie ihr in distanziertem Ton. Nachdem Kelly nach New York gefahren war, hatten ihn Albträume geplagt. Er träumte, dass sein Vater, Adam, ihn jagte, und wachte zitternd vor Angst auf. Ständig träumte er davon, dass Adam ihm drohe, ihn mit einem Schwert zu köpfen. Aus Furcht, den Verstand zu verlieren, war James nach New York geflohen.

Wo Kelly ihn abgewiesen hatte.

Als James glaubte, es könne sich bei den Träumen um wahre Erinnerungen handeln, wollte er sich das Leben nehmen. Aber anstatt ihn zu töten, war der Versuch seine Rettung. Er führte ihn zu Leon, und Leon half ihm, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Es war alles wahr. Alle Träume stimmten, selbst der mit dem Schwert. James und Leon erklärten Kelly, dass Adam all das getan habe, und ihr drehte sich der Magen um. Er hatte seinen jüngsten Sohn in einem Zustand ständigen Schreckens gehalten. Denn wenn Darl nicht zu Hause war, wenn Eleanor schlief, dann war Adam mit James zugange.

James lag mit Kelly im Bett und bewegte ihre Hand über die vier kleinen Narben auf seinem Bauch. »Mein Vater hat mich mit einer Heugabel gegen die Schuppenwand gedrückt«, sagte er. »Dem Arzt hat er erzählt, ich sei auf einen Rechen gefallen. Meine Mutter hat’s geglaubt. Und Darl auch.« Er sah ihr in die Augen, die Wimpern tränenbenetzt. »Wie kam es, dass ich es schließlich auch geglaubt habe?«, flüsterte er.

Was in seinem Kopf, dieser wundersamen, gefährlichen Maschine vor sich ging, verwirrte ihn. Wie hatte er seine Lebensgeschichte so nahtlos mit einer anderen überdecken können?

Das sei Verdrängung, erklärte Leon. Starke Verdrängung. Nicht imstande, mit der Erinnerung an den Missbrauch fertig zu werden, ließ James sie in sein Unterbewusstsein sinken, maskierte sie in seinen Träumen, versuchte, sie mit Alkohol zu ertränken. Aber das rächte sich bitter, sobald er verletzlich war.

Ohne zu fragen wusste Kelly, was ihn verletzlich gemacht hatte. Sie hatte ihn verlassen, als er sie am meisten brauchte.

Dieser Sommer verschwamm zu einer endlosen Reihe von Krankenhausbesuchen. Jeden Abend verbrachte Kelly mit James und lauschte den Erinnerungen, die mit unerträglicher Geschwindigkeit auftauchten. Sie wollte es nicht hören, aber sie hörte zu. James brauchte ihre Hilfe.

Kelly brauchte auch Hilfe. Aber es gab niemanden, an den sie sich wenden konnte. James nahm ihr das Versprechen ab, dass sie die beschämendsten Einzelheiten für sich behalten würde, und sie hätte nicht im Traum daran gedacht, es zu brechen. Allgemein hieß es, James hätte einen »Nervenzusammenbruch«, ein vager Ausdruck, den aber alle schluckten. Niemand war besonders überrascht. James war schon immer überspannt gewesen, unsicher. »Übersensibel«, hatte Maggie ihn genannt.

Darl war mit eigenen Problemen beschäftigt, dem Druck durch Studium, ein kleines Kind und eine Frau, die selten daheim war.

Ihm wurde klar, dass Diane sich mit einem anderen traf, und er versuchte alles, seine Familie zusammenzuhalten.

Diane besuchte James oft. Kelly fühlte sich immer unbehaglich, wenn sie ins Krankenhaus kam und dort Diane traf, die James’ Hand hielt. Leon dagegen betrachtete das als gutes Zeichen. Es sei nötig, dass James von der fixen Idee abließ, alles geheim halten zu müssen. Das würde nicht nur James helfen, auch Kelly würde dadurch etwas von ihrer Last abgenommen. Aber Kelly war eifersüchtig. Natürlich wollte sie, dass die Last geringer wurde. Andererseits wollte sie James aber nicht mit jemandem teilen. Besonders beunruhigt war sie, als Diane auch an ihren Sitzungen mit Leon teilnahm.

Eines Tages, so erzählte James, hätte seine Mutter ihm mitgeteilt, Darl sei tot. Adam habe ihn getötet, weil er nicht gehorchen wollte. Sie zeigte James ein Kalbsherz und behauptete, es sei das seines Bruders. Adam würde auch James töten, wenn er sich nicht benehme. James glaubte die Geschichte zwei ganze Tage lang. Zwei Tage der panischen Angst. Und Eleanor ließ ihn in dem Glauben. Als Darl schließlich zur Tür hereinkam, hatte sie gelacht.

»O Gott!« Diane begann zu schluchzen, und James umarmte sie. Kelly und Leon beobachteten stumm, wie sie einander in den Armen wiegten. Dianes Atem kam stoßweise. »Und wo war Darl?«, wollte sie wissen. »Wo war er?«

Kelly wusste genau, wo Darl gewesen war. Bei ihr zu Hause, hatte Angel beigebracht, sich die Schuhe zu schnüren, hatte Maggie bei der Hausarbeit geholfen, ohne zu wissen, was bei ihm zu Hause passierte.

Leon dankte Diane für ihr Kommen. Unterstützung seitens der Familie sei überaus wichtig, sagte er und sehr schwer zu bekommen. Normalerweise würden Familienmitglieder alles vehement von sich weisen, vor allem, wenn sie, wie Darl, den Missbrauch nie vermutet hätten. Diane konnte Darl nicht dazu überreden, an den Sitzungen teilzunehmen. »Er wird damit noch nicht fertig«, sagte sie, die Augen voller Tränen. »Er will nicht mal darüber sprechen!«

Aber mit Kelly sprach Darl darüber. Die Situation besorgte ihn zutiefst, obgleich sich seine Sorge mehr auf Kelly konzentrierte als auf James.

»Er macht dich kaputt, Kell. Du bist so mit ihm beschäftigt, dass du nicht mehr klar denken kannst. Steigerst dich viel zu sehr rein. Das war schon immer so.« Er seufzte. »Künstlerisches Temperament«, versetzte er spöttisch. »Das ist euch beiden gemein. James ist schon immer gleich ausgeflippt. Ich musste seine Hand halten. Himmel noch mal, jedes Mal, wenn Dad etwas lauter wurde, fing James an zu weinen. Er hat’s nie gelernt, einen Bogen um Dad zu machen, und dabei sind sie – er und Dad – nie miteinander ausgekommen.«

»Nicht miteinander ausgekommen!«, rief Kelly.

»Okay, okay!« Darl hielt die Hände hoch. »Ich geb’s ja zu. Dad hat ihn einfach nicht gemocht. Dad war ein Schwein, um die Wahrheit zu sagen. Er hatte eine gemeine Ader. Ich sprech ja selbst kaum mit ihm. Aber James ist ... er ist immer noch davon besessen.«

Kelly musste an Leons Bemerkungen über die Verdrängung denken. Versuchen Sie nicht, es zu erzwingen, hatte er gesagt. Erwarten Sie nicht, dass die Familie es glaubt, nicht alles auf einmal, wenn überhaupt. Wenn es für Darl zu schmerzvoll war, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, warnte er, könne Darl sich ganz von James abwenden. Darauf konnte Kelly es nicht ankommen lassen.

»James muss sich davon freimachen«, sagte Darl.

Doch James konnte sich nicht davon freimachen. Zwar wurde er aus dem Krankenhaus entlassen, aber es dauerte Wochen, bevor er aufhören konnte, die entsetzlichen Geschichten des Missbrauchs zu erzählen, die ihn so mitnahmen. Kelly lauschte und lauschte, bis sie glaubte, nicht mehr zuhören zu können. Die Geschichten kamen so dicht und schnell, und manchmal waren sie so bizarr, dass sie beinahe glaubte, James würde sie erfinden oder halluzinieren. Er erwachte aus schrecklichen Albträumen, weinte und stöhnte vor Beschämung, ließ Kelly nicht in seine Nähe.

Dann, fast so unvermittelt wie die Hysterieanfälle begonnen hatten, endeten sie wieder. James schränkte die Sitzungen bei Leon ein. Die Geschichten hörten auf. Kelly bekam ihren Mann zurück, den Mann, in den sie sich verliebt hatte, den starken. Ihre Liebe heile ihn, sagte er, und sie glaubte es.

James erschien wieder in der Oberwelt. Licht und Luft. Er kaufte sich neue Malutensilien und begann wieder zu zeichnen. Die Arbeit, die er für die Vernissage geplant hatte, ließ er sein und begann stattdessen die Serie dunkler Zeichnungen des Hauses, der Folterkammer. Er drückte seinen Schmerz durch seine Kunst aus, und das war ein gutes Zeichen.

»James ist Künstler, er muss sich durch seine Bilder ausdrücken«, meinte Leon. »Die Gesprächstherapie stößt irgendwann an ihre Grenzen.«

Kelly war erleichtert. Sie hatte die Gesprächstherapie bis oben hin satt.

»Die Gesprächstherapie«, meinte Darl zweifelnd. »Verdrängte Erinnerungen. Ich weiß nicht, Kell. Ich hab mich da mal reinvertieft, an der Uni drüber gelesen. Man nennt es False Memory Syndrom. Der Therapeut sucht nach Missbrauch. Er möchte ihn finden, deshalb findet er ihn. Sie versetzen den Patienten in eine hypnotische Trance, geben ihm Medikamente. Chartrand hat James doch Valium gegeben, oder nicht? Und wenn sie hochempfänglich für so was sind, setzen die Therapeuten ihnen das in den Kopf.«

»Aber James erinnert sich an so viele Einzelheiten.«

»Allein das ist schon verdächtig, findest du nicht? Du weißt doch selbst, dass diese Einzelheiten fantastisch sind. Diane hat mir von einigen erzählt. Die Geschichte mit dem Kalbsherz stammt aus einem Märchenbuch, das wir zu Hause hatten. Schneewittchen. Und das Schwert? Direkt aus King Arthur. Bei diesen Geschichten über Ritter, Drachen und Maiden in Not ist James immer ausgeflippt.«

»Diese alten Geschichten haben ihm Angst gemacht?«

»Ihm hat alles Angst gemacht«, sagte Darl. »Er war hoffnungslos beeinflussbar. Und Chartrand hat das geschickt ausgenutzt. Die meisten dieser Geschichten bestehen doch aus Versatzstücken und ... entspringen der lebhaften Fantasie meines kleinen Bruders.«

Kelly hielt sich mit ihrem Urteil zurück. Sie war sich nie sicher, ob James’ Erinnerungen stimmten oder nicht. Aber, um ehrlich zu sein, war ihr die theoretische Seite des Ganzen ziemlich egal. Hauptsache, Leon hatte ihren Mann geheilt.

Für James und Kelly schien die Sonne wieder. Angel erholte sich so weit, dass sie wieder halbwegs in die Realität zurückfand. Vermutlich würde sie nie mehr ganz die Alte sein, aber zumindest brauchte Kelly keine Angst mehr zu haben, dass Angel vor Trauer umkam. Paul verarbeitete den Tod seines Sohnes auf seine Weise: Er schottete sich ab, verbrachte Stunden allein mit seinen Tonbändern und Aufnahmegeräten.

Dann war es an Darl zu leiden. Diane, die offenbar nicht mit ihren Mutterpflichten fertig wurde, zog zu Maggie nach New York, die sie als eine Art Schwiegermutter betrachtete. Kelly und Angel ärgerten sich darüber. Für die eigenen Kinder war Maggie nie verfügbar, Diane dagegen hieß sie mit offenen Armen willkommen. Darl allerdings war optimistisch. Er betrachtete Dianes Fahrt nach New York als sicheres Zeichen dafür, dass ihre Affäre vorbei war. Er fand nie heraus, wer der Mann gewesen war, aber er war so erleichtert, dass es ihm egal war. Trotz der zusätzlichen Arbeit, die er dadurch hatte, fand Dianes »Urlaub« seinen Beifall.

Dann rief Maggie an. »Du bewegst besser deinen Arsch hierher«, erklärte sie Darl. »Deine Frau betrügt dich mit einem anderen Mann.« Es war der Wrestler. Diane hatte ihn in der Nähe von Maggies Wohnung in einer Bar kennen gelernt. Eigentlich war er ein Freund Maggies, aber als Diane die ganze Nacht mit ihm wegblieb, siegte Maggies Treue zu Darl.

»Du nimmst dir besser eine Zeitlang frei, kommst her und klärst die Geschichte«, befahl Maggie.

»Ich kann nicht, Mags«, sagte Darl. »Ich bin mitten im Examen. Versuch doch bitte, sie zur Vernunft zu bringen, ja?«

In den Weihnachtsferien flog er nach New York, und James und Kelly kümmerten sich um Alex. Mit vielen Fotos von Alex im Gepäck, flog Darl voller Zuversicht davon. Doch im Januar kehrte er niedergeschlagen heim. Seine Ehe sei am Ende, gab er bekannt. Diane wollte ihn nicht, und Alex wollte sie auch nicht. Sie zog mit dem Wrestler zusammen, dem »Hooded Slicer«, oder wie immer er hieß, und hatte nichts dagegen, falls Darl die Scheidung einreichen wollte.

Darl schien daran zu Grunde zu gehen. Zunächst empfand er den Status als Alleinerziehender unheimlich hart. Er vernachlässigte sein Studium und verließ die Uni schließlich ganz. Kelly fühlte sehr mit ihm, aber James war Darl gegenüber kühl, bisweilen fast kalt.

»Was du brauchst, ist ein Job«, erklärte James seinem Bruder. »Raus aus dem Haus mit dir. In der Riverside Clinic wird gerade jemand gesucht. Geh hin und bewirb dich!«

Kelly wünschte, James und Darl kämen besser miteinander aus. Sie verstand ihre Einstellung zueinander nicht.

»Männer!«, bemerkte Angel. »Knallharte Burschen. Paul ist auch so.« Darauf konnte Kelly nur seufzen. Darl erhielt den Job in der Klinik, Telefonanrufe entgegenzunehmen, und es schien ihm gut zu tun. Allmählich besserte sich sein Gemütszustand wieder, und die beiden Brüder schlössen eine Art Waffenstillstand. Sie nahmen ihre regelmäßigen Angeltouren mit Sam und Paul wieder auf. Manchmal gingen sie zu dritt tanzen. Aber häufiger blieben sie zu Hause. Darl und James saßen dann stundenlang übers Schachbrett gebeugt, während Kelly mit Alex spielte. Sie war zufrieden. Sie hatte ihre beiden Männer zurück. Drei, wenn sie Alex dazurechnete.

Ein ganzes Jahr war Kelly glücklich.

Und dann wurde plötzlich alles in einer entsetzlichen Nacht zerstört.

An dem Tag, an dem James, Darl und Sam zum Angeln gehen wollten, verließ James in den frühen Morgenstunden das Haus, Kelly schlief noch, und tat das Unfassbare.

Während Adam wie üblich betrunken auf seiner Wohnzimmercouch lag, schlich James sich in den Bungalow, besprengte die Möbel mit Benzin und zündete ein Streichholz an. Das Feuer breitete sich rasch aus. Die Polster fingen Feuer, dann die Decken und schließlich Adams Hemd. Als der Feueralarm ausgelöst wurde, stand Adam bereits in Flammen. Der Nachbar berichtete, Eleanor sei hilfeschreiend und mit brennendem Nachthemd aus dem Haus gerannt. Sie hatte den schweren Adam nicht von der Couch heben können.

James verließ das brennende Haus, fuhr zu seinem Bruder, holte ihn verabredungsgemäß ab und fuhr dann weiter, um Paul und Sam abzuholen. Die vier Freunde fuhren Richtung Osten nach Ontario, und James schwieg die ganze Zeit über.

Als sie einen Campingplatz gefunden hatten, überließ James Paul und Sam den Zeltaufbau und die Feuerholzsuche. Er nahm Darl beiseite und gestand ihm alles. Dann stieg er durch den Wald immer höher hinauf, bis er an der obersten Stufe eines hohen, schmalen Wasserfalls stand, weit oberhalb der Stromschnellen.

Kelly konnte ihn sich dort vorstellen, konnte gar nicht aufhören, ihn sich dort vorzustellen. Die drei Männer, die – jeweils von einem anderen Standort – Zeuge davon geworden waren, hatten es ihr geschildert. Ihre Versionen deckten sich. James hatte wie ein verwundetes Tier gebrüllt. Ein letzter Schrei der Wut und Verzweiflung. Seine erschreckten Gefährten hatten sich umgewandt und aufgeblickt. Zu spät. James war bereits gesprungen. Alles, was sie – blitzartig – sahen, war eine herabstürzende Gestalt.

Alle kamen überein, dass er tot sein müsse. »Jeder Knochen in seinem Leib muss gebrochen gewesen sein«, sagte Sam. »Zertrümmert von den Felsen am Fuße des Wasserfalls«, meinte Paul. »In die Seen hinausgespült«, sagte Darl.

Kelly wusste nur, dass James fort war. Trotz ihrer Liebe zu ihm, der so genannten heilenden Kraft ihrer Liebe, war er dagestanden und hatte seine Scham siegen lassen, hatte sich einfach aufgegeben. Und wurde niemals gefunden. Vater und Sohn in der Hölle vereint.

Nur, dass Adam überlebte.

Adam hinkte nun, und sein wiederhergestellter Kiefer würde für immer durch ein gelbliches, transplantiertes Hautstück verunstaltet sein. Aber er würde niemals zugeben, dass James dafür verantwortlich war. Bei der gerichtlichen Untersuchung weigerte er sich, seinen Sohn damit in Verbindung zu bringen. Das Feuer sei ein Unfall gewesen. James sei an irgendeiner natürlichen Ursache gestorben. Oder James sei nur verschwunden, nicht tot. »Seitdem James verschwunden ist«, sagte er, als hätte James sich nur verlaufen und würde wieder zurückkommen.

In ihren schwächsten Momenten glaubte Kelly das auch.

Die Masken des Todes

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