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Schließlich zwang Kelly sich dazu aufzustehen. Dabei wäre sie eigentlich am liebsten zusammengerollt auf dem Bett liegen geblieben, aber sie wusste, das war gefährlich. Zu leicht konnte sie wie ihre Schwester Angel werden, das blasse Gespenst einer Frau, die in der Vergangenheit lebte.

Sie stellte sich vor den großen Spiegel ihres Schlafzimmers und begutachtete ihr Kostüm. Heute Abend war sie eine Meerjungfrau in einem langen, fließenden Gewand aus dunkelgrünem Samt, das reich mit Schuppen aus smaragdgrünen Ziermünzen geschmückt war. Von ihren Schultern fielen duftige Streifen aus Seide und Chiffon. In ihre langen, dunklen Locken schmiegte sich ein perlenbesetzter Kamm. Sie rückte die Perlenketten um ihren Hals zurecht. Sie trug übertrieben viel Schmuck, und die Perlen waren aus Plastik, aber an diesem Abend legte Kelly auch keinen Wert auf echten Glamour. Sie wusste, dass die Theaterleute für wahren Glamour sorgen würden, und sie würde sich nicht wohl fühlen, wenn sie sie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen versuchte. Immer fühlte sie sich unter Lilas Freunden, allesamt schon älter und kultivierter, leicht nervös. Nett waren sie ohne Zweifel, erinnerte sie sich, aber sie gehörten einer anderen Welt an. Das ist eine Frage der Gesellschaftsschicht, hatte James immer gesagt. Ihr Hintergrund hatte sie nicht auf das gesellschaftliche Leben vorbereitet, das ihre Karriere manchmal mit sich brachte. Heute Abend fühlte sie sich nervöser als üblich. Es war die erste große Party, auf die sie seit James’ Tod ging.

Nun, zumindest war es ein Kostümfest. Sie würde sich hinter ihrer Verkleidung verstecken können. Sie nahm die Maske und hielt sie vor ihr Gesicht. Die unglückliche Miene der Meerjungfrau hatte etwas Beklemmendes. Kelly erinnerte sich an die Geschichte der kleinen Meerjungfrau, die sie als Kind gelesen hatte. Wie passend, dachte sie sarkastisch. Die kleine Meerjungfrau hatte sich auch nicht einfügen können. Hatte nicht ohne Schmerzen gehen oder sprechen oder mit dem Mann zusammen sein können, den sie liebte.

Kelly senkte die Maske und betrachtete ihr Gesicht. Weiße Haut, selten der Sonne ausgesetzt. Blassblaue Augen. Eine gefurchte Stirn. Sie fuhr sich mit den Fingern über die Lippen und dachte dabei an ihren Mann. Wie er sie immer berührt hatte.

Die Türglocke schreckte sie auf. Sie lächelte noch mal probehalber ihr Spiegelbild an und ging dann, um Darl aufzumachen.

»Wow!«, sagte er, nachdem er sie von oben bis unten betrachtet hatte. »Du siehst umwerfend aus!« Langsam hob er die Hand und strich ihr zärtlich das Haar aus dem Gesicht.

»Du auch«, sagte Kelly. Sie drehte sich weg, um ihren Mantel aus dem Schrank zu nehmen, und verbiss sich dabei ein Grinsen. Trotz Darls schaurigem Vampircape und den Fangzähnen wirkte er wenig Furcht einflößend. Sein freundliches Gesicht machte die Wirkung völlig zunichte.

Auf der Party überließ Kelly Darl ihren Mantel und begab sich auf die Suche nach den Gastgebern. Schließlich entdeckte sie Sam in der Galerieküche, Lila aber nicht.

»Tolles Outfit!« Lächelnd küsste Sam Kelly auf die Wange.

»Danke! Wo ist deines?« Sam hatte einfach nur Hose und Pulli an. »Oder bist du bloß ein Künstler?«

»Sehr witzig«, erwiderte Sam. »Ich wollte eigentlich als Pirat erscheinen, aber zum Verkleiden bin ich nicht mehr gekommen. Sieh dir das an!« Er deutete auf die Hintertür, und Kelly sah mit Entsetzen, dass diese vollständig mit Brettern vernagelt war. »Letzte Nacht ist hier jemand eingestiegen. Als ich heute Morgen reinkam, entdeckte ich, dass die Tür aufgebrochen worden war.«

»Ist was gestohlen worden?«

»Keine Ahnung. Kann ich noch nicht sagen. Im Lagerraum herrscht heilloses Chaos. Ich bin auf der Suche nach Freiwilligen, die mir morgen dabei helfen, ihn wieder in Ordnung zu bringen. Den Bestand durchzugehen. Na, wie wär’s?«

»Klar, Sam. Und euch geht’s gut?«

»Ja. Na ja, wütend sind wir halt. Die Nachbarschaft hier ...«

»Ich weiß«, sagte sie. Die Galerie lag mitten in der Innenstadt, wo die Kriminalität stetig zunahm.

»Wie auch immer«, meinte Sam. »Ich musste Lila versprechen, dass ich mir erst ab morgen darüber Sorgen mache. Den Abend hat sie schon seit Monaten vorbereitet. Schnapp dir also einen Drink und amüsier dich. Wie hieß er doch gleich – Joe – ist auch schon da und sucht nach dir.«

»Joe Delany?«

»Genau der. Du triffst dich gar nicht mehr mit ihm?«

»Nicht sehr oft.« Eigentlich wollte sie Joe gar nicht mehr sehen, aber darüber ließ sie sich nicht aus. Sie goss sich einen Drink ein und ging in die Galerie zurück. Da war Joe, ließ den Blick über die Menge schweifen und sah jedes Mal zur Tür, wenn sie aufging. Kelly schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Nicht, dass Joe nicht ein lieber Kerl und ein begabter Künstler gewesen wäre. Er war nur zu versessen darauf, einen Platz in Kellys Leben einzunehmen. Stellte zu viele Fragen über Kellys Kindheit, über ihre Ehe, ihre Zukunftspläne. Er gehörte zu jenen Männern, die einem etwas zu sehr auf die Pelle rücken. Sie drehte ihm den Rücken zu und betrachtete die Menschen um sich herum.

Alle waren elegant und extravagant gekleidet, und viele trugen Masken. Vermutlich kannte Kelly mehrere von ihnen, auch wenn sie kaum jemanden erkannte. Ob Taylor Grant da war? Etwas an dem ausgesprochen hoch gewachsenen Mann mit der Teufelsmaske und dem roten Cape kam ihr vertraut vor. Sie beobachtete ihn, wie er mit einer sehr überzeugenden Marilyn Monroe tanzte. Trotz seiner Größe bewegte er sich anmutig, wirbelte seine kleine Partnerin mit Leichtigkeit herum, bückte sich, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, sie zum Lachen zu bringen. Die beiden waren offensichtlich sehr vertraut miteinander, und Kelly wandte sich ab, gerade als Sam in der Tür erschien.

»Meine Damen und Herren!«, rief er dramatisch. »Wir haben Besuch!« Er deutete vielsagend auf das Studio hinter sich.

Fünf goldberingte Finger mit langen, roten Nägeln schoben sich langsam durch den Perlenvorhang. Lila erschien in einem langen, geblümten Kleid, einem schwarzen Schal und knallrot geschminkten Lippen. Sie trug riesige Goldohrringe, und an ihren Handgelenken klimperten Goldarmreife, als sie sich die Hände rieb.

»Wer kommt in mein Zelt und lässt sich die Zukunft vorhersagen? Wer traut sich?«, gackerte sie mit hoher Stimme.

»Dieses Zigeunerweib«, verkündete Sam, »hat an unsere Tür geklopft und gebettelt. Ich habe ihr gesagt, sie muss sich ihr Essen verdienen. Und da hat sie zu unserem Amüsement ihre schwarzen Künste angeboten.«

Lila winkte Kelly zu. »Komm, du mein Kind des Meeres!«

»O nein!«, lachte Kelly. »Bin ich das erste Opfer?«

Lila lächelte geheimnisvoll. Sie nahm Kelly am Ellbogen und führte sie durch den Perlenvorhang in Sams dunkles Studio. Zunächst konnte Kelly nur schemenhafte Formen und undeutliche Schatten erkennen. Als sich ihre Augen umgewöhnt hatten, sah sie, dass über die Staffeleien und die Töpferdrehscheibe weiße Laken gehängt worden waren. In der Raummitte war Platz für zwei Stühle und einen Tisch gemacht worden, auf dem eine schwere Brokatdecke lag. Darauf standen flackernde Kerzen, eine Kristallkugel und ein Sparschwein.

»Äußerst schaurig«, sagte sie. »Wo hast du die Kristallkugel her?«

»Ein Familienerbstück.«

Kelly schaute genauer hin und entdeckte, dass es sich um ein mit Silberkonfetti gefülltes Goldfischglas handelte. Mit gerunzelter Stirn konsultierte Lila die Kugel. Sie umfasste sie mit beiden Händen und tat so, als erblicke sie etwas.

»Ah«, sagte sie. »Ich sehe einen Mann in dein Leben treten.«

»Das fehlte gerade noch!«

»Du zweifelst an der Macht der Liebe?« Lila wackelte mit den Augenbrauen und brachte Kelly damit zum Lachen.

»Nein, tu ich nicht«, erwiderte Kelly. »Bloß bin ich mir bei dem Mann nicht so sicher.«

»Ach, ihr jungen Mädels heutzutage! Ihr verhöhnt die Kräfte des Universums. Veränderungen stehen bevor, denen du nicht widerstehen kannst. Sie sind stärker, als du glaubst. Gib mir deine Hand. Nein, nein. Deine rechte Hand!«

»Aber ich bin Linkshänderin!«

»Dummes Ding! Das macht keinen Unterschied. Gib mir deine rechte Hand.«

»Aber man soll doch die Linke nehmen! Das habe ich in einem Buch über Handlesekunst gelesen.«

»Still, Kind. Du mischst dich da in Dinge ein, von denen du keine Ahnung hast. Ich muss mich jetzt konzentrieren. Diese Linie hier, die ist sonderbar. Das ist die Lebenslinie, und diese andere folgt ihr wie ein Schatten. Was das wohl zu bedeuten hat? Führst du ein Doppelleben? Zittere nicht, meine Kleine. Es gibt nichts, wovor du dich fürchten musst. Sie könnte auf einen Lebensgefährten hinweisen, einen Seelengefährten, der in dein Leben tritt. Siehst du, wie diese beiden Linien hier am Handgelenk zusammenlaufen? Ich hab dir gesagt, du wirst jemanden kennen lernen!«

»Ich habe Joe Delany gerade wieder gesehen«, meinte Kelly trocken. »Hoffentlich ist nicht er damit gemeint.«

»Was? Nein. Vielleicht ist es jemand, den du schon lange kennst, und der trotzdem ...« Nun blickte Lila wirklich verdutzt drein.

»Was ist denn? Lila? Komm, hör auf damit!«

Doch Lila war es ernst. »Jemand, den du kennst und doch nicht kennst«, sagte sie.

»Oh, na toll.«

»Ja. Zwei Seelen, die einander nicht erkennen können. Aber, siehst du, hier? Da findet ihr endlich zueinander.« Lila lächelte.

Kelly blickte auf ihre Hand. »Die Linien vereinen sich«, sagte sie. »Aber schau – da trennen sie sich wieder. Was bedeutet das?«

»Das ist mysteriös«, gab Lila zu. Eine Minute musterte sie die Linien genau, schwieg aber. Dann wurde ihr Gesicht rot vor Verlegenheit.

Kelly erkannte mit Schrecken, dass Lila an James gedacht hatte. Natürlich. Lila verfluchte sich dafür, dass sie mit der dummen Geschichte angefangen hatte, die auf so lächerliche und schmerzvolle Weise wahr war. Nicht die Zukunft hatte sie gelesen. Nein, die Vergangenheit.

Nach einem langen Augenblick blickte Lila auf und sah Kelly an. In ihrem Blick lag eine Entschuldigung, aber James erwähnte sie nicht.

Kelly versuchte zu lächeln. »Ich hab doch gesagt, wir hätten die linke Hand nehmen sollen.«

»Vielleicht hast du Recht«, flüsterte Lila. Aber sie durchbohrte Kelly mit ihrem Blick, als würde sie vermuten, dass Kelly etwas vor ihr verbarg. »Kelly? Ich meine das wirklich. Von wegen Verhöhnung des Universums. Es sind Kräfte am Werk, die du nicht verstehst!«

Als Kelly zu einer langsamen, romantischen Melodie mit Darl tanzte, bemühte sie sich, die Gedanken an die Prophezeiungen ihrer Freundin zu verscheuchen. Lila nahm die eigene Schauspielerei ein bisschen zu ernst, es ging ja richtig mit ihr durch. Dennoch waren einige ihrer Äußerungen beunruhigend. Eine Linie, die ihrer eigenen Lebenslinie wie ein Schatten folgte? Das war seltsam, vor allem, weil Kelly in letzter Zeit die Gegenwart einer anderen Person förmlich spüren konnte. Manchmal hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. In ihrem geistesabwesenden Zustand hatte sie so viele Dinge verlegt, dass sie allmählich argwöhnte, irgendeine unsichtbare Hand würde sie aus dem Haus entfernen. James’ Hand? Hatte sie früher am Abend wirklich James’ Namen am Telefon gehört? Unmöglich.

Sie legte den Kopf auf Darls Schulter. Schon klar, was er sagen würde. Das sei abergläubischer Unsinn. So etwas wie Geister gebe es nicht. Ihre Fantasie gehe mal wieder mit ihr durch.

Der vernünftige Darl. Sie drückte seine Hand, und er reagierte mit einem warmen Lächeln. In letzter Zeit war er stolz auf sie, und er war erleichtert, dass sie mit ihrem Leben wieder klar kam. Er durfte ja nicht wissen, dass nicht alles in bester Ordnung war.

Obwohl es auf der Party auch um Mitternacht immer noch hoch herging, war Kelly müde. Sie wollte nach Hause, aber Darl bestand darauf, vorher noch beim Buffet vorbeizuschauen.

»Hast du denn morgen keine Frühschicht?«, fragte sie.

»Du musst was essen«, erwiderte er. »Ich mach dir einen Teller zurecht!«

Jahrelange Erfahrung hatte sie gelehrt, dass man gegen einen Darl, der einen füttern wollte, nicht ankam. Während sie auf ihn wartete, beobachtete sie, wie die Tänzer sich zum »Tennessee Waltz« bewegten. Der Teufel tanzte noch immer mit Marilyn Monroe, die sich eng an ihn drückte. Kelly bewunderte die Einzelheiten ihres Kostüms, den Schönheitsfleck, das berühmte ärmellose weiße Kleid und die weißen Pumps.

»Marilyn lebt!«, bemerkte Sam, als er und Darl mit viel zu vollen Tellern wiederkehrten.

»Na ja, klar!«, witzelte Darl. »Es ist Halloween. Die Nacht, in der die Toten auf die Erde zurückkehren.«

Unvermittelt verspürte Kelly wieder diesen Schmerz und hätte beinahe den Teller, den er ihr gerade reichte, fallen lassen. Darl, der ihre Weingläser nachfüllte, schien es nicht zu bemerken. Kelly war dankbar. Sie hielt sich kurz die Hände vors Gesicht und versuchte sich zu fangen. Die Nacht, in der die Toten auf die Erde zurückkehren. Der Satz hallte in ihrem Kopf wider, übertönte das Stimmengeplauder. Auf die Erde zurückkehren. Zurückkehren.

Nein.

Sie durfte sich nicht gehen lassen. Sie musste sich aufsetzen, gesellig sein. Normal.

Als sie den Kopf hob, schaute sie dem Teufel direkt ins Gesicht, und er ihr scheinbar auch. Einen Augenblick lang hörte die Musik auf, und er stand da, die langen Arme verschränkt, den Kopf zur Seite geneigt, als würde er sie neugierig betrachten. Doch die Maske verbarg seinen Gesichtsausdruck, und als das nächste Lied einsetzte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Tanzpartnerin zu.

Kelly zupfte Darl am Ärmel. »Lass uns gehen!«

Er drehte sich zu ihr um. »Hast du was gegessen?«

»Ja«, log sie und schob den Teller außer Sichtweite.

Die Innenstadt Winnipegs war wie ausgestorben. Kalt und verlassen. Durch den Windkanal gläserner Bürogebäude flogen Papierfetzen. Ein Zug ratterte in den Bahnhof am Fluss. Als sie über den Fluss in ihren Stadtteil, St. Boniface, fuhren, blickte Kelly aus dem Fenster. Jenseits des schwarzen Flusses leuchtete das lange, gelbe Kreuz des Krankenhauses gegen den Nachthimmel. Dahinter konnte sie die riesige, runde Öffnung im Steinturm der Kathedrale sehen, wo ein Brand vor vielen Jahren einen leeren Steinring zurückgelassen hatte, der wie ein dunkler Mond über St. Boniface hing.

Sie fuhren am Krankenhaus vorbei, und wie immer blickte Kelly unwillkürlich zu den Fenstern des Ostflügels hoch. Zur psychiatrischen Abteilung. Sie erschauerte.

Darl ergriff ihre Hand. »Lass es«, sagte er sanft. »Lass es!«

Die Masken des Todes

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