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ОглавлениеKelly war gerade von einem Stoffausverkauf zurück und verstaute ihre Einkäufe, als das Telefon klingelte.
»Hallo?« Noch immer ging sie ungern ans Telefon, obgleich sie sich einzureden versucht hatte, dass der Anruf am Halloweenstag bloß ein unheimliches Versehen gewesen war. Ein Streich ihrer Fantasie.
»James Grayton«, sagte die Stimme.
»Was? Wer ist dran?«
Ein leises Klicken war zu hören, und dann die Worte: »Arbeite am Verdorbenen.«
»Wer sind Sie?«
Ein weiteres leises Klicken, dann wieder dieses weiße Rauschen.
»Wer sind Sie?«, bettelte sie. »Wer?«
Aber sie wusste, dass es die Stimme ihres Mannes war. Die Worte ihres Mannes.
Die Verbindung wurde unterbrochen, und sie lauschte dem fernen Rauschen.
Sie legte auf und fragte sich, ob sie träumte. Nein. Da waren ihre Pakete von dem Ausverkauf, da ihr Mantel, den sie über den Stuhl gelegt hatte, auf den Schultern noch eine leichte Schneeschicht, die zu schmelzen begann.
»Arbeite am Verdorbenen«. Den Satz kannte sie. Es war ein Hexagramm aus dem I Ging, dem chinesischen Buch der Wandlungen, das James allmorgendlich befragt hatte. Sandte er ihr eine Nachricht?
Sie eilte ins Schlafzimmer und zog das Buch und die kleine Blechdose heraus, in der James die drei chinesischen Münzen aufbewahrt hatte, die er warf, um in die Zukunft zu blicken. Hektisch blätterte sie die Inhaltsangabe durch. Arbeite am Verdorbenen. Das chinesische Symbol war ein Gu, das Bild des Verfalls, eine Schüssel, in der Würmer wuchsen. Der Text handelte von Schuld und Vernachlässigung ...
O Gott!
Sie schloss die Augen. Würmer. Verfall. Sie war den Tränen nahe. Sprach er von seinem unbekannten Grab aus mit ihr? Lange Zeit saß sie schmerzverkrümmt auf ihrer Bettkante. James hatte daran geglaubt, dass die Kraft des I Ging sein Leben leiten, ihm bei Entscheidungen helfen könne. Vielleicht sollte sie selbst einmal die Münzen werfen, gleich jetzt. Mal sehen, ob sie ihr nicht irgendwelche Antworten anbieten konnten, irgendeine Einsicht.
Sie machte die Blechdose auf und verspürte einen dumpfen, fast schon erwarteten Schock, als sie sah, dass sie leer war.
Die Münzen waren fort.
Mindestens fünf oder sechs der Holztierchen fehlten. James’ silbernes Zigarettenetui war verschwunden. Ein paar seiner kleineren Zeichnungen waren nicht auffindbar. Und, was das Schlimmste war, seine Taschenuhr, die, die sie ihm geschenkt hatte, lag nicht mehr in ihrer Schmuckschatulle.
Die verschwundenen Gegenstände waren nicht irgendwelche. Jeder stand auf eine besondere Weise in Beziehung zu ihrem Leben mit James. Jeder Einzelne hatte Erinnerungen wachgerufen, wenn sie sich im Haus bewegte. Nun war sie scheinbar nicht nur dazu verurteilt, ihn zu verlieren, sondern auch alle Andenken an ihn.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. So vieles war verschwunden.
So, wie seine Leiche verschwunden war. Obgleich Darl den Suchtrupp an die Stelle geführt hatte, wo sie James ins Wasser tauchen hatten sehen, fanden sie nichts. Keinen Schuh, keinen Stofffetzen seiner Kleidung. Lediglich eine Kratzspur, wo er nahe der Klippenspitze auf dem Weg abwärts den Ton geschrammt hatte. Das Wasser, die Stromschnellen hatten ihn fortgespült, hatten die Erde von ihm reingewaschen.
Der Wasserfall. Als sie an diesem Abend einschlief, erschien er als Ort gewaltiger Kraft. Als eine der Türen in die andere Welt. Die Welt der Dunkelheit, wo züngelnde Schatten brennen.
»Ich fahre heute nach Minneapolis«, sagte Lila, die am nächsten Morgen anrief. »Hast du den Vertrag schon unterschrieben?«
»Ich hab mich noch nicht mal mit Taylor Grant getroffen«, gestand Kelly.
»Habt ihr denn nicht auf der Halloweenparty miteinander gesprochen?«
»Bin ihm nicht begegnet. War er da?«
»Ja! Mit seinem ganzen Gefolge«, lachte Lila. »Entschuldige. Ich schätze, ich war zu sehr mit meiner schwarzen Magie beschäftigt, um euch miteinander bekannt zu machen. Aber hat er dich denn nicht angerufen?«
»Ich hab nicht mit ihm gesprochen«, wich Kelly aus. Vor zwei Tagen hatte Taylor auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen, doch sie hatte noch nicht zurückgerufen. Kaum kam ihre Karriere wieder in Gang, ging es auch schon wieder dahin mit ihr. Den Großteil des gestrigen Tages hatte sie damit verbracht, ins Leere zu starren und die Vergangenheit zu durchleben. Und wofür? Was Lila dazu sagen würde, wusste sie: Du musst die Vergangenheit hinter dir lassen. Als ob das möglich wäre.
»Warum gehst du nicht am Dienstag mit mir ins Theater? So um eins? Da bring ich ihm ein paar vorläufige Entwürfe.«
»Mal schauen.« Kelly blätterte durch ihren Terminkalender, als wüsste sie nicht genau, dass er auf Wochen hinaus leer war.
»Nein. Du musst, Kell! Sobald sein jetziges Stück hier abgesetzt wird, geht er nach Minneapolis. Das ist unsere letzte Chance!«
Letzte Chance, dachte Kelly. Sie sollte sie ergreifen. »Am Dienstag um eins«, stimmte sie zu. »Bis dann!«
Sie legte auf, ging ans Fenster und zog die Vorhänge auf. Es war ein frischer Novembermorgen, ein strahlendblauer Manitobahimmel, klar und kalt. In der Nacht war Schnee gefallen und hatte alles bedeckt. Er blendete so sehr, dass sie zusammenzuckte.
Es ist an der Zeit, zu einer Entscheidung zu kommen, predigte Kelly sich selbst. Du kannst dein restliches Leben im Haus herumlungern und einen Geist einladen, bei dir zu spuken. Oder du kannst darüber hinwegkommen. Du kannst eine neue Seite in deinem Leben aufschlagen, wie Darl es nennen würde, und den nächsten Schritt machen. Dazu wäre Hamlet geradezu ideal. Denk an die Kontakte, die daraus entstehen können.
Sie beobachtete, wie plötzlich Wind aufkam und durch die jungen Pappeln rauschte, die James und sie entlang des Bürgersteigs gepflanzt hatten. James hatte sich täglich um die Bäume gekümmert, sie gegossen, an Pfähle gebunden, ja, sogar gesprochen hatte er mit ihnen.
Sie konnte ihn förmlich dort sehen. Nein, sie konnte ihn dort sehen, in seinem geflickten Jeanshemd, seinem Lieblingskleidungsstück, konnte sehen, wie ihm die wirren, gelbbraunen Locken in das geliebte Gesicht wehten. Der Wind blies sein Hemd auf, und sie erhaschte einen Blick auf seine braune Brust und den flachen Bauch.
Seltsamerweise hatte sie keine Angst. Zunächst zumindest. James’ Erscheinen kam ihr völlig normal vor. So, als wäre er nur zurückgekehrt, um seine Arbeiten zu beenden. Er ging ums Haus herum, um die Bäume zu begutachten, und würde dann jeden Moment wiederkommen und ins Haus treten.
Dann traf sie die Wahrheit wie ein Hammerschlag. Sie zwinkerte.
Sie wusste, dass es nicht wirklich James war. Sie wusste, es war gar niemand. Niemand würde da draußen sein, niemand konnte in dem eiskalten Wind da draußen sein, bekleidet mit nichts weiter als einem dünnen Baumwollhemd, noch dazu offen. Sie schloss die Augen und rieb sie sich mit den Fäusten. Schlug sie wieder auf. Nichts als Schnee, der über den Vorgarten blies und die jungen Bäume umbog.
Sie setzte sich neben das Telefon und suchte aus ihrem Adressbuch Leons Nummer heraus. Um ihn anzurufen, war es noch zu früh.
Leon hatte Kelly das Leben gerettet, als sie kurz davor war, in dem Abgrund, der sich nach James’ Tod auftat, zu verschwinden. Doch das gestand sie sich lange nicht ein. Zuerst hatte sie ihn beschimpft, verflucht, dass er so hartnäckig darauf bestand, James sei für immer fort. Dass sie nichts dagegen machen könne.
Am 21. Juni, dem Tag des Gedenkgottesdienstes, der ein Jahr nach James Tod abgehalten wurde, hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen. Kelly war außer sich, dass Adam und Eleanor daran teilzunehmen wagten. Sie weigerte sich, mit ihnen zu sprechen oder auch nur ihre Blicke zu erwidern, obgleich sie zu Adam hinüberschielte, als ihre Köpfe zum Gebet gesenkt waren. Als sie sah, dass seine Verbrennungen nicht richtig verheilt waren, verspürte sie eine perverse Genugtuung. Mit der durch eine leuchtend rote Narbe entstellten Oberlippe war er hässlicher denn je.
Nach dem Gottesdienst wartete sie, bis Darl zu seinem Auto ging, dann stürmte sie zornig auf Adam zu und warf ihm an den Kopf, James umgebracht zu haben. Sie nannte ihn einen Mörder, einen Vergewaltiger und ein Ungeheuer. »Und du«, zischte sie Eleanor an, die vor Schreck keinen Ton rausbrachte, »du bist auch dafür verantwortlich. Warum hast du die ganze Zeit geschlafen? Geschlafen? Während dein kleiner Sohn ...« Leon packte sie von hinten, zog sie von dem erschreckten, ältlichen Paar fort, von den schockierten Trauergästen und schleppte sie zum Parkplatz.
Sie hatte in Leons Armen getobt. »Können wir denn nichts tun?«, weinte sie. »James ist tot, und Adam läuft frei herum. Frei!«
»Kelly, wir können gar nichts tun. Damit müssen wir uns abfinden.«
»Könnten wir ihn denn nicht wegen Kindesmissbrauch anzeigen? Sie haben den Beweis doch in Ihren Akten!«
»Die beweisen gar nichts, und außerdem sind sie vertraulich.«
»Aber es muss doch Gerechtigkeit geben! Könnte ich ihn nicht verklagen? Wegen widerrechtlicher Tötung?«
»Kelly, aus rechtlicher Sicht ist Adam nicht für seinen Tod verantwortlich. Das wissen Sie!«
»Doch, doch, das ist er«, beharrte sie und redete weiter auf Leon ein, bis er sie über den Parkplatz zu Darl gelotst hatte, der sie ganz ohne Fragen heimbrachte und sie hielt, während sie sich in den Schlaf weinte.
Bei der Erinnerung daran holte sie tief Luft. Am Tag nach dem Gedenkgottesdienst war sie aufgewacht und hatte sich besser gefühlt. Vielleicht lag das daran, dass sie ihrem Zorn Luft gemacht hatte, vielleicht kam es auch daher, dass durch die Predigt des Priesters eine Art Schlussstrich gezogen worden war. Wie dem auch war, sie hatte den Tod ihres Mannes zu akzeptieren begonnen. Sie hatte wieder Interesse an ihrem Leben und ihren Freunden. Sie kämpfte gegen den Schmerz an, weigerte sich aufzugeben, stürzte sich in die Arbeit.
Doch nun, so schien es, ging es wieder bergab.
Es war neun Uhr. Leon würde in seinem Büro sein. Als sie sich vom Fenster abwandte, glaubte sie, etwas Blassblaues vor dem weißen Schnee gesehen zu haben. Doch sie schaute nicht noch mal hin. Sie würde sich dieser Vision nicht hingeben. Das war ihr Unterbewusstsein, hatte Leon erklärt, das ihre eigenen Sehnsüchte auf die Wände und Decken ihres eigenen Hauses projizierte, ihren eigenen Garten. Einen Augenblick lang dachte sie an Jerry Pryne, Ph.D., und seine Spukhaustheorien. Liebe, Warnung, Rache. Dann hob sie den Hörer ab und wählte.
Leon Chartrand telefonierte mit seiner Großmutter, als Mrs Krentz, die gestrenge Vorzimmerdame, ihn auf einer anderen Leitung anklingelte.
»Sie haben eine Kelly Quirk auf der anderen Leitung«, teilte sie ihm mit. »Soll ich ihr sagen, dass Sie gerade ein Privatgespräch führen?«
Woher wusste diese alte Schrulle, dass es sich um ein Privatgespräch handelte? Wahrscheinlich lauscht sie wieder, dachte er.
»Bitten Sie Kelly, einen Augenblick zu warten, ja?«, sagte er liebenswürdig und wandte sich dann wieder an seine Großmutter: »In ein paar Tagen komm ich dich besuchen. Bitte denk dran, deine Medizin zu nehmen. Ja, bald. Dreimal am Tag!« Er lauschte eine Minute, seufzte und wiederholte dann laut: »Dreimal täglich!« Wieder lauschte er und begann dann auf Cree zu sprechen, das sie besser verstand als Englisch. Zum Teufel mit Mrs Krentz! Das ging sie doch einen feuchten Kehricht an. Er war der Arzt.
Als er sich sicher war, dass seine Großmutter seine Anweisungen verstanden hatte, übernahm er, wenn auch etwas beklommen, die zweite Leitung.
»Kelly!«, sagte er herzlich. Hoffentlich kam sie nicht wieder mit dem Thema »Klage« an.
»Leon? Hi! Wie geht es Ihnen?«
»Gut, gut. Und Ihnen? Hab ja eine Weile nichts von Ihnen gehört, ist alles in Ordnung?«
»Ja. Nun, nein. Ich meine ... meinen Sie, wir könnten mal miteinander reden?«
»Was geht Ihnen denn im Kopf rum?«
»James.«
»Ah.«
»Ja. Ich dachte, wir könnten uns ein bisschen unterhalten.«
»Gut, gut. Warum machen wir dann nicht einen Termin aus?«
»Bald?«
»Wann immer Sie mich brauchen«, meinte er leichthin.
»Ich brauche Sie«, erwiderte sie schlicht und direkt.
Leon spürte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Er wusste, die Warteliste seiner Patienten war lang. »Gut.« Er hustete und schlug in seinem Kalender nach. Am Dienstagvormittag hatte er eine Etatbesprechung, um die er sich zur Not drücken konnte. »Warum kommen Sie nicht am Dienstagvormittag? Um elf? Da hätte ich Zeit.«
»Ja, mach ich«, sagte Kelly.
Nachdem er aufgelegt hatte, rief sich Leon das Bild von Kelly Quirk ins Gedächtnis. Das blasse, besorgte Gesicht, langes, rabenschwarzes Haar. Die innigst liebende – und attraktivste – Frau eines Patienten, der er je begegnet war. James Grayton. Er spürte, wie ihm der Kopf zu schmerzen begann, als er sich an ihn erinnerte.
Am Dienstagmorgen fühlte Kelly sich besser. Sie legte sich den Mantel locker um die Schultern und rannte hinaus, um nach Post zu gucken, wobei sie hastig einen Blick auf ihre Uhr warf. Vor ihren Terminen hatte sie gerade noch genug Zeit für ein schnelles Frühstück. Heute würde sie sich nicht verspäten, sagte sie sich. Sie wäre organisiert, vernünftig. Würde alles mit Leon besprechen, dann zum Theater fahren und bei Taylor Eindruck schinden. Lila hatte Recht. Das war ihre letzte Chance.
Sie legte die Post auf den Tisch, goss sich eine Tasse Kaffee ein und ging die Briefe durch. Rechnungen, Werbung, ein neuer Wälzer aus dem Buchclub. Und ein kleines Päckchen, in schlichtes weißes Papier gehüllt. Irgendeine Gratisprobe?
Sie riss das Papier auf und entdeckte eine hölzerne Streichholzschachtel. Sie war gebraucht und roch noch leicht nach Schwefel.
Sie öffnete sie.
Drinnen lag der Drache. James’ geschnitzter Drache, der, den Alex verloren hatte. Da lag er in der Schachtel, umgeben von Seidenpapier, vollkommen unversehrt. Darunter, zwischen dem zerknüllten Papier, entdeckte sie den weißen Springer vom Schachspiel, der schon so lang abging, dass sie sich gar nicht mehr erinnern konnte, wann sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Sie leerte die Schachtel. Keine Karte, keine Nachricht. Auf dem Päckchen waren weder Briefmarken noch ein Poststempel.
Sie hielt den Drachen in der einen Hand, den Springer in der anderen. Als würde ihr jemand mit dem Fingernagel über die Haut streichen, überlief sie ein kalter Schauer.